Das Ende der Illusionen
Der Westen erzählt seine Geschichte als Fortschritt, Freiheit und Sieg des besseren Arguments. Daniel Marwecki widerspricht. In seiner globalhistorischen Analyse zeigt er, wie Gewalt, Kolonialismus und ökonomische Macht die liberale Ordnung hervorgebracht haben und warum ihr Zerfall außerhalb Europas weniger Schrecken als Hoffnung auslöst.
Im Osten tobt ein russischer Angriffskrieg, im Westen werden Strafzölle verhängt. Wenn die liberalen Spielregeln des internationalen Miteinanders aufgekündigt werden, erscheint die Gegenwart chaotisch und die Zukunft gefährlich. Darin liegt ein gegenwartsanalytischer Minimalkonsens, auf den sich scheinbar die gesamte Welt einigen kann. Doch ganz so ist es nicht, wendet der Politikwissenschaftler Daniel Marwecki in seinem neuen Buch »Die Welt nach dem Westen. Über die Neuordnung der Macht im 21. Jahrhundert« ein. Anders als hierzulande häufig angenommen, teilt die Welt diese Untergangsstimmung nämlich nicht. Vielmehr handelt es sich um die spezifische Gefühlslage eines absteigenden Westens. Jenseits seiner Grenzen werden Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit vollkommen anders gelesen. Wie die Kehrseite der westlichen Geschichte aussieht, was eine Welt nach dem Westen bereithält und ob wir uns davor fürchten oder darauf freuen sollen, das sind die leitenden Fragen von »Die Welt nach dem Westen«.
Fortschritt und Gewalt
Den Aufstieg des Westens schildert Marwecki folgendermaßen: Seit dem 19. Jahrhundert wurde die Weltordnung vom Westen dominiert. Das Rezept, mit dem Länder wie Großbritannien, Deutschland, Frankreich und die USA an die Weltspitze gelangten, bestand Marwecki zufolge weder aus Fleiß noch aus Freihandel. Vielmehr setzte es sich aus Industrialisierung, einem starken Staat, anfänglichem Protektionismus und nicht zuletzt aus militärischer Gewalt zusammen, die den Zugang zu Ressourcen und unbezahlter Arbeit in den Kolonien sicherte. Auf diese Weise, so stellt Marwecki fest, kontrollierte der Westen am Vorabend des Ersten Weltkriegs »drei Fünftel des Globus und generierte über drei Viertel der globalen Wirtschaftsleistung – eine unglaubliche Dominanz«.
Nach zwei Weltkriegen wurde das kapitalistische Modell des Westens im Kalten Krieg vom Staatssozialismus herausgefordert. Marwecki gibt jedoch zu bedenken, dass sowohl die Weltkriege als auch der Kalte Krieg im Kern westliche Konflikte waren, in die der Westen den Rest der Welt hinein zog. Zwar erkämpften sich viele ehemalige Kolonien in der Nachkriegszeit ihre politische Unabhängigkeit, doch über ihr Schicksal konnten sie weiterhin nicht selbst bestimmen. Schließlich dienten sie dem Westen als Rohstofflager und billige Arbeitsstätte, litten unter neokolonialen Schuldregimen und internationalen Unternehmen oder wurden als Spielball des Kalten Krieges missbraucht. Während die Sowjetunion die antikolonialen Bewegungen zu vereinnahmen versuchte, da unterstützten die USA während des Kalten Krieges aus eben diesem Grund unzählige Militärputsche in der postkolonialen Welt.
Julia Werthmann
Was Marwecki dabei aufzeigt, ist Folgendes: Der Westen erzählt die Geschichte seit dem 19. Jahrhundert als liberale Fortschrittserzählung. Mit dem friedlichen Ende des Kalten Krieges habe sich die Überlegenheit des westlichen Modells endgültig durchgesetzt. Oder, wie es der vielzitierte US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama formulierte: Mit der liberalen Demokratie sei die Geschichte in den 1990ern an ihr vernünftiges Ende gelangt. Während der Westen den Entwicklungsgipfel bereits erklommen habe, also industrialisiert und liberal-demokratisch geworden sei, müsse der Rest der Welt noch nachziehen. Im Zweifel haben die USA dabei ein wenig nachgeholfen, etwa indem sie in Chile und Argentinien beim Sturz linker Regierungen assistierten oder im Irak und in Afghanistan direkt militärisch intervenierten. Statt eines friedlichen Siegs des besseren Arguments, so argumentiert Marwecki, entstand die sogenannte freiheitliche Ordnung unter US-Führung, »weil sie alternative Freiheitsvorstellungen außerhalb ihrer eigenen Weltordnung teilweise mit äußerster Brutalität unterdrückte.«
Der Westen vermochte es also, den Anderen seine Interessen mit Gewalt aufzuzwingen. Doch wer genau sind diese Anderen? Darauf antwortet Marwecki, dass die nicht-westliche Weltmehrheit keine einheitliche Gruppe bildet. Sie lebt in Asien, Lateinamerika und Afrika, spricht unzählige Sprachen und kennt verschiedenste Sitten. So viel sie voneinander trennt, haben sie dennoch alle eines gemeinsam: Zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer jeweiligen Geschichte wurden sie, so Marwecki, von Europa überwältigt. Den geläufigen Begriff des »Globalen Südens« verwendet Marwecki dabei nur sparsam. Es geht ihm schließlich weniger um Geographie als um Geschichte.
Das Buch des gebürtigen Bremers und heutigen Hong-Kongers entfaltet auf 255 Seiten eine enorme zeitliche und geografische Spannweite, ohne dabei unübersichtlich zu werden. Das liegt zum einen an seinem kurzweiligen Sprachstil, zum anderen daran, dass Marwecki eine Heuristik vorschlägt, die die Materialfülle ordnet. Während der Westen seit dem 19. Jahrhundert die Welt dominierte, lässt sich die Geschichte des nichtwestlichen Rests als eine Suche nach dem jeweils eigenen Umgang mit der westlichen Norm verstehen. Dieser Umgang bestand im Kopieren und Adaptieren. Dabei stellt Marwecki fest: »Noch im Widerstand gegen den Westen zeigte sich, wie sehr die Welt nach dem Bildnis des Westens geformt worden war.«
Erfolgsmodelle und Emanzipationsversuche
Aus den detailreichen Ausführungen der Globalgeschichte lassen sich zwei Erfolgsmodelle der Anderen ablesen – aber auch viele zum Scheitern verurteilte Emanzipationsversuche. Erfolg hatten jene, die das westliche Modell kopierten. Mit einer Mischung aus starker staatlicher Planung, Industrialisierung und selektiver Weltmarkabschottung konnten sich Japan, Taiwan, Südkorea und später auch die Volksrepublik China erfolgreich am Weltmarkt etablieren. Chinas monumentaler Aufstieg zeigt darüber hinaus, dass die Kopie das Original bisweilen sogar überflügelt. Neben den Tigerstaaten zählen auch die nahöstlichen Öl-Staaten zu den Anpassungsgewinnern. Aufgrund ihrer Bodenschätze konnten sie auch ohne Industrialisierung futuristische Städte in den Sand bauen und sich am globalen Finanzmarkt etablieren.
Vielen afrikanischen, lateinamerikanischen oder nahöstlichen Staaten blieb dieser Weg versperrt. Ihnen fehlte die US-Bindung, die in Ostasien zeitweiligen Protektionismus und sicherheitspolitischen Schutz ermöglichte. In Lateinamerika hingegen unterbunden die USA, der IWF und die Weltbank Bemühungen, sich vom Weltmarkt abzuschirmen, um eine nachholende Entwicklung zu gewährleisten. Linksnationalistische oder kommunistischen Regime in Kongo, Iran oder Chile wurden gestürzt bzw. weggeputscht. Zudem fehlte diesen Regionen der für die nachholende Modernisierung unerlässliche starke Staat. Afrikanische und nahöstliche Staaten standen vor der Herausforderung, eine nationale Einheit herzustellen, wo Kolonialherren zuvor willkürliche Grenzen gezogen hatten.
Aus diesem nahöstlichen Problem der Nationenbildung entwickelt Marwecki seine Lesart des islamischen Fundamentalismus. Er begreift ihn als eine »gescheiterte Revolte« gegen die mit dem kolonialen Lineal gezogenen Grenzen von 1916. Ein einheitliches Kalifat sollte die westliche Zerstückelung überwinden. Doch dieser verspätete antikoloniale Aufstand erwies sich als der modernen Welt nicht gewachsen. Oder, wie Marwecki nüchtern feststellt, man sehe, »dass vorkoloniale Identitäten und postkoloniale Staaten nicht zusammenpassen«.
So bietet Marweckis Blick eine Alternative zum ahnungslosen Seufzen und kulturalistischen Mutmaßen hiesiger Medien über den Nahen Osten und Süden. Mit ihm verstehen wir: Seit Jahrhunderten kämpft der nicht-westliche Weltteil um Selbstbestimmung. Manche waren darin erfolgreicher als andere. Doch keine ihrer Geschichten lässt sich ohne die westliche Gewalt verstehen.
Der Abstieg des Westens
Gegenwärtig steht die Geschichte an einem Punkt, an dem die westliche Herrschaft ins Wanken gerät. Einige der Anderen überholen den Westen wirtschaftlich. Während ostasiatische, allen voran die chinesische Wirtschaft boomt, schwächeln die westlichen, zunehmend de-industrialisierten Nationen. Vor diesem Hintergrund erscheint Trumps Zollpolitik und Re-Industrialisierungsplan nicht mehr derart erratisch, sondern als »Abstiegsvermeidungsstrategie«.
Doch nicht nur wirtschaftlich, auch moralisch befindet sich der Westen im Sinkflug. Wer ökonomisch dominiert, der kann sich politische Doppelmoral leisten. »In dem Maße aber«, gibt Marwecki zu bedenken, »wie die westliche Vormachtstellung abnimmt, verschafft sich die Kritik an den westlichen Widersprüchen zwischen Wort und Tat größeres Gehör.« Der Krieg in Gaza und der Ukraine sind für die Weltöffentlichkeit Prismen des westlichen Zerfalls. Der »Globale Süden« weigert sich, die Konflikterzählung mitzutragen, in der ein demokratischer Westen gegen den autoritären Osten – sei es Russland oder China, ein zivilisiertes Israel gegen die barbarischen Palästinenser – kämpft. Nicht unbedingt, weil sie den russischen Angriffskrieg, die Härte des chinesischen Staats oder die Hamas schätzen. Sondern, weil die westliche Selbsterzählung der Freiheit, Gleichheit und Demokratie für sie wie Hohn klingt. Schließlich hielten die liberaldemokratischen Werte den Westen in der Vergangenheit nicht davon ab, den »Globalen Süden« zu überfallen, zu versklaven, zu enteignen, auszubeuten oder ihre Regierungen zu stürzten. Man mag diese Haltung im Einzelnen kritisieren. Das Problem ist nur: Der Westen blendet aus, inwiefern er sie selbst hervorgebracht hat.
Was bedeutet der Abstieg, allen voran der USA, für die Weltordnung? Marwecki kommt zu dem Schluss, dass wir gegenwärtig eine »Multipolarisierung« beobachten. Ein »Revival« des Kalten Krieges sieht er hingegen nicht. China strebe nicht danach, die USA als imperiale Großmacht abzulösen, sondern trete international vor allem als wirtschaftliche und nicht zwingend als militärische Großmacht auf. Auf dem afrikanischen Kontinent etabliere sich die Volksrepublik als engagierter Entwicklungshelfer, im Ukrainekrieg bringe sie sich als Vermittler in Stellung, auch wenn der Westen dies bislang weitgehend ignoriere. Zudem betont Marwecki, dass die USA und China kein ideologischer Graben trennt. Vielmehr handele es sich um eine Konkurrenz zwischen zwei verschiedenen Varianten des Kapitalismus. Anstelle einer bipolaren Großmachtrivalität liege die Zukunft daher in einem flexiblen Dreieck aus den USA, China und Russland.
Welche Rolle kommt Europa in all dem zu? Marwecki schlägt »ein strategisch autonomes und blockfreies Europa« vor, das eine ausgleichende Rolle zwischen den USA und China einnimmt. Wie auch den USA rät er Europa zu einem »würdevollen Abstiegsmanagement«. Wird EU-Komissionspräsidentin Ursula von der Leyen diesen Rat annehmen? Unwahrscheinlich. Bisweilen lautet ihr EU-Kurs: Aufrüstung statt Ausgleich, westliche Allianz statt Autonomie, Arroganz statt Abstiegsmanagement.
Marweckis Blick reicht über deutsche, europäische und amerikanische Debatten hinaus, weil er auch zuhört, was in Indien und China diskutiert wird. Aus dieser Perspektive fragt er, ob die bundesdeutsche Untergangsstimmung vielleicht weniger von einem emphatischen Weltschmerz herrührt, sondern auf postimperialer Trauer und einer Angst vor umgekehrten Kräfteverhältnissen beruht. Krieg und Unterwerfung gab es schließlich auch während der liberalen Ära zu Genüge. Neu ist nur, dass der Westen die Geschehnisse nicht mehr zu kontrollieren vermag.
Was westliche Politiker auf internationalem Parkett von sich geben, bestätigt diese Schlüsse. So witzelte Friedrich Merz nach der COP-Klimakonferenz jüngst darüber, dass wohl niemand im brasilianischen Belém leben wollen würde und beklagte darauf beim Gipfeltreffen der Europäischen und Afrikanischen Union, dass es in Angola kein »ordentliches Stück Brot« zum Frühstück gäbe. So spricht nur jemand, der noch nicht verstanden hat: In einer multipolaren Welt ist er auf ein gutes Verhältnis mit Akteuren jenseits des Westens angewiesen. Diese deutsche Ignoranz wird man sich bald nicht mehr leisten können.