Person und Politik – Zu Hannah Arendts 50. Todestag

Kaum eine Denkerin ist so populär wie Hannah Arendt. Doch die Faszination für die Person verdeckt oft, was ihre Theorie über Personen in der Politik zu sagen hat. Ole Meinefeld zeigt, warum Arendts Nachdenken über politische Stile gerade in Zeiten des Populismus eine ergiebige Quelle ist.

Hannah Arendt ist 50 Jahre nach ihrem Tod einmal mehr omnipräsent – und das weit über die Grenzen der akademischen Fachwelt hinaus. Magazine veröffentlichen Arendt-Dossiers, ein Dokumentarfilm über sie läuft im Kino und drei neue Biographien sind auf dem Markt.

Arendt ist zur Kult-Figur avanciert. Ihren Texten wird eine zeitdiagnostische Hellsichtigkeit für unsere Gegenwart zugeschrieben: Nach der Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten 2016 schnellten die Verkaufszahlen von »The Origins of Totalitarianism in die Höhe (in deutscher Version: »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft). Dabei handelt es sich wohlgemerkt um eine Studie von über tausend Seiten, die bereits 1951 erschienen ist. Doch was begründet die anhaltende Faszination für Arendt? Identitätsmerkmale wie »deutsch-amerikanische Intellektuelle«, »jüdische Denkerin«, »weibliche Theoretikerin« greifen als Erklärung zu kurz.

Mit ihrer Inszenierung »Die 3 Leben der Hannah Arendt am Deutschen Theater Berlin hat Theresia Thomasberger diese Frage jüngst neu aufgeworfen: ein unerhörter Versuch, Arendts Leben als ein Ganzes auf die Bühne zu bringen. Die Vorlage waren die Zeichnungen aus Ken Krimsteins »The Three Escapes of Hannah Arendt«, was er selbst als »Drawing a Soul« bezeichnete und in den Buchläden wohl in der Rubrik »Graphic Novel« seinen Platz finden wird, sollten die Tische mit Sonderauslagen zu Hannah Arendt je wieder geräumt werden. 1 Ken Krimstein: The Three Escapes of Hannah Arendt. New York, NY 2018.

Thomasberger inszeniert Three Escapes als Collage aus Originalzitaten und bis in die Mimik gehenden Imitationen eines Charakters. Die Kritik war uneins, wie die Darbietung zu bewerten sei: ob sie an einem beklagenswerten Mangel an Kreativität leide oder doch vielmehr den Bildungsauftrag des Theaters mustergültig umsetze. Vielleicht ist gerade damit die richtige Frage aufgeworfen, nämlich welche Spannung zwischen der Dramatik einer außergewöhnlichen Lebensgeschichte und der Relevanz eines Werks besteht, das scheinbar leicht zugänglich und in öffentlichen Reden »gefühlt« genauso oft richtig wie falsch zitiert wird. 

Ole Meinefeld

Ole Meinefeld wurde an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert. Er leitet die Grüne Akademie, einen Think Tank der Heinrich-Böll-Stiftung. Sein Buch »Das Wagnis der Öffentlichkeit: Politische Stile bei Hannah Arendt« ist 2025 im Campus Verlag erschienen.

Eine Bühne für die öffentliche Intellektuelle

Neben der Vorlage von Krimsteins Zeichnungen ist für das kundige Theaterpublikum während der Inszenierung leicht zu erkennen, welche Bedeutung das berühmte Fernsehgespräch mit Günter Gaus für das Stück hat. Nichts dürfte derart zur heutigen Popularität der Person beigetragen haben, wie jenes millionenfach auf YouTube geklickte Gespräch, das Günter Gaus mit ihr 1964 für das ZDF in seiner Reihe »Zur Person« führte. Nirgends wird die Person Hannah Arendt für ihre Nachwelt so plastisch wie in dieser Sendung: Das Rauchen und Gestikulieren mit der Zigarette, ihre unverwechselbare Mimik, ihr Humor. Die Inszenierung des berühmten Interviews könnte genau das kreative Element sein, das einige Kritiken vermissten. Schließlich zeigt sich darin ein Spannungsverhältnis, wie sich dieses »Original« Hannah Arendt originalgetreu und zugleich auf eine originelle Weise inszenieren lässt: Das Bekannte auf der Bühne zu zeigen, enthält auf den zweiten Blick womöglich mehr Reflexion, als es die Kritik daran erahnen lässt.

Und bietet sich nicht gerade Arendt selbst als Vorbild für eine Inszenierung an, spricht sie doch aus eigener Erfahrung? – »Acting is fun«. Ganz so glatt fügt es sich nicht. Obwohl Arendt das Drama zur »politischen Kunst par excellence« adelte – und damit die griechische Antike meinte – geriet sie nicht in Versuchung, sich selbst zur sokratischen Figur zu stilisieren.

Sie hat ihr eigenes Leben weit weniger als ein Leben auf der öffentlichen Bühne verstanden, als dies ihre Bekanntheit vielleicht vermuten ließe. Aber diese Assoziation der Person Hannah Arendt mit dem öffentlichen Auftritt war schon zu Lebzeiten vorhanden. Den Höhepunkt bildete wohl die scharfe Kontroverse zu »Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen«. Auch diesseits des Atlantiks wurde sie nicht müde, die verdrängten Probleme der Erinnerungskultur anzusprechen, wenn ihr ein Forum geboten wurde. Sie intervenierte in der amerikanischen Öffentlichkeit ohne Scheu vor Widerspruch – kleinere und auch größere Irrtümer eingeschlossen, wie etwa die abwegige Argumentation in ihrem Essay »Reflections on Little Rock«, als sie glaubte, der Kampf des »Civil Rights Movements« gegen die rassistische Segregation in Schulen werde dort auf den Rücken von Kindern ausgetragen. 

In Folge dieser Interventionen sah sich Arendt selbst spätestens seit den 1960er Jahren mit der Erwartung des Publikums konfrontiert, etwas zu ihrem eigenen öffentlichen Wirken zu sagen. Und als ihr im April 1975, ein halbes Jahr vor ihrem Tod, in Kopenhagen der »Sonning-Preis« für herausragende Beiträge zur europäischen Kultur verliehen wurde, brachte es der Anlass mit sich, dass sie eine Rückschau auf die eigene Biographie hielt. Aus dem Manuskript der Rede geht vor allem hervor, wie zurückhaltend Arendt auch im Alter von 68 Jahren war, das eigene Wirken von der öffentlichen Resonanz her zu denken. 2 Hannah Arendt: Die Sonning-Preis-Rede (Kopenhagen 1975). In: Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur, Hannah Arendt, Heft 166/167. München 2005, S. 3–12.  Sie wählte die römischen Theatermaske als Bild, durch welche die Person mit ihrer Stimme erst ›durchtönt‹ – lateinisch personare –, um die spezifische Ungreifbarkeit der Person im öffentlichen Auftreten zu erläutern.

Und das Bild passt, denn diese Herausforderung stellt sich in der Tat auch heute für Annäherungen an Hannah Arendt. Wenn sich in der letzten Szene von »Die 3 Leben der Hannah Arendt das Theater« in ein Kino verwandelt, indem eine Sequenz aus dem Gaus-Gespräch auf einer Leinwand gezeigt wird, wechselt auch das Stück gewissermaßen von der Figur zur Person. Arendt spricht auf der Leinwand dann über das »Wagnis der Öffentlichkeit«. Und es liegt nahe, dies zunächst einmal als eine Selbstauslegung zu deuten. Zumal beim Antworten und Zuhören nicht zu übersehen ist, wie gut Arendt den performativen Charakter eines Fernsehauftrittes verstanden hatte. Günter Gaus möchte an dieser Stelle des Gesprächs von ihr etwas Persönliches wissen, passend zum Format der Reihe »Zur Person«. Und obwohl Arendt ihre Skepsis gegenüber dieser Art der Reflexion im Gespräch bereits bekundet hat, wenn sie sagt, »dass man sich nicht selbst in die Karten schauen soll«, 3 Diese kurze Zwischenbemerkung fehlt in den Transkriptionen des Gesprächs, ist aber über die verfügbaren Video-Aufzeichnungen nachzuhören, a.a.O.  fragt Günter Gaus sie trotzdem: »Dieses ›Wagnis der Öffentlichkeit‹ […] worin besteht es für Hannah Arendt?«. 4 Hannah Arendt: Fernsehgespräch mit Günter Gaus (Oktober 1964). In: dies.: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, hrsg. von Ursula Ludz. München 2005, S. 46–72, hier 72, Herv. O.M.  Das Persönliche übergeht sie an der Stelle und spricht allgemein zur Sache 5 Ebd. :

Das Wagnis der Öffentlichkeit scheint mir klar zu sein. Man exponiert sich im Lichte der Öffentlichkeit, und zwar als Person. Wenn ich auch der Meinung bin, daß man nicht auf sich selbst reflektiert in der Öffentlichkeit erscheinen und handeln darf, so weiß ich doch, daß in jedem Handeln die Person in einer Weise zum Ausdruck kommt wie in keiner anderen Tätigkeit. […] Also das ist das eine. Das zweite Wagnis ist: Wir fangen etwas an; wir schlagen unseren Faden in ein Netz der Beziehungen. Was daraus wird, wissen wir nie. […] Das gilt für alles Handeln. Einfach ganz konkret, weil man es nicht wissen kann. Das ist ein Wagnis. […] Und nun würde ich sagen, daß dieses Wagnis nur möglich ist im Vertrauen auf die Menschen.

Politisches Handeln als »Wagnis der Öffentlichkeit«

Nach der Verlagerung der Aufmerksamkeit von der Figur auf der Bühne zur historischen Person, bietet dieses Zitat die Gelegenheit zu einer weiteren Überblendung, dieses Mal weg von der Lebensgeschichte Hannah Arendts und hin zu ihrer Theorie über Personen in der Öffentlichkeit. Was Arendt hier sagt, verdichtet nämlich in mündlicher Form, worauf es ihr zufolge beim politischen Handeln ankommt. [Tooltip title=6]Vgl. die ähnlichen Formulierungen in Hannah Arendt, »Vita activa oder Vom tätigen Leben«, München 2007, S. 237–239.[/tooltip] Politisches Handeln bedeute, in einer Pluralität zu handeln, aber nicht im Sinne eines Kollektivs: Einzelne Personen machen einen Unterschied, zusammen in der Interaktion mit anderen. So lässt sich erahnen, wie das Handeln von öffentlichen Personen in der politischen Auseinandersetzung zu einem Orientierungsangebot in der Öffentlichkeit werden kann. Auf die Personen selbst ist also zu achten, über ihr Handeln wird geurteilt und in einer pluralen Öffentlichkeit selbstverständlich gestritten, was ein bestimmtes Handeln erst zu einem »Wagnis« macht. 

Nun führt diese Frage nach Person und Politik unweigerlich zu einer Besonderheit Arendts zurück – allerdings weniger als Besonderheit ihrer Biographie denn als Besonderheit ihres Werks. Denn ihre Theorie des politischen Handelns ist wie kaum eine zweite geprägt von der Frage nach der Person. Diesem Aspekt gebührt Aufmerksamkeit, obwohl oder gerade weil eine solche Perspektive allzu leicht im Verdacht steht, an einer für Täuschungen anfälligen Oberfläche zu kleben, also: oberflächlich zu sein. Sicher gibt es viele gute Gründe, in der Analyse von Politik nach den ökonomischen Interessen, Ressourcen, nach Institutionen und Prozessen zu fragen. Doch warum sollten derartige Zugänge einander nicht ergänzen? Die dazu erforderliche Absage an holistische Theorieansprüche würde selbstredend auch für Hannah Arendt gelten. Sie heute als Autorin in ihr Recht zu setzen, erfordert weit weniger scharfe Abgrenzungen als Arendt diese selbst gezogen hat, stand für sie noch die gesamte philosophische Tradition mit wenigen Ausnahmen im Verdacht, die politische Praxis zu marginalisieren, auf der Suche nach den großen Ideen und Geschichtsprozessen, die im Hintergrund walten.

Wenn Arendt in ihrem Spätwerk »Das Leben des Geistes« über den »Wert der Oberfläche« schreibt, ist dies mehr als ein Stück Phänomenologie oder Nietzscheanismus. Es bricht mit einem Dogma. Über diese »Oberfläche« nachzudenken, wendet sich gegen die weit verbreitete Vorstellung, was auf der Bühne der Politik erscheint, sei bloß etwas Vordergründiges und Täuschendes. Um nicht bei diesem Vorurteil über Politik im Allgemeinen und personalisierte Politik im Speziellen stehenzubleiben, gilt es, die Fragen richtig zu stellen: Welche Ansprüche haben Öffentlichkeiten an die handelnden Personen in der Politik? Welche Form der Kritik sollte diesen zuteilwerden?

Das »Wagnis der Öffentlichkeit« scheint derartige Ansprüche zusammenzufassen. Und obwohl diese Formulierung ursprünglich auf Karl Jaspers zurückgeht, ist es angemessen, sie als arendtsche Antwort auf dieses Problem zu betrachten. Es war schließlich Arendt, durch die diese Formulierung bekannt wurde, nicht zuletzt durch das genannte Fernsehinterview.

Inwieweit dieser Ansatz heute zum Nachdenken über eine freiheitliche Ordnung beitragen kann, versteht sich keineswegs von selbst: Schließlich war der Gedanke der Republik von Anfang an ein Gegenprogramm zur personalen Herrschaft der Monarchie und Autokratie. In diesen Tagen demonstriert in den USA eine Bewegung mit dem Motto »No Kings« diesen Grundsatz auf eindrucksvolle Weise. Es ist diese Pluralität von Handelnden in der Öffentlichkeit, mit der ein Gegenbild zur Ermächtigung von Einzelnen entsteht.

Auch Arendt hat die Protestbewegungen ihrer Zeit durchaus so gedeutet. Ihr Modell des politischen Handelns läuft jedoch auf eine Pluralität der politischen Lebensgeschichten hinaus, die in der Öffentlichkeit zirkulieren, und nicht auf die Betrachtung von Kollektiven. Zu erkennen ist dies vor allem in den kleinen erzählerischen Formen ihres Werks, den Episoden, Essays und Nachrufen. Beispiele sind biographische Miniaturen über öffentliche Personen wie Rosa Luxemburg, John F. Kennedy und Winston Churchill, deren politische Lebensgeschichte Arendt kommentiert hat. Was dabei in den kleinen und großen Gesten, Worten und Reden einen Unterschied macht, ergibt eine öffentlich bekannte Geschichte, die wiederum zum Gegenstand der Kritik werden kann – und ultimativ zum Anlass, selbst handelnd in der Öffentlichkeit zu intervenieren, sei es unterstützend oder opponierend. In der Auseinandersetzung darüber, wie öffentliche Personen handeln, kommen politische Alternativen zum Ausdruck.

Personalisierte Politik in der Republik

Wie lassen sich die Erwartungen an diese öffentlichen Personen in einer demokratischen Öffentlichkeit genauer fassen? Für eine Probe aufs Exempel eignet sich der Begriff des politischen Stils, den Arendt in einer biographischen Miniatur über John F. Kennedy entfaltet. Für den Begriff des Stils ist in der Ideengeschichte ein Changieren zwischen den lateinischen Begriffen inventio und imitatio charakteristisch, wie Hans-Ulrich Gumbrecht gezeigt hat. An eine solche Dynamik von Erneuerung und Stabilität schließt Arendt an, wenn sie politische Neuanfänge als ein Wagnis begreift, und zwar im Fall Kennedys als Erneuerung innerhalb einer bestehenden Institution, nämlich der eines politischen Amts. 

In einem Nachruf portraitiert sie Kennedy daher als den ersten amerikanischen Präsidenten, dessen Inauguration die Autorität des Amts nicht »hoch über die gewöhnlichen Mannschaftsgrade« stellte, wie es seine Amtsvorgänger getan hatten – sondern den Präsidenten als »Primus inter pares« inszeniert. 7 Hannah Arendt: Kennedy und danach. In: In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken II, hrsg. von Ursula Ludz. München 2000, S. 280–283, hier 281. Dieses Auftreten war in einer Weise stilbildend für die Präsidenten nach Kennedy, von Lyndon B. Johnson bis Bill Clinton, und selbst von Richard M. Nixon bis George W. Bush, deren Politik in eine ganz andere Richtung ging. Spätestens der Bruch mit dieser Form durch die Inaugurationen von Donald J. Trump 2017 und 2025, bei denen zusammenführende Rhetorik und die Darstellung einer pluralistischen Gesellschaft verächtlich gemacht wurden, führte uns vor Augen, welche Unterschiede sich in dieser personal-symbolischen Dimension von Politik manifestieren können.

Wie groß der Unterschied sein kann, den Personen machen, zeigt auch der Anlass für Arendts Text: November 1963, John F. Kennedy wird erschossen. Ein dramatischer Moment für die amerikanische Republik. Wenige Tage später schreibt Arendt im Nachruf, sie höre überall die gleichen Versicherungen: Alles werde weitergehen wie bisher. Tatsächlich führt der Nachfolger Lyndon B. Johnson Kennedys Politik in vielerlei Hinsicht fort, etwa den Weg zum Civil Rights Act. Aber – und das ist Arendts Pointe – alles wird in einem anderen Stil weitergehen. Kennedy and After überschreibt sie ihren Text. Der Unterschied, den Kennedy gemacht hat, wird jetzt umso deutlicher sichtbar. Das ist politischer Stil. Und darin liegt das Wagnis: ein Amt neu zu interpretieren.

Die Übertragung von Macht in ein Amt bleibt für demokratische Republiken allerdings stets eine prekäre Angelegenheit. Wann wäre dies für das Amt des amerikanischen Präsidenten je klarer gewesen als im Jahr 2025? Neben den rechtlichen und formalen Institutionen der Wahl, den Checks and Balances, ist eine kritische Öffentlichkeit entscheidend, die der Kontrolle von Amtsinhabern und ihren Verbündeten entzogen bleibt. Allein dann, wenn der ungewisse Ausgang des Handelns und seine Reaktionen und Gegenaktionen in der Öffentlichkeit nicht zu kalkulieren sind, bleibt es ein Wagnis. In Arendts Worten: »[…] wir schlagen unseren Faden in ein Netz der Beziehungen. Was daraus wird, wissen wir nie.«

Ein Gegenbild zu dieser Form von Öffentlichkeit findet sich in der bereits erwähnten Totalitarismusstudie: Arendt analysiert darin, wie die Propaganda totalitäre Führerfiguren erzeugt und zu Pseudo-Propheten für das zukünftige Geschehen macht. Der Ausgang des Handelns soll als durch eine große geschichtliche Erzählung vorbestimmt erscheinen. Die realen Folgen der Handlungen – die selbstverständlich vom propagierten Ausgang stets abweichen – werden von der Propaganda nivelliert, zugunsten jener Fiktion. So wird die inszenierte Deutungsmacht dieser Pseudo-Propheten vom tatsächlichen Geschehen abgelöst. Der daraus hervorgehende Pakt zwischen den Führerfiguren und ihrer Anhängerschaft ist das ziemlich genaue Gegenteil zu einer pluralen Öffentlichkeit mit den Neuanfängen, die als Hoffnungsschimmer eines anderen politischen Handelns in Arendts Werk nicht zufällig auf den letzten Seiten jener Studie auftauchen. 

Die Negativfolie ist bei Arendt werkgeschichtlich also zuerst da, lange bevor vom »Wagnis der Öffentlichkeit« die Rede ist. Dies mag auch ein Hinweis darauf sein, dass es sich keineswegs um eine naive Forderung handelt, die die Kontexte des politischen Handelns außer Acht ließe. Die politische Praxis in mediatisierten Öffentlichkeiten hat sie in den 1960er- und 1970er-Jahren intensiv verfolgt und immer wieder kommentiert. Im Zuge dessen wird Arendt zu einer Kritikerin von frühen Formen der personalisierten PR-Politik, doch sie nahm den Medienwandel, den die Verbreitung des Fernsehens bedeutete, mit weit weniger kulturkritischen Tönen auf als etwa Zeitgenossen wie Günter Anders oder Theodor W. Adorno. Sie sah darin mehr als den Verfall von Öffentlichkeit und schlussfolgerte offenbar einen gesteigerten Bedarf, sich dieser »Oberfläche«, den Normen und der Kritik von personalisierter Politik zuzuwenden. 

Ein Gebot der Stunde

Die Grenzen einer Aktualisierung liegen jedoch auf der Hand: Wie Arendt den Medienwandel des 21. Jahrhunderts, wie sie Social Media und Algorithmen eingeschätzt hätte, darüber können wir nur spekulieren. Es dürfte allerdings schwer zu bestreiten sein, dass personalisierte Politik und ihre Problematisierung heute an Dringlichkeit eher hinzugewonnen als verloren haben.

Für diese Frage einer Aktualisierung komme ich nun ein letztes Mal auf das obige Zitat zurück. Es ist nämlich erhellend, jenes »Wagnis der Öffentlichkeit« einmal als Genitivus subiectivus zu lesen, als »Wagnis der Öffentlichkeit«, also das Wagnis, das eine Öffentlichkeit eingeht, die sich auf die handelnden Personen einlässt. Es gibt freilich gute Gründe, politische Macht an Institutionen und Verfahren zu binden anstelle von Personen. Vertrauen bleibt dabei stets eine »riskante Vorleistung« (Luhmann), hier aufseiten der Öffentlichkeit, wenn diese den öffentlichen Personen und ihren Stilen Vertrauen entgegenbringt. Der Relevanz von Personen muss eine pluralistische Deutungsmacht gegenüberstehen. Die andere Seite, das »Wagnis der Öffentlichkeit« (genitivus obiectivus) ist damit verschränkt: Es ist für die handelnden Personen nur dann ein Wagnis, wenn eben nicht bereits feststeht, was daraus wird. Eine entsprechende Öffentlichkeit verbürgt dabei, dass die Handelnden nicht selbst über diese Reputation und die Deutungsressourcen verfügen können. Nur so wird die im Wagnis aufs Spiel gesetzte politische Lebensgeschichte zu einem Pfand – einem Einsatz, der die Vertrauenswürdigkeit einer Person verbürgt.

Für diese Konstellation braucht es Öffentlichkeit. Die Basis dafür bilden geschützte Meinungsfreiheit sowie eine vielfältige und ausgewogene Medienlandschaft. Diese Strukturen sind bekanntermaßen unter Druck geraten. Neben der systemischen Perspektive sollte jedoch ebenso klar geworden sein, welche normative Relevanz einer Kritik von politischen Stilen zukommen kann. Denn aus einer solchen Kritik lassen sich politische Alternativen formulieren – sie vermag in demokratischen Öffentlichkeiten Orientierung stiften. Personalisierte Politik wird damit zumindest nicht von vornherein zum Verfallsphänomen von Öffentlichkeit erklärt. Es lohnt sich allemal, die normative Relevanz solcher Kritikformen für das politische Vertrauen ernst zu nehmen.

Diese Ernsthaftigkeit fehlt häufig, wenn heute über das Verhältnis von Politik und Person diskutiert wird. Gängig ist ein Changieren zwischen widersprüchlichen Anforderungen: einerseits kritische Distanz zu Personen, die Herrschaft auf Zeit ausüben, andererseits die verbreitete Forderung nach charismatischen Persönlichkeiten. Eine andere Perspektive zu entwickeln, wäre angebracht. Gerade unter dem Eindruck populistischer Herausforderungen erscheint dies als Gebot der Stunde.

Mit dem »Wagnis der Öffentlichkeit« ließe sich dafür ein politiktheoretischer Rahmen abstecken – aber erst die Praxis, die konkrete Kritik von politischen Stilen wird ihn mit Leben füllen. Für beide Unterfangen ist Hannah Arendt auch 50 Jahre nach ihrem Tod eine ergiebige Quelle.