Spinozas Liberalismus für Unvernünftige

Der Staat soll nur den Rahmen vorgeben, damit die Bürger ihrem Privatinteresse nachgehen können, so eine beliebte liberale Doktrin. Doch was sie übersieht: Damit der liberale Staat handlungsfähig bleibt, bedarf es einer politisch geplanten Eigentumsverfassung.

In politisch umkämpften Zeiten muss man nicht lange suchen, um auf jemanden zu treffen, der in einen Festsaal schmettert, es sei von höchster Dringlichkeit, an den Bürger zu appellieren. Freilich: an den Bürger als „Cityoen“ – nicht an den „Bourgeois“. Nun sind zwar beide ihrer Namensherkunft nach Franzosen, doch erinnert der „Citoyen“ das Publikum an einen republikanischen Abgeordneten der Konstituante, so denkt es beim „Bourgeois“ eher an jene liberalen Rentiers, die es auch ganz gut unter der Krone eines Ludwig XVIII. ausgehalten haben. Politik und Gemeinschaft, so der Aufruf, müssen endlich wieder vor das Private treten. Aber wie ist das eigentlich anzustellen?

Das Begriffspaar Gemeinwohl und Eigeninteresse gehört von jeher zum Grundvokabular der praktisch-politischen Philosophie. Doch die Kontroversität, die wir heute damit verbinden, ist jüngeren Datums. Sie entfaltet sich erst seit der Abtrennung und des ungeheuren Wachstums einer Wirtschaftssphäre, für die die eine Seite weitgehende Unabhängigkeit von politischer Einmischung verlangt, während die andere Seite gerade darin die Verschleierung einer fortgesetzten Unterdrückung sieht, der nur mit radikalen Eingriffen beizukommen ist. Was Gemeinwohl ist und wie es sich zu dem ebenso umstrittenen Eigeninteresse verhält, ist deswegen heute allgegenwärtiger Teil des politisch-polemischen Streits. So deutlich, dass man sich fragen kann, ob dessen Beharrlichkeit nicht auf eine versteckte gemeinsame Verbindung hinweist.

Der niederländisch-portugisisch-jüdische Philosoph Baruch de Spinoza schreibt geschichtlich noch vor dieser Kontroverse. Seine ebenso originelle wie systematische Philosophie, die in seinem posthum veröffentlichten Hauptwerk, der Ethica, ordine geometrico demonstrata, entfaltet wird, versetzte ihn allerdings in die Lage, über eine Vermittlung von liberalem Eigeninteresse und republikanischem Gemeinwohl nachzudenken, die Plausibilität gerade aus ihrem Realismus gewinnt. Man könnte das politisch-philosophische Projekt, das in der Ethica und in den beiden politischen Traktaten steckt, einen „liberalen Republikanismus“ nennen, oder – polemischer, aber keineswegs unzutreffend – einen Liberalismus für Unvernünftige. Was hat es damit auf sich?

Oliver Weber

Oliver arbeitet an der TU Darmstadt an einem Dissertationsprojekt zur Ideengeschichte des frühliberalen Eigentumsbegriffs – und den Aporien, die ihm die aufklärerische Geschichtsphilosophie aufgelastet hat.  Er hat Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Regensburg und Mannheim studiert und veröffentlicht regelmäßig Essays und Artikel in diversen Feuilletons und Zeitschriften, wie der FAZ, der ZEIT, der SZ oder dem Merkur. 2019 hat er ein Buch über die demokratische Problematik politischer Talkshows bei Klett-Cotta veröffentlicht.

Die Nützlichkeit vernünftiger Menschen

In einem schon an Adam Smith errinnernden Satz der Ethica heißt es: „Wenn jeder Mensch am meisten seinen eigenen Nutzen sucht, dann sind die Menschen einander am meisten nützlich“. Diesen Satz muss man in Einzelschritte zerlegen: Nützlich ist mir das, was sichere Quelle meiner Lust ist. Sichere Quelle ist mir, was keinen großen Schwankungen, Hemmungen oder Unsicherheiten ausgesetzt ist. Es geht Spinoza also nicht darum, als Philosoph einen moralischen Maßstab zu deduzieren, den man dann den affektgetriebenen Menschen vorsetzen muss. Im Gegenteil: Maßtstab ist ihr natürliches Streben nach Selbsterhaltung, nach Lust, ihre Begierden. Die Ethica hat bloß die Aufgabe aufzuzeigen, inwiefern das leidenschaftliche Lust-Verständnis der Menschen ihrer Erfüllung im Wege steht. Etwa, wenn wir uns von äußeren Dingen abhängig machen, die gar nicht in unserer Macht stehen. Oder, noch komplizierter, wenn wir nicht nur äußere Güter begehren, sondern zugleich von anderen dafür bewundert werden wollen, d.h. wollen, dass sie dasselbe lieben wie wir, es aber nicht haben sollen, weil wir es haben. „Indem alle von allen gelobt oder geliebt werden wollen, geraten alle in gegenseitigem Haß“.

»Arbeitsteilung erlaubt es uns, trotz aller Verschiedenheit in Können und Begehren, Güter zur Verfügung zu haben, die wir alleine nicht beschaffen könnten.«

Nutzen- und luststeigernd wäre es dagegen, unsere Begierde anders auszuleben. Sie so zu kannalisieren, das sie zu einer sicheren Lustquelle wird. Das heißt aber auch: Mit unseren Mitmenschen so umgehen, dass wir nicht notwenigerweise in gegenseitigen Hass und Neid geraten – sie vielmehr als Mittel zur Steigerung unseres eigenen Könnens gebrauchen, indem wir auch ihr Können steigern. Das intensivste Streben nach dem eigenen Nutzen ist deswegen vorzüglich mit dem Nutzen aller anderen Menschen verknüpft: Weil sie, als ebenso vernünftig ihren Nutzen Suchende, mit unserem eigenen vernünftigen Streben übereinstimmen.

Spinoza greift zur Veranschaulichung auf ein ethisch gewendetes Verständnis von Arbeitsteilung zurück: „Die Gesellschaft ist überaus nützlich (…). Denn wollten die Menschen sich nicht gegenseitig Hilfe leisten, so würde es ihnen an Geschick und Zeit fehlen, sich nach Möglichkeit zu erhalten und zu ernähren. Denn nicht jeder ist in gleicher Weise zu allem befähigt, und der einzelne wäre nicht imstande, sich das zu beschaffen, was er am notwendigsten braucht. Kraft und Zeit, meine ich, würden dem einzelnen fehlen, wenn er allein ackern, säen, ernten, mahlen, kochen, weben, nähen und noch viele andere zum Leben notwendige Arbeiten verrichten müßte, ganz zu schweigen von den Künsten und Wissenschaften“. Arbeitsteilung erlaubt es uns, trotz aller Verschiedenheit in Können und Begehren, Güter zur Verfügung zu haben, die wir alleine nicht beschaffen könnten. Für Spinoza steht der Kommerz deshalb nicht von Vornherein unter Verdacht eines eng gesetzten tugendethischen Ideals, sondern drückt das Sein-Können der Menschen im Verhältnis zueinander aus.

Die Deflation der Macht

Doch der Mensch ist leider nicht immer vernünftig. Im Gegenteil: „alles Erhabene ist ebenso schwer wie selten“. Spinoza, der im Kontext der damals wohl fortschgeschrittesten Handels- und Finanzökonomie in Amsterdam aufwächst (er leitete kurzzeitig sogar das Handelsunternehmen seines verstorbenen Vaters), kennt dafür vielerlei Anschauungsmaterial, das unmittelbar der Wirtschaft entnommen ist. Bedingung einer arbeitsteiligen Ökonomie, in der die Menschen wechselseitig in ihr Können investieren können, weil es letztlich auch ihr eigenes steigert, ist das Geld: Es hat „einen bündigen Ausdruck für alle Dinge gebracht; und daher ist es gekommen, daß das Vorstellungsbild des Geldes die Seele der großen Menge am meisten einzunehmen pflegt, weil die Leute sich kaum eine Art der Freude vorstellen können, die nicht von der Idee von Geldstücken als der Ursache begleitet wäre“. Das Geld, gerade weil es Repräsentation der gegenseitigen Nützlichkeit der Menschen ist, begleitet potentiell jede Befriedigung des eigenen Begehrens. Es ist immer mit-gedacht, weil es mit-beteiligt ist.

Diese ständige Mitbeteiligung des Geldes bei jeder möglichen Erfüllung des eigenen Begehrens ist unproblematisch, solange es bei einer Mitbeteiligung bleibt. Ganz anders allerdings diejenigen, die „dem Geld nachgehen (…), weil sie die Kunstgriffe des Geldgewinnens kennen, worauf sie gar stolz sind“. Hier verkehren sich Mittel und Zweck: Diejenigen, die die „Kunst des Geldgewinnens“ beherrschen, unterhalten ihren Körper bloß „aus Gewohnheit“ und „doch kärglich“, „weil sie von ihren Gütern zu verlieren meinen, was sie zur Erhaltung ihres Körpers aufwenden“. Das Geld, das den arbeitsteiligen und produktiven Tausch der Güter zur Steigerung der jeweiligen Begierden in Gang setzen sollte, stockt bei jenen, die es selbst als das Primäre behandeln. Sie begehren schließlich so wenig Güter wie möglich zu kaufen, um qua Senkung der Ausgaben den Gewinn zu vermehren.

Die Aporie der ‚Kunst des Geldgewinnens‘ besteht darin, dass sie dadurch, wie sie erstrebt, eben das, was sie erstrebt, verhindert. Wer sie beherrscht, will das Ausmaß seines Geldbesitzes erweitern, um potentiell die Möglichkeiten der Befriedigung unendlicher Bedürfnisse zu akkumulieren. Um dies zu erreichen, verringert er die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse und damit den Erwerb von Gütern auf ein „kärgliches“ Maß. Eben dadurch können aber auch alle anderen ihre Bedürfnisse immer weniger befriedigen – die Nachfrage nach den von ihnen produzierten Gütern verringert sich – und sie erfahren folglich eine Einschränkung ihrer Möglichkeiten, an der arbeitsteiligen Steigerung des Systems „gegenseitig[er] Hilfe“ teilzunehmen. Damit steht dem akkumulierten Reichtum des Geldsüchtigen eine immer beschränktere Möglichkeit der Erzeugung dieser Güter aufseiten seiner Mitmenschen gegenüber. Sein Reichtum, den er steigern wollte, entzieht Möglichkeiten aus dem Kreislauf der gegenseitigen Investition – und verliert dadurch selbst an Wert.

»Gerade ihre Unabhängigkeit und ihr kommerzieller Erfolg kann Bürger dazu verführen, zu glauben, sie könnten ihre Freiheit vermehren, ohne Rücksicht auf die Bedingungen dieser Freiheit zu nehmen.«

Spinoza denkt hier schon früh so etwas wie eine Deflationskrise – als ein ethisches und utilitäres Problem. Die Kritik an der ‚Kunst des Geldgewinnens‘ zielt nicht – gerade nicht! – darauf, ein Zuviel des Eigennutzens zu beklagen, sondern darauf, auf auf ein Zuwenig von privatem Lustkalkül hinzuweisen. Es ist ein verkürztes Verständnis von privatem Nutzen, das schließlich in dessen Minderung führt. Man kann diese Passagen der Ethica deshalb, wie Beth Lord, auch als Ratschlag an jene wohlhabenden und ehrbaren holländischen Bürger der Zeit Spinozas lesen, die als selbstständig, frei und tugendhaft gelten. Gerade ihre Unabhängigkeit und ihr kommerzieller Erfolg kann sie dazu verführen, zu glauben, sie könnten ihre Freiheit vermehren, ohne Rücksicht auf die Bedingungen dieser Freiheit zu nehmen. Im Fall der Ökonomie und des Geldes: Die Aufrechterhaltung einer wechselseitigen Investition und Reinvestion in die Möglichkeiten ihrer Mitmenschen.

Spinoza geht also von einem Prinzip aus, das zunächst radikal egoistisch aussieht – die Steigerung des eigenen Nutzen als Bestimmung der Tugend -, doch weil er genau sieht, dass die Vernunft Bedingung dieser Steigerung ist, auch im Verhältnis zueinander, kann er eine radikal altruistisch aussehende Position gewinnen. Oder besser gesagt: Diese alltägliche Unterscheidung verliert hier ihren Sinn.

Die in der Ethica unbeantwortet bleibende politische Frage ist bloß: Wenn es „selten“ ist „daß die Menschen nach der Leitung der Vernunft leben, (…) daß sie meistens neidisch und einander lästig sind“, selbst dort, wo sie voneinader ökonomisch profitieren könnten – wie ist dann Gesellschaft überhaupt möglich? Oder noch deutlicher gefragt: Wie kann es ein vernünftiges Zusammenleben von Unvernünftigen geben?

Ein vernünftiger Staat für Unvernünftige

„Ein Affekt kann nur gehemmt oder aufgehoben werden durch einen Affekt, der entgegengesetzt und der stärker ist“. Um die Wankelmütigkeit, die Unvernunft und schließlich die affektive Entgegensetzung der Menschen in einen sicheren Zustand zu übersetzen, so schlussfolgert der Tractatus politicus, muss also ein größerer Affekt die konfliktiven Affekte der Einzelnen überragen. „Auf dieses Gesetz also kann die Gesellschaft gegründet werden, wenn sie sich selbst das Recht vorbehält, (…) eine gemeinschaftliche Lebensweise vorzuschreiben, Gesetze zu geben und sie nicht durch Vernunft (…), sondern durch Drohungen zu befestigen“. Ein Staat muss geschaffen werden, der die Funktion übernimmt, Gutes und Schlechtes festzulegen und das Festgelegte mit Zwang zu bewähren. Man könnte sagen: Der Philosoph bedenkt auch noch seinen Abstand zum (bis auf Weiteres) Nichtphilosophen mit. Der Staat erweist sich so als zweitbeste Lösung für alle, solange die meisten den Weg des vernünftigen Selbsterhaltungsstrebens, den die Ethica schildert, nicht einschlagen können.

Die Vernunft fordert den Staat, weil sie mit ihrer Nichterfüllung rechnet. So zeigt es der Argumentationsgang der Ethica. Aber dass sie ihn fordert, ist nicht Ursache des Staates. Diese Differenz ist entscheidend. Wäre es andersherum, ergäbe sich eine Reihe von Aporien, die nicht mehr auflösbar sind: Wäre die Vernunft, die einen staatlichen Zustand einfordert, um mit bis auf Weiteres unvernünftigen Menschen leben zu können, gleichzeitig der Grund, wieso diese Unvernünftigen sich einem Staat einordnen, wäre die Aufgabe von Anfang an erledigt und die Einrichtung eines Staates sinnlos. Sind genügend Menschen vernünftig genug, die Gründe einzusehen, sich in einen Staat zu begeben, fällt die Aufgabe dieses States fort: Seine Funktion, ein vernünftiges Leben unter Unvernünftigen zu ermöglichen, wäre hinfällig.

Gleich im ersten Kapitel legt sich der Tractatus politicus deswegen ein Utopieverbot auf. Nicht, weil vernünftige Gründe gegen eine Utopie sprechen würden, sondern weil eine Politische Philosophie gerade die Unvernunft zu ihrem Ausgangspunkt nehmen muss. Weil mancherlei Philosophen darüber aber in schönsten Tönen hinweggehen, ist das populäre Vorurteil erwachsen, dass niemand „weniger geeignet [sei], einen Staat zu regieren, als Theoretiker oder Philosophen“. Spinoza will diese Fehler vermeiden und setzt deshalb ganz anders an: Zweifelsfreier Ausgangspunkt der Politischen Philosophie ist nicht das Gesollte, das Vernünftige oder Erstrebenswerte, sondern die Feststellung – mit explizitem Verweis auf die Ethica –, dass die „Menschen (…) notwendigerweise Affekten unterworfen“ sind.

Entscheidend für Spinozas Politische Philosophie ist also eine Gratwanderung: Sie muss einen Staat denken, der einem vernünftigen Zweck dient, ohne aber selbst auf die Vernunft seiner Bürger hoffen zu dürfen, weil er ja nur aufgrund ihrer Unvernunft ins Leben gerufen wurde. Dass so ein Staat entstehen kann, ist nicht das Hauptproblem – im typisch konfliktiven Verhalten zueinander kann keiner seine Lust steigern oder seinen Nutzen finden, dieser Umstand treibt die Menge zusammen und lässt sie eine Einheit bilden. Das heißt aber umgekehrt auch: Jeder Staat bleibt an die Macht der Menge, aus der er hervorgegangen ist, gebunden. Ihre Aufrechterhaltung ist die Grenze seines eigenen Rechts. Will er bestehen bleiben, müssen die Bürger also weiterhin den konstanten Willen verspüren, gehorsam zu sein und die Regierung die konstante Verpflichtung, dem Nutzen ihrer Untertanen zu dienen, um diesen Gehorsam weiterhin entgegengebracht zu bekommen.

Eine politische Eigentumsordnung – zum privaten Besten

Privatinteresse und Gemeinwohl werden hier einander also nicht schroff entgegengesetzt, als müsste man ersteres zum Wohle des letzteren aufgeben oder letzteres zum Wohle des ersteren fallen lassen. Spinoza konstruiert das ‚Gemeinwohl‘ von Vornherein so, dass es sich nur aus der richtigen, d.h. macht- und formwahrenden Kanalisierung der Privatinteressen der Regierten und Regierenden ergeben kann. Hat der Staat also die Aufgabe, seine Macht zu erhalten, so muss er jene Wahrnahme des Privatnutzens verhindern, die die Bürger in ökonomische Konflikte geraten lässt. Das Problem der Deflation der Macht, die ‚Kunst des Geldgewinnens‘ etwa, muss von ihm aus Selbsterhaltungsgründen behoben werden. Solange die Regierung also auf den Nutzen ihrer Bürger sieht, kannalisiert sie deren Affekte so, dass sie selbst an der Macht bleiben kann – der Staat kann fortbestehen.

Doch hier kommt ein zweiter, nun republikanisch konnotierter Schritt hinzu. Den Nutzen der Bürger fördern, indem er ihre unvernünftige Begierden einschränkt, kann der Staat nur, wenn die Bürger diese Einschränkung ihres Privatnutzens nicht sofort wieder beseitigen wollen. Ihre Situation muss so beschaffen sein, dass sie das Kalkül des Staates, auch wo er sie scheinbar einschränkt, tatsächlich aber ermächtigt, einsehen können. Aus diesem Grund schlägt Spinoza für verschiedene Regimetypen auch verschiedene institutionelle Mechanismen und Eigentumsordnungen vor, die imstande sind, diese Bedingung zu erfüllen. In der Aristokratie etwa befindet sich das Problem auf der Ebene der Plebejer, die, ausgeschlossen von allen Regierungsgeschäften, wie Fremde im Staat leben. Würde man ihnen den Boden also bloß verpachten, bestünde die Gefahr, dass sie im Kriegsfall fliehen und ihren mobilen Besitz mitnehmen. Man muss sie also an den Staat binden, an den sie sonst kaum gebunden sind – man schenkt ihnen Grund und Boden, Acker und Häuer. Der Staat darf also nicht darauf beschränkt werden, einen Rahmen für das freie Nutzenstreben seiner Bürger bereitzustellen – er muss ihr Nutzenstreben auch so ordnen, dass sie an ihren Staat gebunden bleiben.

»Das Ausgehen vom eigenen Nutzen ist kein Widerspruch zu einem republikanischen Verständnis des Regierens und die Verpflichtung auf das Staatlich-Gemeinsame kein Widerspruch zum eigenen Nutzen. Richtig betrachtet, ergänzen beide einander vorzüglich.«

Hier offenbart sich das interessante Prinzip dieses ‚liberalen Republikanismus‘ Spinozas: In dem Maße, in dem die Bürger unvernünftig sind, also leidenschaftlich ihren Begierden und Nutzenkalkülen nachstreben, müssen sie auch einen Staat akzeptieren, der diese ‚Freiheit‘ im Sinne des Gemeinsamen ordnet. Aber nicht nur zur Ordnung des privaten Strebens hat der Staat ein Recht: damit dieser Staat das kann, muss das private und ökonomische Leben der Bürger so eingerichtet werden, dass sie die Einschränkungen, die der Staat zu ihren Gunsten verordnet, verstehen und befolgen können. Ein bloß liberaler Staat, der eingreift, um den privaten Nutzen zu mehren, übersieht, dass er, um eingreifen zu können, auf die Unterstützung der einzuschränkenden Untertanen angewiesen ist. Die Bürger müssen also imstande sein, sich, neben der Perspektive ihres leidenschaftlichen Eigennutzes (zum Zwecke dieses Eigennutzes), insgesamt als Gemeinwesen zu adressieren. Und dem Gemeinwesen muss deshalb gestattet sein, die Bedingungen dieser Adressierung (z.B. über eine bestimmte politisch strukturierte Eigentumsverfassung) anzustreben auch wenn sie scheinbar zulasten des leidenschaftlichen Eigennutzens gehen. Das Ausgehen vom eigenen Nutzen ist kein Widerspruch zu einem republikanischen Verständnis des Regierens und die Verpflichtung auf das Staatlich-Gemeinsame kein Widerspruch zum eigenen Nutzen. Richtig betrachtet, ergänzen beide einander vorzüglich.

Staat und Bürger stehen in einem doppelten Bedingungsverhältnis: Die unvernünftigen Bürger sind zu ihrem Wohl auf einen Staat angewiesen, der Staat, um sich erhalten zu können, auf die Unterstützung seiner Bürger. Der Staat muss sich folglich dem Nutzen seiner Bürger widmen und, damit er das kann, die Bürger ihren Nutzen so wahrnehmen, dass sie die Sinnhaftigkeit des Staates noch einsehen können. Mit Spinoza ließe sich also eine Vermittlung von republikanischer und liberaler Betrachtungsweise finden, die erstaunlich modern wirkt.

Doch wenn dem so ist, stellt sich unweigerlich die Frage, wieso die republikanische Emphase politischer Selbstregierung und die liberale Verteidigung des Ökonomisch-Privaten seit dem 19. Jahrhundert und im Grunde bis heute als Gegensatz ausgetragen wird. Ökonomische und politische Freiheit sind mancherorts und zu mancher Zeit aufs Bitterste auseinandergetreten und nur manchmal und auch nur hier und dort ist ihre Aporie einigermaßen gelöst worden. Doch, obschon sich diese Frage unmittelbar anschließt, kann sie nicht mehr mithilfe der Auslegung philosophischer Argumentationen beantwortet werden. Stellte man sie, müsste man Licht in die selbsttäuschende Unvernunft der politischen Auseinandersetzungen seit dem 19. Jahrhundert bringen. Dies bleibt notwendigerweise einer anderen Art von Untersuchung überlassen.

Dieser Text beruht auf der Arbeit »Die Deflation der Macht«, die als Masterarbeit an der Universität Regensburg eingereicht wurde.