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Gracchen auf den Finanzmärkten

Linke müssen darüber nachdenken, mit welcher klugen institutionellen Balance dringend notwendige Staatsausgaben abgesichert werden können, sodass einerseits umverteilende Politik möglicht ist, andererseits ihre politischen Gegner nicht Sturm laufen, um dem Projekt ein jähes Ende zu bereiten.

Was das Vokabular betrifft leben wir in einer verkehrten Welt. Zumindest wenn man mit den Augen der Tradition der alteuropäischen Politik auf unsere Selbstbezeichnung als »Demokraten« blickt. Diese, im vormodernen Wortsinn genommen, bedeutete zumeist Tyrannei der Mehrheiten, Selbstaufhebung und – aufgrund ihres Mangels an (mit heutigen Begriffen gesprochen) Gesetzesförmigkeit und Repräsentation – schließlich Anarchie. Dieser Topos (und die mit ihm verbundenen Argumente) sind nicht einfach verschwunden. Dass man ihn nur noch selten hört, hat damit zu tun, dass moderne Demokratien in vielen Hinsichten eingehegt, repräsentativ durchformt, institutionell abgesichert, kurzum: republikanisch strukturiert sind. Volkvertretungen, Parteien, Föderalismen, Verfassungsgerichte (überhaupt: Verfassungen) sind hier nur die sprechendsten Beispiele.

Anleihen für den König

So weit, so bekannt. Interessant ist aber eine eher unbekanntere Dimension dieser republikanischen Einhegung: Zentralbanken. Das politische Denken führte seit dem 18. Jahrhundert eine intensive Diskussion über die Frage, wie Finanzmärkte und politische Macht kooexistieren können. Zuerst stand diese Frage unter dem Zeichen der Finanzierung des Absolutismus: Staatsschulden wurden in der Frühen Neuzeit von den Monarchen Europas genutzt, um kostspielige Kriege zu führen. Die Herrscher hafteten für die gegebenen Rückzahlungs- und Zinsversprechen. Doch mit der Haftungsfrage formierte sich ein entscheidendes Problem: Wenn ein privater Schuldner seinen Kredit nicht begleicht, kann der Geldverleiher zu einem Gericht gehen, das den abgeschlossenen Vertrag mit der Macht des Staates vollstreckt. Was aber, wenn der Schuldner der König selbst ist?

Im Zweifelsfall, etwa wenn die politische Situation abermals die Finanzierung eines teuren Feldzugs erfordert, wird dieser sich einfach entscheiden, auf eine Rückzahlung zu verzichten – und das geliehene Geld wäre verloren. Der britische Philosoph David Hume prognostizierte 1752 deshalb pessimistisch: »entweder die Nation zerstört die öffentlichen Schulden, oder die öffentlichen Schulden werden die Nation zerstören«. Soll heißen: Entweder der König streicht seine Schulden irgendwann einfach, um die Kriege der Nation weiterführen zu können, oder er zahlt die Zinsen, zum Preis der Kriegsniederlage. Ein Dilemma.

Oliver Weber

Oliver arbeitet an der TU Darmstadt an einem Dissertationsprojekt zur Ideengeschichte des frühliberalen Eigentumsbegriffs – und den Aporien, die ihm die aufklärerische Geschichtsphilosophie aufgelastet hat.  Er hat Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Regensburg und Mannheim studiert und veröffentlicht regelmäßig Essays und Artikel in diversen Feuilletons und Zeitschriften, wie der FAZ, der ZEIT, der SZ oder dem Merkur. 2019 hat er ein Buch über die demokratische Problematik politischer Talkshows bei Klett-Cotta veröffentlicht.

Politische Zinsrisiken

Eine Generation später als Hume begann man aber zu bemerken, dass das britische Königreich bereits im Begriff war, dieses Dilemma zu lösen. Der Clou: Wenn die Geldgeber nur sicher sein könnten, dass der König bezahlen würde, könne man die Risikoprämie reduzieren und die Zinsen drücken. Eine gewaltenteilige Regierung, bei der das Budgetrecht beim Parlament (also den Geldleihern) lag, war hierfür der beste Garant. Die Bank of England stellte die sichere Schnittstelle zwischen finanzieller und politischer Macht dar.

Wenn man nun die Rückzahlung der Schulden einfach immer weiter aufschieben könnte, wären die Geldverleiher zufrieden und die Kriegsführungsfähigkeit der Nation gesichert. Frühkonservative Zeitgenossen wie Friedrich von Gentz waren deshalb große Fans des britischen »Anleihen-Systems«: Es erweist sich als »ewiger Kontrakt«, welcher »weit entfernte Jahrhunderte künstlich ineinander webt« und verstärkt damit die »Solidarität der Geschlechter«. Eine kluge instutionelle Balance zwischen König und Parlament, politischer Macht und Finanzwelt ermöglichte beiden ihr Fortkommen und den Aufstieg zum Empire.

Finanzmärkte und die Gefahren der Demokratie

Was passiert nun, wenn im Parlament nicht mehr Whigs aus der Upper Class sitzen, sondern Arbeitervertreter? Das, was wir »Demokratisierung« nennen, also die Ausweitung des Wahlrechts und der Wählbarkeit auf immer breitere Bevölkerungsschichen im 19. und 20. Jahrhundert, stellte in dieser Rücksicht erstmal ein Problem dar: Wer kann nun garantieren, dass die sozialdemokratischen Parlamente nicht ihrerseits auf die Rückzahlung der Schulden verzichen, oder gar für Wahlgeschenke explizit die Gelddruckmaschine anwerfen? Insgesamt reagierte der Liberalismus auf Bedrohungen wie diese – wie bei The Nation jüngst eindrucksvoll geschildert – mit politisch deflationierten Freiheitsbegriffen. Insbesonere finanzpolitisch gehörte aber noch mehr dazu.

Die Tyrannei der Mehrheit drohte mit der Heraufkung der sozialdemokratischen Parteien abermals. Und die Finanzmärkte reagierten, wie diese eindrucksvolle Studie der Politikwissenschaftler Aditya Dasgupta und Daniel Ziblatt zeigt, mit Risikoaufschlägen auf Staatsanleihen. Die Ausweitung des Wahrechts bedeutete für moderne Staaten also zunächst vor allem höhere Finanzierungskosten, weil die Finanzmärkte die politischen Machtverschiebungen als Geschäftsrisiken wahrnahmen.

Man kann hier stehenbleiben und sagen: »Haben wir ja immer schon gewusst, die kapitalistische Ökonomie ist von Grund auf demokratiefeindlich«. Man verpasst dann allerdings die Chance darüber nachzudenken, wie innerhalb dieser Ökonomie Demokratisierung möglich war und ist. Dies ist der zweite Teil der Studie von Dasgupta und Ziblatt. Denn mithilfe kluger institutioneller Ausgleichmechanismen konnten die frisch demokratisierten Demokratien – ganz ähnlich wie im 18. und frühen 19. Jahrundert – es schaffen, die Risikoprämien zu mindern und damit ihre Finanzierungskosten zu mildern: Der Goldstandard (gegen politische Inflationsrisiken) und professionelle Parteien (gegen Mobherrschaft) ebenso wie sozialer Aufstieg (gegen revolutionäre Ungeduld) wären hier zu nennen, folgt man den Autoren.

Lehren für die Gegenwart

Hieraus kann man etwas für die Gegenwart lernen. Etwa, wieso Bidens billionenschwere Investitionspakete auf Nervosität stoßen, wie die FT berichtet. Eine linksgeneigte Regierung, die Unsummen an Geld in die Hand nimmt, um politische Projekte zu verfolgen, kann in den Augen ihrer Gegner beispielsweise immer geneigt sein, hohe Inflationsraten in Kauf zu nehmen (Zinsen der amerikanischen Staatsanleihen gingen deswegen seit Bidens Amtseinführung stark nach oben). Eine pragmatische, linke Politik muss mit diesen Gegenreaktionen rechnen und damit umzugehen lernen.

In den späten 1970er Jahren waren die unabhängig gemachten Zentralbanken jene Institutionen, mit denen eine Koalition aus Mittelschicht, Finanzsektor und konservativen/liberalen Eliten die explodierende Inflationsgefahr einzudämmen versuchte – mit Erfolg, wie hier bei Stefan Eich und Adam Tooze nachzulesen ist. Umso nervöser macht es mancherorts, dass es nun dieselben Zentralbanken sind, die mit ihrer Niedrigzinspolitik und gigantischen Geldschöpfungssummen eine expansive Fiskalpolitik ermöglichen.

Weite Teile der politischen Klasse mögen gemerkt haben, dass ein rechtspopulistischer Backlash noch gefährlicher als eine linke Ausgabepolitik sein kann (wie hier vermutet), aber die Nachhaltigkeit dieses erstaunlich konsensual betrachteten Unternehmens, das Biden gerade vorantreibt, hängt noch von anderen Faktoren ab: Soll der nächste Schritt der Demokratisierung mehr als nur ein kurzes Aufflimmern gewesen sein, müssen Linke darüber nachdenken, mit welcher klugen institutionellen Balance die anstehenden staatlichen Ausgaben so abgesichert werden können, dass einerseits umverteilende Politik möglicht ist, andererseits ihre politischen Gegner aber nicht so Sturm laufen, dass (über Risikoaufschläge oder hohe Inflation) dem Projekt ein jähes Ende bereitet wird. Die Institution der Zentralbank, ihr Mandat, ihre politische Beeinflussbarkeit und ihre Unabhängigkeit werden im Mittelpunkt dieser Diskussion stehen müssen. Doch diese Diskussion steht noch aus, sie wird erst virulent werden, wenn die Zentralbanken anfangen, die Geldverfügbarkeit zu kappen, während das sozialdemokratische Projekt noch Fahrt aufnimmt.