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Eine neue Finanzpolitik für eine neue Zeit: Reformvorschläge für die deutsche Fiskalpolitik

Die aktuellen Schuldenregeln stammen aus einer anderen Zeit, mit anderen Herausforderungen. Die Welt von heute sieht anders aus: Wir befinden uns mitten in einer tiefgreifenden Transformation – wirtschaftlich, demografisch und politisch. Diese Welt braucht eine neue Definition von zukunftsfähiger Finanzpolitik.

Zukunft ist der zentrale Begriff des Bundestagswahlkampfes 2021 gewesen. Alle Parteien traten mit dem Anspruch an, die Zukunft zu gestalten. Und die Herausforderungen bleiben enorm: Deutschland, Europa und die Welt stehen vor der Aufgabe, ihre Volkswirtschaften zu dekarbonisieren, ja ganze Wirtschaftsstrukturen, die über Jahrhunderte entstanden sind, grundlegend zu transformieren. Hinzukommt die Bewältigung des demografischen Wandels, der immer mehr Rentenempfänger*innen immer weniger Beitragszahlenden gegenüberstellt. In Europa sehen wir uns ferner mit strukturellen Handelsungleichgewichten konfrontiert, die die wirtschaftliche Konvergenz und die Stabilität der Währungsunion fordern.

Es braucht einen aktiven Staat, um diese Herausforderungen zu meistern. Einige Autor*innen haben diesen Punkt bereits betont und eine Neujustierung des Verhältnisses von Markt und Staat gefordert. So sehen zum Beispiel Claus Leggewie und Gustav Horn eine Renaissance des modernen Staates herannahen, der die Transformation aktiv gestaltet und wirtschaftliche Stabilisierung schafft. Die Handlungsfähigkeit des Staates wiederum erfordert unweigerlich die Zukunftsfähigkeit der Staatsfinanzen. Wieder einmal geht es um den Begriff der Zukunft. Doch was verstehen wir unter einer zukunftsfähigen Finanzpolitik?

Der Status Quo macht die Zukunftsfähigkeit des Bundeshaushalts in erster Linie an der Schuldenquote fest, also dem Verhältnis von öffentlicher Verschuldung zum Bruttoinlandsprodukt (BIP). Die „magische“ Zahl liegt bei 60 Prozent. Deren Unterschreitung sichere Handlungsfähigkeit und bewahre zukünftige Generationen vor Altlasten. Doch wie Jan Priewe zeigt, hat die 60-Prozent-Marke keine theoretische Begründung. Sie bildet schlicht den Durchschnitt in der Europäischen Gemeinschaft zu Beginn der Neunzigerjahre ab, als die Maastricht-Verträge geschlossen wurden.

Die zentrale Kennzahl der Finanzpolitik entbehrt also nicht einer gewissen Willkür – die jedoch nicht verwerflich wäre, solang die volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen gleichblieben. Aber die Rahmenbedingungen haben sich geändert, und zwar sowohl auf der Ausgaben- als auch auf der Einnahmenseite des Staatshaushalts. Die Rendite zehnjähriger Bundesanleihen erreichte 1990 neun Prozent, das BIP-Wachstum lag bei fünf Prozent und sowohl Inflation als auch der Anteil der Zinszahlungen am Haushalt nahmen zu. Heute liegt die Renditen bei –0,2 Prozent, Wachstum und Inflation haben sich mehr als halbiert und die Zinskosten als Anteil des Haushalts gehen seit 1999 stetig zurück.

Die Herausforderungen haben sich geändert

Die Probleme des Bundeshaushalts bestehen heute nicht in der Zinslast, sondern an anderer Stelle: Knapp ein Drittel der Staatsausgaben sind Zuschüsse zur Rentenkasse. Und die Zahl derjenigen, die von Transferleistungen des Staates abhängig sind, ist hoch. Aktuell kommen rund 36 Rentner*innen auf 100 Arbeitnehmer*innen, ihre Zahl steigt bis 2040 auf 52. Nimmt man alle staatlichen Transfers zusammen, so finanzieren 100 Arbeitnehmer*innen bereits heute 62 Transferabhängige. Unter diesen befinden sich auch solche, die im Niedriglohnsektor (der immerhin gut ein Fünftel aller Beschäftigten umfasst) arbeiten und ihre Einkommen aufstocken müssen. Doch das sind bei Weitem nicht alle Baustellen. Der digitale und ökologische Umbau der Wirtschaft braucht jede verfügbare Arbeitskraft: in Handwerk, Bauwirtschaft, Energieerzeugung und Industrie. Deutschland leidet dagegen seit Jahren unter Fachkräftemangel.

Florian Schuster

Florian ist PhD-Kandidat an der Universität Köln und Policy Fellow am Dezernat Zukunft – Institut für Makrofinanzen.

»Die staatliche Finanzpolitik ist zukunftsfähig, wenn sie zur Vollauslastung von Arbeitsmarkt und Wirtschaft beiträgt.«

Eine neue Zeit mit neuen Herausforderungen erfordert ein neues Maß der Zukunftsfähigkeit. Unser Reformvorschlag, den wir in unserer Studie Eine neue deutsche Finanzpolitik unterbreiten, definiert dieses Maß: Die staatliche Finanzpolitik ist zukunftsfähig, wenn sie zur Vollauslastung von Arbeitsmarkt und Wirtschaft beiträgt. Dieses Ziel ist erreicht, wenn sich alle, die können und wollen, durch ihre eigene Arbeit im gewünschten Umfang das Leben und die Rente finanzieren können. Ein vollausgelasteter Arbeitsmarkt ist der Schlüssel zur Bewältigung der oben angesprochenen Herausforderungen. Er begrenzt die nötigen Zuschüsse zur Rentenversicherung und die Sozialleistungen aus dem Bundeshaushalt. Außerdem mobilisiert er die Arbeitskräfte, die für die Transformation gebraucht werden, und schafft ein nachhaltiges Wachstum von Wirtschaftsleistung und Steuereinnahmen. Damit werden Ausgaben und Einnahmen des Staates zukunftsfähig.

Die heutigen Fiskalregeln haben ausgedient

Kritiker würden argumentieren, dass das Ziel der Vollauslastung bereits in der deutschen Fiskalpolitik integriert ist. Die Schuldenbremse schreibt schließlich kein starres Defizitlimit vor, sondern erlaubt über eine Notfallklausel und die Konjunkturkomponente bereits eine konjunkturstabilisierende Fiskalpolitik. Die Konjunkturkomponente erlaubt zusätzliche Verschuldung, wenn die aktuelle Wirtschaftsleistung unter dem Durchschnitt der Vergangenheit bleibt. Doch Konjunkturstabilisierung und Vollauslastung sind bei genauerem Hinsehen zwei unterschiedliche Zielsetzungen: Während erstere die Wirtschaft auf den trendmäßigen Pfad der Vergangenheit zu führen versucht, zielt letztere darauf ab, das Potenzial der Wirtschaft auszureizen. Nur im Ausnahmefall, falls sich die Wirtschaft bereits historisch auf dem bestmöglichen Wachstumspfad befindet, fallen Konjunkturstabilisierung und Vollauslastung zusammen. 

Es gibt jedoch zahlreiche Gründe, warum dieser Fall die Ausnahme darstellt: So können Wirtschaften durch vergangene Abschwünge auf niedrigere Wachstumspfade gelangen, zum Beispiel aufgrund von Hysterese, d.h. dauerhaften Arbeitsmarkt- und ausbleibenden Investitionseffekten. Gedämpfte Erwartungen für die Zukunft und eine chronische Nachfrageschwäche führen dazu, dass auch in Nicht-Krisenzeiten Investitionen ausbleiben. Aufgrund dieser und anderer Mechanismen gibt es keinen Automatismus, der Wirtschaften zur Auslastung ihrer angebotsseitig gegebenen Kapazitäten bringt. Im Gegenteil: Wie man an der US-amerikanischen Entwicklung der letzten Jahre sehen konnte, hat eine hohe Nachfrage nach Arbeitskräften zu einer Ausweitung des Arbeitsangebots geführt. Das bedeutet nicht, dass das Potenzial einer Wirtschaft allein durch die Nachfrage bestimmt wird. Auch angebotsseitige Aspekte zählen. Zum Beispiel: Ohne Kitaplätze, die es Müttern ermöglichen, der Nachfrage nach ihrer Arbeitskraft nachzukommen, hat auch zusätzliche Nachfrage keinen Effekt. 

»Nimmt man das Ziel der Vollauslastung ernst, bedeutet es eine Abkehr von der Zielsetzung, keine dauerhaften Defizite einzugehen.«

Nimmt man das Ziel der Vollauslastung jedoch ernst, bedeutet es eine Abkehr von der Zielsetzung, keine dauerhaften Defizite einzugehen. Denn unter der Schuldenbremse können Konjunkturpolitik und die Vermeidung dauerhafter Defizite nur vereint werden, indem man annimmt, dass der vergangene Trend das Potenzial der Wirtschaft darstellt. Die aktuelle Methodik, nach der dieses Produktionspotenzial geschätzt wird, impliziert jedoch abstruse Arbeitsmarktstrukturen. Das Potenzial sei bereits erreicht, laut der aktuellen Methodik, wenn nur 75 Prozent der Frauen am Arbeitsmarkt partizipieren, aber ganze 84 Prozent der Männer. Außerdem akzeptiert die derzeitige Potenzialschätzungsmethode, dass fast sechs Millionen Menschen in Deutschland in Teilzeit arbeiten, obwohl sie in Vollzeit tätig sein wollen oder es sein könnten, wenn es entsprechende Jobs gäbe oder die Infrastrukturen für Kinderbetreuung oder Pflege ausgebaut würden. Zuletzt impliziert die aktuelle Potenzialschätzung, dass ca. eine Million Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit verbleiben, um den Lohndruck im Arbeitsmarkt nicht zu erhöhen. Die derzeit geübte Praxis der Konjunkturstabilisierung ist folglich weit von der Vollauslastung des Arbeitsmarkts entfernt.

Und nicht nur das, sie hat auch unplausible finanzpolitische Konsequenzen. Wäre die Politik heute zum Beispiel sehr erfolgreich darin, das Kinderbetreuungsangebot auszubauen und so die Erwerbsbeteiligung von Frauen zu erhöhen, käme die fiskalpolitische Quittung postwendend. Die Wirtschaft würde ihr – auf Basis vergangener Trends berechnetes – Potenzial überschreiten und es müsste gespart werden, um einen Anstieg der Inflation abzuwenden. Dabei besteht diese Gefahr nicht, weil die Investitionen gleichzeitig das Arbeitskräfteangebot erhöht haben, was den Lohn- und somit Inflationsdruck reduziert.

Reformvorschläge

Die genannten Zahlen, Kuriositäten und Probleme ergeben sich aus der Methodik des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts, nach der die Konjunkturkomponente der Schuldenbremse heute berechnet wird. Obgleich letztere Eingang ins Grundgesetz gefunden hat und somit nur mit Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat reformiert werden kann, ist die Bestimmung der Konjunkturkomponente einfachgesetzlich geregelt. Daher ist eine Anpassung der Konjunkturkomponente ohne Grundgesetzänderung möglich. Um von Trendstabilisierung zu Vollauslastung zu kommen, würde es zum Beispiel ausreichen, lediglich die Inputs der Berechnung weiterzuentwickeln. Auf diese Weise nähert sich die Schätzung dem Produktionspotenzial im Wortsinn an, ohne ausschließlich die Vergangenheit fortzuschreiben.

Wir schlagen drei konkrete Modifikationen auf der quantitativen und qualitativen Ebene vor: Das Potenzial des Arbeitsmarkts gilt als erreicht, wenn (1) es nur noch kurzfristige, friktionelle oder saisonale Arbeitslosigkeit gibt, (2) der Unterschied in den Partizipationsraten von Frauen und Männern am Arbeitsmarkt auf das skandinavische Niveau von ca. drei Prozentpunkten sinkt, und (3) die nicht-notwendige oder unfreiwillige Teilzeit in Deutschland halbiert wird.

Diese Anpassungen resultieren in einer Konjunkturkomponente von 20 bis 24 Mrd. Euro für 2023. Sie bietet damit einen substanziell größeren fiskalischen Spielraum als die aktuell von der Bundesregierung prognostizierte Komponente von 4,5 Mrd. Euro. Dabei ist die Erhöhung der Konjunkturkomponente kein Selbstzweck, sondern der erste Schritt in Richtung einer zukunftsfähigen Fiskalpolitik, die die Forschungsergebnisse der letzten Jahre reflektiert und auf die heutigen Herausforderungen, nicht die der Neunzigerjahre, eingeht. Die zusätzlichen finanziellen Mittel können in einen Ausbau der Infrastrukturen und des Bildungssystems, die Qualifizierung von Fachkräften, die Schaffung zukunftsfester Jobs und höhere Löhne investiert werden. Diese und viele weitere Aspekte sind bestimmende Faktoren für die erfolgreiche Bewältigung der Herausforderungen unserer Zeit.

Es gilt zu betonen, dass die Abkehr vom Ziel der Vermeidung dauerhafter Defizite keineswegs bedeutet, vom eigentlichen Ziel der Schuldenbremse abzurücken. Ihre Intention ist es nämlich, den staatlichen Schuldenstand zu begrenzen und so die langfristige Tragfähigkeit der staatlichen Finanzen zu sichern. Eine Neuausrichtung der deutschen Finanzpolitik am Ziel der Vollauslastung hat genau diesen Effekt: Indem der Arbeitsmarkt vollausgelastet wird, stabilisieren sich Einnahmen und Ausgaben des Haushalts und das BIP-Wachstum wird angeregt.

»Indem der Arbeitsmarkt vollausgelastet wird, stabilisieren sich Einnahmen und Ausgaben des Haushalts und das BIP-Wachstum wird angeregt.«

Gleichwohl plädieren wir gegen die Schuldenquote als zentrale finanzpolitische Kennzahl. Denn Fiskalpolitik sollte stets die Risiken der Verschuldung im Blick haben, im Besonderen das Risiko steigender Zinsen. Sie können im Ernstfall die Finanzierungsbedingungen des Staates verschlechtern und so die Handlungsfähigkeit des aktiven Staates beschneiden. Die Schuldenquote erfasst solche Zinsrisiken jedoch erst mit großer Verzögerung, denn sie fokussiert die angehäuften Schulden der Vergangenheit. Angesichts der langen durchschnittlichen Laufzeit deutscher Bundesanleihen von sieben Jahren, schlagen Zinsänderungen erst viel zu spät zu Buche.

Ein sensiblerer, schneller anschlagender Indikator ist der Anteil der Zinszahlungen am Haushalt, die sogenannte Zins-Haushalt-Quote. Wir schlagen vor, dass die Bundesregierung gegenüber dem Bundestag ihre Einschätzung zu fiskalpolitischen Risiken darlegen muss, sobald diese Quote um mehr als einen Prozentpunkt steigt. Der Indikator ist allerdings nicht als starre Grenze zu verstehen, ab der harte Sparmaßnahmen automatisch greifen, sondern als Frühwarnindikator, der eine Strategieüberprüfung auslöst, aus der dann gegebenenfalls ein Kurswechsel resultieren kann. In der Vergangenheit hätte der Indikator 1992, 1994, 1997 und zuletzt 1999 angeschlagen, also rechtzeitig und wiederholt vor steigenden Zinskosten im Haushalt gewarnt. 

Die Zeit der Veränderung ist jetzt

Die aktuellen Schuldenregeln stammen aus einer anderen Zeit, mit anderen Herausforderungen. Die Welt von heute sieht anders aus: Wir befinden uns mitten in einer tiefgreifenden Transformation – wirtschaftlich, demografisch und politisch. Diese Welt braucht eine neue Definition von zukunftsfähiger Finanzpolitik. Wir schlagen dazu zwei Reformen vor: (1) eine Anpassung der Konjunkturkomponente im Rahmen der Schuldenbremse, und (2) die Abkehr von ausgedienten Finanzkennzahlen. Indem wir die Staatsfinanzen dazu befähigen, die Vollauslastung des Arbeitsmarkts zu erreichen, sichern wir gleichzeitig ihre Zukunftsfähigkeit und meistern die Herausforderungen unserer Zeit. Denn eine neue Zeit braucht neue Antworten.