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Die Dialektik ideologischer Verstärkung im neoliberalen Kapitalismus – Ein Gedankenspiel

Streiten sich die Linken mit den Rechten – weil die Rechten die faschistischen Handlanger des Kapitals sind oder die Linken die Handlanger des gleichmacherischen Globalismus -, dann inszeniert der Neoliberalismus beide als Extremisten und sich selbst als Lösung.

Das Wesensmerkmal der Rechten besteht […] in ihrer programmatischen Bereitschaft, den politischen Liberalismus zu beseitigen, um das Privateigentum und den Wirtschaftsliberalismus gegen linke Angriffe intakt zu erhalten. In diesem Sinne gehört die Rechte zum Liberalismus […].

Panajotis Kondylis: Konservativismus

People want a bit of constancy in their lives. If you’ve got a lot of rapid economic change, you want a bit of anchorage in ordinary life. The one, in a sense, reinforces and complements the other. The key to our success in office was that we did, generally speaking, govern according to the principles of liberalism in economic policy and with a fairly conservative social agenda, which I not only believed in but was also appropriate for the times.

John W. Howard, Premierminister Australiens 1996-2007

Die neoliberale Wende lässt sich auf zweierlei Weise interpretieren: entweder als ein utopisches Projekt, das einen theoretischen Plan für die Reorganisation des internationalen Kapitalismus umsetzen soll, oder als ein politisches Projekt, das neue Voraussetzungen für die Kapitalakkumulation schaffen und die Macht der Wirtschaftseliten wiederherstellen soll. […] Jede politische Bewegung, in der die Freiheit des Individuums als sakrosankt gilt, läuft Gefahr, vom Neoliberalismus eingemeindet zu werden.

David Harvey: Kleine Geschichte des Neoliberalismus

Nimmt man die von David Harvey beschriebene Dialektik zwischen einem utopischen Projekt und einem politischen Projekt ernst – also: die Utopie als verabsolutierte, ideologische Selbstauslegung, die die reale politische Ökonomie verschleiert -, dann ergibt sich ein interessantes Verhältnis zwischen dem Neoliberalismus (oder: der aktuellen Erscheinungsweise des Liberalismus als Libertarismus) und den politischen Antipoden der Rechten und Linken.

Die Linke: Knecht des Scheins des Neoliberalismus

Die ideologische Selbstauslegung der Linken orientiert sich zum Teil an sozialliberalen Traditionen des 19. Jahrhunderts, zum Teil aber auch allgemeiner an der humanistischen Tradition, auf die auch der Neoliberalismus rhetorisch zurückgreift. 1 Vgl. das Founding Statement, der Mont-Pelerin-Society v. 10. April 1947

Die Linke wiederholt – und verstärkt damit – im öffentlichen Diskurs die utopistische Rhetorik des Neoliberalismus und tritt zugleich bezüglich des Postulats der Freiheit zu ihm in ideologische Konkurrenz. Deswegen erscheint sie der Rechten auch als organisierter und / oder ahnungsloser (das wechselt) Vertreter und Verbreiter der Ideologie des Globalismus. – Die Linke: Knecht des Scheins des Neoliberalismus.

Die Rechte: Knecht des Seins des Neoliberalismus

Die ideologische Selbstauslegung der Rechten wiederum – mit ihrem gleichzeitigen Rückgriff auf naturalistische und voluntaristische Argumentationen – spiegelt sich in dem Grundwiderspruch der neoliberalen Position: auf der einen Seite persönliche Freiheit, auf der anderen Seite der sozialphysische Determinismus des Marktes; auf der einen Seite Misstrauen gegen den Staat, auf der anderen Seite Angewiesensein auf einen starken Staat, der das Recht auf Eigentum schützt.  – Die Rechte: Knecht des Seins des Neoliberalismus.

Das reale Telos des Neoliberalismus

Beide Positionen, Linke wie Rechte, können dazu neigen, sich mit dem Neoliberalismus zu verbünden: Die Linken (Labour in GB, Regierung Schröder ab 1998), weil sie die libertäre Leitideologie des Neoliberalismus mit ihren eigenen humanistischen Idealen verwechseln. Die Rechten, weil ihnen das Konzept eines autoritären Staates – der negative Freiheitsrechte und Wohlfahrtsrechte schützt, aber Partizipationsrechte untergräbt – wie eine Version ihres eigenen Staatskonzepts vorkommt, das sich – wie auch immer – an absolutistischen Denkfiguren orientiert.

Die extremen Positionen von links, rechts und liberal – Anarchismus, Faschismus, Libertarismus – sind entsprechend reflexionslogisch jeweils Versionen der gleichen reflexiven Signatur, eines reflexiven Voluntarismus (das berühmte Recht des Stärkeren reflexiv potenziert: EFQ).

Das führt in folgendes Dilemma: Wenn die Rechte den Neoliberalismus mit nationalistischer und ethnopluralistischer Rhetorik bekämpft und ihn – verstärkt durch die Affirmation durch die Linke – als Vertreter der gleichmacherischen Ideologie des Globalismus anspricht, übersieht sie, dass der Pluralismus autoritärer Staaten – und nicht der ‚one-world‘-Staat der neoliberalen Ideologie – das reale Telos des ‚Neoliberalismus‘ ist.

Streiten sich die Linken mit den Rechten – weil die Rechten die faschistischen Handlanger des Kapitals sind oder die Linken die Handlanger des gleichmacherischen Globalismus -, dann inszeniert der Neoliberalismus beide als Extremisten und sich selbst als Lösung.

Querfront

Verbinden sich beide zu einer ‚Querfront‘, dann sorgen die Dogmatismen beider Lager regelmäßig dafür, dass die Gegnerbeschreibung durch sie bestimmt wird. Gesucht und gefunden wird der kleinste gemeinsame Nenner: Weil die kritische Analyse der Dialektik zwischen ideologischer Utopie und realer politischer Ökonomie jeweils die eigenen Setzungen bzw. Widersprüche betreffen würde – die Linke müsste ein nicht-moralistisches und konsistentes Bild von ‚Freiheit‘ entwerfen; die Rechte müsste ihren Grundwiderspruch einsehen und in einen konsistenten Konservativismus auflösen; beide müssten diese konsistenten Figuren miteinander verbinden -, bleibt beiden nur der Sprung zu Komplexität reduzierenden Narrativen (Verschwörungstheorien) und Kompensationsstrategien (dogmatische Projektion in Fremde bzw. ideologische Gegner).

Interessant ist, dass die ersten Formen liberalen Staatsdenkens auf die Verknüpfung – sozialliberaler und konservativer – konsistenter Bedingungen geachtet haben. Der Republikanismus der Federalist Papers beruht auf der (bei Locke und Burke gelernten) Einsicht, dass reflexive politische Freiheit mit dem Recht auf materiale Selbsterhaltung einhergehen muss.

Die Annihilierung dieses Rechts – in England durch die Enteignung der Kleinbauern, in den USA durch sukzessive Verschiebung des ‚land-ownership‘-Narrativs von der Existenzbedingung zur Ware (eine analoge Entwicklung zum Konzept der Arbeit) gegen Ende des 19. Jh. – führt zu einem konservativen Trauma des Gebietsverlusts und zur Verwandlung konservativer in altliberale Positionen. Und die Konsequenz daraus – dass der besitzlose politisch freie Bürger erpressbar wird – führt zum ewigen linken Narrativ der Ausbeutung durch das internationale Kapital und zum Wechselspiel von Arbeitskampf und sozialliberalem Klassenkompromiss.

Neoliberaler Kapitalismus: Ein Hybrid aus konservativ-autoritären Steuerungselementen und liberaler Ideologie

Der neoliberale Kapitalismus wäre so ein Hybrid aus konservativ-autoritären Steuerungselementen und liberaler Ideologie. Er benutzt die Idee des Liberalismus von der Erweiterung der Möglichkeiten, um diese für seine Zwecke einzusetzen. Und er benutzt konservative Elemente, um diejenigen liberalen Bereiche abzuschaffen und zu ersetzen, die seine Profitmaximierung behindern.

Beide Seiten, Linke wie Rechte, wären dann auch deswegen Feinde, weil sie sich wechselseitig an eine Wirtschaft verraten, die sie – nach Welt- und Geschäftslage – für die Durchsetzung des jeweils opportunen Verständnisses von Staat und Gesellschaft instrumentalisiert. Und diese Wirtschaft wiederum wäre keineswegs gesteuert von irgendwelchen finsteren Hintermännern – sondern nur berauscht und geblendet durch die Selbstauslegung, der freie Markt sei die letztgültige Form humanistischer Moral.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog Kunst der Rechtfertigung.