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Alle reden vom Klima. Perspektiven sozial-ökologischer Transformation

Die neuesten Daten zum Klimawandel sind besorgniserregend. Die katastrophenträchtige Entwicklung vor Augen, stellt sich die Frage nach den Aussichten einer sozial-ökologischen Transformation und damit nach gesellschaftlichen Verhältnissen, die am besten realisieren, was nun auch der Weltklimarat (IPCC) fordert – eine globale Nachhaltigkeitsrevolution. Doch haben wir die Chance dazu bereits vertan oder gibt es begründete Aussichten auf eine erfolgreiche Transformation?

„Die Welt steht am Abgrund“, mit diesen aufrüttelnden Worten drängte Antonio Guterres am Vorabend der Klimakonferenz von Glasgow einmal mehr darauf, dem allgegenwärtigen Klimatalk endlich Taten folgen zu lassen. Der UN-Generalsekretär hat allen Grund zur Sorge, denn die Daten zum Klimawandel sind besorgniserregend. Obwohl die Welt wegen der Corona-Pandemie zeitweilig still zu stehen schien, sind die Kohlenstoffemissionen 2021 wieder besorgniserregend angestiegen. Zwar gab es 2020 einen Rückgang der klimaschädlichen Emissionen um 5,6 Prozent, doch für die menschengemachte Erderhitzung ist das kaum von Bedeutung. Der Klimawandel nimmt weiter Fahrt auf. Das 1,5-Grad-Erderhitzungsszenario und selbst das Zwei-Grad-Ziel geraten in Gefahr. 1 World Meteorological Organization (WMO 2021): WMO Greenhouse Gas Bulletin (GHG Bulletin) – No.17: The State of Greenhouse Gases in the Atmosphere Based on Global Observations through 2020; https://library.wmo.int/doc_num.php?explnum_id=10838; Zugriff: 26.10.21  Glasgow hat daran wenig geändert. Würden alle vereinbarten Maßnahmen greifen, landeten wir am Ende des Jahrhunderts bei einem Erderhitzungsszenario von weit über zwei Grad. Die bitteren Konsequenzen des menschengemachten Klimawandels sind in der Gegenwart längst spürbar. Während des zurückliegenden halben Jahrhunderts hat sich die Zahl der wetter- und klimabedingten Katastrophen in etwa verfünffacht. 2 WMO (2021): Atlas of Mortality and Economic Losses from Weather, Climate and Water Extremes (1970-2019); https://library.wmo.int/doc_num.php?explnum_id=10769; Zugriff: 26.10.21;  Brände, Flutkatastrophen, Kriege um Land und Wasser, aber auch Flüchtlingsströme und das Artensterben signalisieren, dass der Planet dabei ist, ein anderer zu werden. 

Die katastrophenträchtige Entwicklung vor Augen, stellt sich die Frage nach den Aussichten einer sozial-ökologischen Transformation und damit nach gesellschaftlichen Verhältnissen, die am besten realisieren, was nun auch der Weltklimarat (IPCC) fordert – eine globale Nachhaltigkeitsrevolution. Haben wir die Chance dazu bereits vertan oder gibt es begründete Aussichten auf eine erfolgreiche Transformation? Dem nachfolgenden Antwortversuch liegt die These zugrunde, dass ökologische und soziale Nachhaltigkeit sich wechselseitig bedingen, weshalb das eine ohne das andere nicht zu haben ist. Beide Zielsetzungen sind konfliktträchtig. Gesellschaftliche Akteure können in der Transformation daher nur erfolgreich sein, wenn sie das Spannungsverhältnis zwischen sozialen und ökologischen Nachhaltigkeitszielen erfolgreich bearbeiten. Zur Begründung dieser Auffassung wird zunächst das Konzept der Zangenkrise beleuchtet. Es folgen Überlegungen zum doppelten Problem der Klimagerechtigkeit. Abschließend werden mögliche Auswege aus der Zangenkrise diskutiert.              

Klaus Dörre

Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und war geschäftsführender Direktor des DFG-Kollegs "Postwachstumsgesellschaften". Foto: Angelika Osthues / CC BY-SA 3.0

Zangenkrise und gesellschaftliche Transformation

Beginnen wir mit dem Konzept der Zangenkrise. Bei einer Krise handelt es sich ihrer allgemeinsten Definition nach um einen überwindbaren Zustand. Moderne Gesellschaften prozessieren gewissermaßen im Modus der Krise. Irgendein gesellschaftlicher Teilbereich oder ein Funktionsmechanismus ist immer krisenträchtig, d. h. auf Zeit gestört. In der Gegenwart häufen sich Krisen, so dass es naheliegt, die „Unbekanntheit der Zukunft, erfahren und bewältigt als Krise“ als „Integrationsform der nächsten Gesellschaft“ 3 Baecker, Dirk (2018): 4.0 oder: Die Lücke, die der Rechner lässt. Leipzig, S. 94.  zu betrachten. Offenbar hat die expansive Dynamik vor allem marktwirtschaftlich-kapitalistischer Gesellschaften einen Punkt erreicht, an dem sich die Tendenz zu globaler Marktintegration mit destruktiven Gegenkräften konfrontiert sieht. Vor allem die alten kapitalistischen Zentren, aber auch die großen Schwellenländer befinden sich inmitten einer Krise von historisch neuer Qualität, die ich als ökonomisch-ökologische Zangenkrise bezeichne. 

Zangenkrise besagt, dass das wichtigste Mittel zur Überwindung ökonomischer Stagnation und zur Pazifizierung interner Konflikte im Kapitalismus, die Generierung von Wirtschaftswachstum nach den Kriterien des Bruttoinlandsprodukts, unter Status-Quo-Bedingungen ökologisch zunehmend destruktiv und deshalb gesellschaftszerstörend wirkt. Mit dem Status Quo sind in diesem Zusammenhang hoher Emissionsausstoß, ressourcenintensiv Produktions- und Lebensweisen sowie ein beständig steigender Energieverbrauch auf fossiler Grundlage gemeint. Der Zangengriff von Ökonomie und Ökologie markiert Störungen der Gesellschafts-Natur-Beziehungen, die eben keine Krise wie jede andere sind. Erfasst werden alle sozialen Felder und gesellschaftlichen Teilsysteme. Das wird in Begriffen wie dem der multiplen Krise 4 Itoh, Makoto (2021): Value and Crisis. New York, S. 58 ff. zurecht thematisiert. Doch wenn alles andauernd irgendwie gestört ist, macht der Krisenbegriff letztendlich wenig Sinn. Deshalb favorisiere ich mit Zangenkrise eine Bezeichnung, die eine klare Hierarchie der Krisenursachen benennt. Diese Krise ist historisch einmalig, weil sie mit hoher Wahrscheinlichkeit den Übergang zu einem neuen Erdzeitalter, dem Anthropozän, 5 Crutzen, Paul J. (2019). Das Anthropozän. München. einleitet. 

„Anthropozän“ 6 In den Erdwissenschaften ist der Begriff umstritten und es ist noch immer möglich, dass er „gänzlich verworfen wird.“ Ellis, Erle C. (2020): Anthropozän. Das Zeitalter des Menschen – eine Einführung. München, S. 7. Ich nutze ihn dennoch, um das Besondere der Zangenkrise zu akzentuieren. besagt, dass die Menschheit zum wichtigsten Faktor bei der Reproduktion von außermenschlicher Natur geworden ist. Die im Begriff enthaltene Botschaft ist eine doppelte. Die Menschheit kann ihre eigenen Lebensgrundlagen zerstören, lautet die schlechte Nachricht. Das Anthropozän wäre dann von sehr kurzer Dauer. Künftig haben es die Menschen aber selbst in der Hand, nachhaltige Beziehungen zur Natur zu schaffen und ihr instrumentelles Verhältnis zu Naturressourcen und nichtmenschlichen Lebewesen zu überwinden. So lautet die im Begriff des Anthropozäns ebenfalls angelegte optimistische Botschaft. Ob wir die Artenvielfalt erhalten, die Überhitzung des Planeten stoppen, den Verbrauch endlicher Ressourcen einschränken, Hunger und Massenelend überwinden, den Energiebedarf aus erneuerbaren Quellen decken, eine fortschreitende Abholzung der Wälder und die nachfolgende Versteppung beenden und dem Anthropozän eine lange Dauer verleihen, hängt in erster Linie vom praktischen Tun in menschengemachten Gesellschaften ab.

Nun existiert die Menschheit nur als nach Nationen, Klassen, Geschlechtern, Alter, Machtressourcen etc. differenziertes Kollektiv. Hinzu kommt, dass die Störungen der Gesellschafts-Natur-Beziehungen in der Gegenwart in erster Linie von kapitalistischen Ökonomien ausgehen. Deshalb halten Sozialwissenschaftler wie Jason Moore die Bezeichnung „Kapitalozän“ für angemessener. Der Kapitalismus selbst müsse als Ökosystem begriffen werden. Nicht trotz, sondern wegen des hohen Vergesellschaftungsniveaus der Arbeit träten die Naturschranken der Akkumulation wieder stärker hervor. Zu konstatieren sei „the breakdown of the strategies and relations that have sustained capital accumulation over the past five centuries “ 7 Moore, Jason W. (2015): Capitalism in the Web of Life, London/New York, S. 1. . Deshalb handele es sich um mehr als eine der seltenen, „großen Krisen“ der Kapitalakkumulation, vergleichbar etwa mit der großen Depression im 19. Jahrhundert, der Weltwirtschaftskrise von 1929-1932 oder der Weltwirtschaftskrise von 1973/74. „Große Krisen“ der Akkumulation führen dazu, dass sich kapitalistische Gesellschaften in all ihren Teilsystemen „häuten“. Sie wälzen das gesamte Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse um – dies jedoch nur, um die Kernstruktur des Kapitalismus, den Zwang zu fortwährender Markexpansion, zu immer neuen Landnahmen eines nichtkapitalistischen Anderen, zu konservieren und auf Dauer zu stellen. 8 Dörre, Klaus (2019): Risiko Kapitalismus. Landnahme, Zangenkrise, Nachhaltigkeitsrevolution. In: Dörre, Klaus/ Rosa, Hartmut/ Becker, Karina/ Bose, Sophie/ Seyd, Benjamin (Hrsg.): Große Transformation? Zur Zukunft moderner Gesellschaften. Sonderband des Berliner Journals für Soziologie. Wiesbaden: Springer VS. S. 3-34.

»Entweder es gelingt, das Wirtschaftswachstum von seinen ökologisch destruktiven Folgen zu entkoppeln, oder es muss eine Transformation stattfinden, die Gesellschaften vom ökonomischen Zwang zu immer neuen Landnahmen, zu gewinngetriebener Marktexpansion und permanentem, raschen Wirtschaftswachstum befreit.«

Zangenkrise besagt, dass diese Bewegungsform auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen an unüberwindbare Grenzen stößt. Graduelle Prozesse wie die Erderhitzung oder auch der steigende Ressourcen- und Energieverbrauch können den Planeten in dramatischer Weise verändern und für Menschen zumindest in Teilen unbewohnbar machen. So ist der Meeresspeigel seit Beginn des 20. Jahrhunderts um ca. 20 cm gestiegen. Das Eis an den Polen schmilzt rascher als erwartet. Schon 2014 erreichte der westantarktische Eisschild wahrscheinlich einen Kipppunkt, der das gesamte Ökosystem destabilisiert und den Zerfall des Eisschilds beschleunigt. Das Ansteigen des Meeresspiegels bedroht zunächst kleinere Inseln und tiefergelegene Küstenregionen; das macht das Graduelle des Klimawandels aus. Er wirkt zunächst unsichtbar und sozialgeographisch differenziert.

Exemplarisch zeigt sich so, was die Dynamik globaler ökologischer Gefahren auszeichnet. Sie erschließen sich in ihrem vollen Ausmaß nur über wissenschaftliche Expertise. Bei der Ursachen­ und Wirkungsforschung gibt es immer wieder zahlreiche Unbekannte. Deshalb machen sich Gefahrenquellen wie der Klimawandel lange Zeit eher graduell bemerkbar, bis sie an Schwellenwerte gelangen, die eine Umkehrung von Fehlentwicklungen verunmöglichen. Auch wegen ihrer Uneindeutigkeit und Wissensabhängigkeit sind ökologische Großgefahren gesellschaftlich umkämpft. Sie lassen sich für eine gewisse Zeit verdrängen. Das aber nur, um dann umso heftiger auf ihre Verursacher zurückzuschlagen. Wenn sie überhaupt einen Realitätsgehalt besitzt, ist das der eigentliche Katalysator für die Herausbildung einer Weltgesellschaft. Denn letztendlich sind ökologische Großgefahren nicht externalisierbar. Sie müssen an ihren wirklichen Ursachenherden bekämpft werden, um substanzielle Veränderungen herbeizuführen. 

Der Hauptgrund für den menschengemachten Klimawandel sind Kohlenstoff basierte Produktions- und Lebensweise in den früh industrialisierten Ländern, deren Ausbreitung im globalen Maßstab nur um den Preis eines ökologischen Desasters möglich ist.  9 Brand, Ulrich/Wissen, Markus (2017): Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im Globalen Kapitalismus. München. Dies ist der Grund, weshalb es für die Zangenkrise inzwischen ein politisch festgelegtes Ende gibt. Noch vor 2050 soll die Wirtschaft der wichtigsten Industriestaaten vollständig dekarbonisiert sein. Dieser Wandel ist in seiner Bedeutung und seinen Ausmaßen durchaus mit der ersten industriellen Revolution vergleichbar. Er erfasst alle Branchen und Gesellschaftsbereiche.  Unter besonderem Veränderungsdruck stehen einige Schlüsselbereiche – der Verkehrs-, der Bau- und Gebäude-, der Energie- und der Agrarsektor sowie, neben den industriellen Karbonbrachen (Stahl, Eisen, Aluminium etc.) häufig vergessen, die Finanzindustrie. Vor allem der Verkehrssektor hat zur Dekarbonisierung bisher kaum etwas beigetragen. Deshalb nimmt der Veränderungsdruck zu. Innerhalb der Europäischen Union existieren inzwischen verbindliche, sanktionierbare Zielsetzungen, die künftig einen Abschied von der Kohleverstromung und einer auf fossilen Brennstoffen basierenden Mobilität verlangen. Im Grunde, so lässt sich resümieren, gibt es nur zwei Pfade, um den menschengemachten Klimawandel zu begrenzen und die angelagerten ökologischen Großgefahren einigermaßen zu kontrollieren. Entweder es gelingt, das Wirtschaftswachstum von seinen ökologisch destruktiven Folgen zu entkoppeln, oder es muss eine Transformation stattfinden, die Gesellschaften vom ökonomischen Zwang zu immer neuen Landnahmen, zu gewinngetriebener Marktexpansion und permanentem, raschen Wirtschaftswachstum befreit.    

Klimagerechtigkeit als interstaatliches Problem

Gegenwärtig dominieren weltweit Versuche, die erste Option einzulösen. och gleich, welche politischen Weichenstellungen erfolgen, sie werden stets auf das Spannungsverhältnis zwischen sozialen und ökologischen Nachhaltigkeitszielen stoßen. Nehmen wir als Beispiel das Problem der Klimagerechtigkeit. Offenkundig variiert der Ausstoß von Treibhausgasemissionen sowohl mit der jeweiligen Platzierung in der sozialen Geographie von Staaten als auch mit der jeweiligen Klassenposition innerhalb nationaler Gesellschaften. Während die reichsten zehn Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung mit ihren Lebensstilen 2015 49 Prozent der klimaschädlichen Emissionen verursachten, war die untere Hälfte nur für zehn Prozent verantwortlich. 10 Gallagher, Kevin P./Kozul­Wright, Richard (2019): A New Multilateralism for Shared Prosperity. Geneva Principles for a Global Green New Deal. Geneva, S. 5. http://www.bu.edu/gdp/files/2019/05/Updated-New-Graphics-New-Multilateralism-May-8-2019.pdf; Zugriff: 08.12.21.

Hinter dieser Asymmetrie verbergen sich zwei eng miteinander verkoppelte Gerechtigkeitsproblematiken. Die erste wurzelt in den ungleichen Anteilen von Ländern an den klimarelevanten Emissionen, die mit der unterschiedlichen Platzierung in der sozialen Geographie zusammenhängen. Nimmt man die Anteile an den historischen Treibhausgasemissionen, so wird diese Problematik deutlich. 2015 entfielen 26,3 Prozent dieser Emissionen auf die USA, 23,4 Prozent auf Europa. Weit dahinter lagen China (11,8 Prozent) und Russland (7,4 Prozent). Betrachtet man die derzeitigen Anteile an den globalen Emissionen, stößt China allerdings längst die größte Menge an Treibhausgasen aus, Indien liegt hinter den USA und vor den EU-27-Staaten bereits an dritter Stelle. 11 2019 entfielen 27 Prozent der globalen Emissionen auf China, 11 Prozent auf die USA, Indien liegt mit 6.6 Prozent vor den EU-27-Staaten (6,4 Prozent) auf dem dritten Platz. Zu aktuellen durch die Corona-Pandemie verzerrten Daten siehe auch: https://www.globalcarbonproject.org/carbonbudget/index.htm Rechnet man indessen nach Emissionen pro Kopf, ergibt sich ein anderes Bild. Der Treibhausgasausstoß je Einwohner ist in den USA doppelt so hoch wie in der VR China. Indiens Anteil wird von der Bundesrepublik um ein Mehrfaches übertroffen. Auch die absolute Emissionslast pro Kopf variiert beträchtlich. Wer in den USA, Luxemburg, Katar oder Saudi-Arabien zum reichsten ein Prozent gehört, emittiert mehr als das Zweitausendfache eines armen Bewohners in Länder wie dem Tschad, Malawi, Honduras, Ruanda oder Tadschikistan. 12 World Resources Institute: CAIT Climate Data Explorer 2021, World Resources Institute, Washington, D. C.; www.cait.wri.org.

»Es sind die früh industrialisierten Staaten, die zeigen müssen, wie ein rascher, nachhaltiger Umbau von Ökonomie und Gesellschaft zu verwirklichen ist, denn nur wenn sie die Wende zur Nachhaltigkeit in kurzer Frist schaffen, haben die Länder der südlichen Halbkugel überhaupt noch eine Wachstums- und Entwicklungschance.« 

Aus diesen Ungleichheitsrelationen ergibt sich eine Gerechtigkeitsproblematik, die global zwischen Nationalstaaten oder Staatenbünden ausgetragen wird. Einerseits ist eine rasche Reduktion von klimaschädlichen Emissionen nur möglich, sofern in den großen Flächenstaaten des Südens, allen voran China und Indien, in kürzester Zeit ein radikales Umsteuern stattfindet. Andererseits können sich entwickelnde Staaten zurecht darauf pochen, dass die frühindustrialisierten Länder bei der Bekämpfung des Klimawandels in Vorlage gehen müssen und die Hauptlast der Kosten zu schultern haben. Diese Interessendivergenz belastet alle Versuche für eine halbwegs planvolle Dekarbonisierung der Weltwirtschaft. Klimawandel und Emissionen sind zum Gegenstand imperialer Rivalitäten und interstaatlicher Auseinandersetzungen geworden. Wenn EU-Europa seine Ökonomien bis spätestens 2045, China seine Wirtschaft aber erst bis 2060 emissionsfrei machen will, ist das aus der EU-Perspektive ein unzulässiger Wettbewerbsvorteil, für China aber ein gerechter Ausgleich für die koloniale Erblast. Klimaschädliche Ungleichheiten zwischen Staaten sind aber beileibe kein reines Nord-Süd-Problem; auch unter den Mitgliedstaaten der EU ist die Emissionslast gemessen an den Haushalteinkommen höchst ungleich verteilt. Allein die einkommensstärksten zehn Prozent der Haushalte von vier Ländern (Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien), denen insgesamt ca. 28,8 Millionen Menschen zugerechnet werden können, emittieren mehr als die gesamte Bevölkerung von 16 ärmeren EU­Mitgliedsstaaten. 13 Oxfam (2020): Confronting Carbon Inequality in the European Union. Why the European Green Deal must tackle inequality while cutting emissions. Authors: Tim Gore, Mira Alestig; https://www.oxfam.org/en/research/confronting-carbon-inequality-european-union; Zugriff: 08.12.21; siehe auch: Ivanova, Diana/Wood, Richard (2020): The unequal distribution of household carbonfootprints in Europe and its link to sustainability, in: Global Sustainability 3, S. 1–12, https://www.cambridge.org/core/journals/global-sustainability/article/unequal-distribution-of-household-carbon-footprints-in-europe-and-its-link-to-sustainability/; https://doi.org/10.1017/sus.2020.12. Zugriff: 08.12.21.

Angesichts der ungleichen Verteilung von Emissionslasten zwischen Staaten ist es wenig verwunderlich, wenn die Fortschritte beim Klimaschutz auf globaler und internationaler Ebene bisher relativ begrenzt geblieben sind. Umso wichtiger wird, dass die Länder der frühindustrialisierten Weltregionen bei der so dringend benötigten Nachhaltigkeitsrevolution eine Vorreiterrolle spielen. Der richtige Hinweis, die Bundesrepublik habe nur einen Zwei-Prozentanteil an den klimaschädlichen Emissionen, entlastet daher nicht von den Anforderungen einer raschen Transformation. Das Gegenteil ist richtig; es sind die früh industrialisierten Staaten, die zeigen müssen, wie ein rascher, nachhaltiger Umbau von Ökonomie und Gesellschaft zu verwirklichen ist, denn nur wenn sie die Wende zur Nachhaltigkeit in kurzer Frist schaffen, haben die Länder der südlichen Halbkugel überhaupt noch eine Wachstums- und Entwicklungschance. 

Klimagerechtigkeit als innergesellschaftliches Problem

Alle Versuche, in diese Richtung zu arbeiten, stoßen auf die Zunahme vertikaler, d. h. häufig klassenspezifischer Ungleichheiten innerhalb nationaler Gesellschaften. Diese Ungleichheiten gewinnen in ihrer Bedeutung für den Klimaschutz gegenüber den zwischenstaatlichen Ungleichheiten kontinuierlich an Relevanz. 14 1998 erklärten die Ungleichheiten innerhalb nationaler Gesellschaften etwa 30 Prozent der globalen Emission; 2013 waren es bereits 50 Prozent. Vgl. Chancel, Luca/Piketty, Thomas (2015). Carbon and inequality: From Kyoto to Paris. Trends in the global inequality of carbon emissions (1998–2013) & prospects for an equitable adaptation fund. Paris: Paris School of Economics. http://piketty.pse.ens.fr/files/ChancelPiketty2015.pdf. Zugriff: 08.12.21 Werden diese Ungleichheiten nicht angegangen, können sie als gewaltiger Bremsklotz für ökologische Nachhaltigkeitsziele wirken. In der wachstumskritischen Literatur wird häufig darauf hingewiesen, dass die Bevölkerungen der reichen Staaten überwiegend zu jenem Zehntel der erwachsenen Weltbevölkerung zählen, das den erwähnt hohen Anteil an der globalen Emissionslast erzeugt. Das ist insofern richtig, als sich nur fünf Prozent der Haushalte von 26 untersuchten EU-Staaten im Rahmen der Klimaziele bewegen. Fatal wäre es jedoch, würde man die Ungleichheit innerhalb dieser Bevölkerungen aus den Augen verlieren. Die einkommensstärksten zehn Prozent der Haushalte von 26 europäischen Ländern sind für 27 Prozent der Emissionen verantwortlich, während die untere Hälfte etwa 26 Prozent der klimaschädlichen Gase verursacht. Allein das reichste ein Prozent verzeichnet einen Pro­-Kopf­-Ausstoß von 55 Tonnen CO2­Emissionen jährlich und liegt damit um etwa das Siebenfache über dem europäischen Durchschnittswert. Vor allem Flugreisen machen den Unterschied. Beim einkommensstärksten Prozent verursachen sie mehr als zwei Fünftel der Emissionen, weitere 21 Prozent gehen auf das Konto des individuellen PKW-Verkehrs. Geflogen wird nahezu ausschließlich vom oberen Dezil der Haushalte (jährliches Nettoeinkommen von durchschnittlich 40.000 Euro). Zur Erreichung der Klimaziele müsste der Pro­-Kopf­-Ausstoß an klimaschädlichen Emissionen auf durchschnittlich 2,5 Tonnen im Jahr sinken; das reichste Prozent der Haushalte liegt um mehr als das zweiundzwanzigfache darüber. Das heißt, nahezu alle müssen ihren Lebensstil ändern, aber der Veränderungsdruck ist bei den reichsten Haushalten mit Abstand am größten. 15 Vgl. Ivanova/Wood, Richard (2020).

Zwar wurden EU-weit seit 1990 ca. 25 Prozent der Emissionen eingespart, die Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Emissionen ist also zumindest regional und zeitlich begrenzt durchaus möglich. 16 Vgl. Dörre, Klaus (2018): Europe, Capitalist Landnahme and the Economic-Ecological Double Crisis: Prospects for a Non-Capitalist Post-Growth Society. In: Rosa, Hartmut/Henning, Christoph (Hrsg.) (2018): The Good Life Beyond Growth. New Perspectives. London, S. 241-249.  Doch im globalen Maßstab sinken die Emissionen viel zu langsam, als dass dies zu nachhaltigem Klimaschutz führen könnte. Zudem sind die Emissionsreduktionen in erster Linie ein Verdienst einkommensschwächerer Haushalte. Während die Emissionen des reichsten ein Prozents der Haushalte zwischen 1990 und 2015 um fünf Prozent und die des einkommensstärksten Dezils um drei Prozent gestiegen sind, haben sie bei der ärmeren Hälfte um 34 Prozent und bei den Haushalten mit mittleren Einkommen im gleichen Zeitraum um 13 Prozent abgenommen. 17 Vgl. Oxfam 2020, S. 1, 3.  In Deutschland verursachten die reichsten zehn Prozent der Haushalte 26 Prozent der Emissionslast, die untere Hälfte war für 29 Prozent der Emissionen verantwortlich. Während das reichste Prozent nichts einsparte, reduzierte die untere Hälfte ihre Emissionen um ein Drittel. Bei den Haushalten mit mittleren Einkommen betrugen die Einsparungen immerhin 12 Prozent. 

»Klimawandel und Ressourcenverschwendung kann nur Einhalt geboten werden, sofern im Einklang mit diesen Zielen stärker egalitäre Verteilungsverhältnisse gefördert werden, die den ökologischen Umbau mittels sozialer Nachhaltigkeit fördern.«

Zugespitzt formuliert bedeutet dies, dass die Produktion von Luxusartikeln für die oberen Klassen und deren Konsum durch begüterte Haushalte zu einer Haupttriebkraft eines Klimawandels geworden sind, unter dessen Folgen national wie global vor allem die ärmeren, sozial besonders verwundbaren Bevölkerungsgruppen zu leiden haben. Der oftmals erzwungene Konsumverzicht in den unteren Klassen bringt den wachsenden Anteil des einkommensstärksten oberen Zehntels der europäischen Bevölkerung im statistischen Mittel zum Verschwinden. Nur weil Personen mit „kleinen Geldbörsen“ ihren Gürtel wegen sinkender Einkommen und steigender Preise enger schnallen müssen, sind die verschwenderischen Lebensstile der oberen Klassen überhaupt noch möglich. Deshalb, so kann geschlussfolgert werden, ist der Kampf gegen Klimawandel und ökologische Zerstörung stets auch einer zugunsten der Armen und Benachteiligten. Dies allerdings nicht in einem Sinne, der soziale Gerechtigkeit zu einer Vorbedingung von Nachhaltigkeit machen würde, ohne die zerstörerische Wirkung ökologischer Destruktivkräfte wirklich ernst zu nehmen. Klimawandel und Ressourcenverschwendung kann nur Einhalt geboten werden, sofern im Einklang mit diesen Zielen stärker egalitäre Verteilungsverhältnisse gefördert werden, die den ökologischen Umbau mittels sozialer Nachhaltigkeit fördern. Wie der französische Soziologe Pierre Bourdieu gezeigt hat, ist es erst ab einem gewisses Niveau an Einkommens- und Beschäftigungssicherheit überhaupt möglich, ein gesellschaftliches Zukunftsbewusstsein zu entwickeln. 18 Bourdieu, Pierre (2000): Die zwei Gesichter der Arbeit. Interdependenzen von Zeit- und Wirtschaftsstrukturen am Beispiel einer Ethnologie der algerischen Übergangsgesellschaft. Konstanz, S. 110.  Und nur wer über ein Zukunftsbewusstsein verfügt, so sei ergänzt, wird sein persönliches Handeln an Nachhaltigkeitszielen ausrichten können.    

Auswege aus der Zangenkrise

Politiken, die auf nachhaltigen Klimaschutz zielen, können daher an ihren Antworten auf zwei einfache Fragen gemessen werden: Sinken die Treibhausgasemissionen und der weltweite Ressourcen- und Energieverbrauch so, dass sie eine Wende zugunsten ökologischer Nachhaltigkeit einleiten? Und garantiert die Verteilung des erzeugten gesellschaftlichen Reichtums, dass möglichst alle und auch künftige Generation partizipieren können? Beim Versuch, diesen Maßstab zu realisieren, lassen sich gegenwärtig vier strategische Optionen unterscheiden. Ich bezeichne sie als die Markt-, die Technik-, die Staats- und die Demokratisierungsoption. 

Die Marktoption setzt darauf, künstlich zu verknappen, was einstmals im Überfluss vorhanden war. Das geschieht, indem CO2-Äquivalente einen Preis erhalten. Der Emissionshandel, gegebenenfalls auch eine CO2-Steuer, werden zum Hauptinstrument, um den menschengemachten Klimawandel zu bekämpfen. 19 Exemplarisch: Fücks, Ralf/Köhler, Thomas (2019): Soziale Marktwirtschaft ökologisch erneuern. Berlin. Ein Problem ist, dass diese Instrumente in ihrer Wirksamkeit umstritten sind. Ist der CO2-Preis zu niedrig, leidet seine Steuerungsfunktion, ist er hoch, erzeugt das soziale Gerechtigkeitsprobleme. Da schwer zu kontrollieren, öffnet der Emissionshandel die Tür zu Kompensationsgeschäften, die keine wirkliche Reduktion der Kohlenstoffemissionen beinhalten. Negative Emission, d. h. deutlich weniger Kohlestoffproduktion als die natürlichen Speicher absorbieren, sind mit diesen Instrumenten kaum zu erreichen. 

Das Hauptproblem marktkompatibler Instrumente besteht jedoch darin, dass sie in ihren Auswirkungen sozial blind sind. Selbst wenn eine CO2-Steuer mit einem Klimageld verbunden ist, werden die kleinen Geldbörsen letztendlich stärker belastet als die großen. In Deutschland hat die untere Hälfte der Lohnabhängigen gemessen am steigenden Volkseinkommen kontinuierlich verloren. Steigen die Preise für Heizung, Strom, Mobilität, Mieten und Nahrungsmittel, wird der frei verfügbare Einkommensanteil immer geringer. Selbst für Durchschnittsverdiener mit einem Reallohn von monatlich 1.578 Euro 20 DGB Verteilungsbericht (2021): Ungleichheit in Zeiten von Corona. Berlin, S. 25 file:///C:/Users/KLAUSD~1/AppData/Local/Temp/DGB_Verteilungsbericht%202021-3.pdf „Im Jahr 2019 stiegen diese nominal um 3,4 % zum Vorjahr, im 1. Halbjahr 2020 sanken diese hingegen um 0,5 %. Die durchschnittliche jährliche Zuwachsrate der Nettolöhne beträgt seit der Jahrtausendwende nominal 2,0 %. Preisbereinigt sind geringere Zuwächse zu verzeichnen (0,5 %). Während im Jahr 2000 einem Beschäftigten monatlich durchschnittlich 1.407 Euro zur Verfügung standen, waren es 2019 preisbereinigt 1.578 Euro, im laufenden Jahr 1.552 Euro. Seit 2010 stiegen die realen Nettoeinkommen um jahresdurchschnittlich 1,1 %.“  wird das, auch im Falle von Doppelverdiener-Haushalten, zu einer erheblichen finanziellen Belastung. Geringe gesellschaftliche Akzeptanz der Maßnahmen oder gar sozialer Protest sind dann vorprogrammiert. Die Gelbwestenproteste in Frankreich, aber auch Wählerstimmen für rechtsradikale Klimaleugner zeigen, was geschehen kann. Marktmechanismen allein reichen offenkundig nicht aus, um das Problem der Klimagerechtigkeit befriedigend zu lösen. 21 In der Schweiz, die bereits über eine CO2-Steuer samt Sozialausgleich verfügt, scheiterte im Juni 2021 eine Volksabstimmung zu einer CO2-Gesetzesvorlage, die den Emissionshandel stärken wollte und von der Regierung, dem Parlament sowie dem Gros der Umweltverbände befürwortet wurde. Der Gesetzentwurf stieß bei einer knappen Mehrheit der Bevölkerung auf Ablehnung, weil die soziale Gerechtigkeitsproblematik unterschätzt wurde. Vgl.: Ringger, Beat (2021): Nicht für Elon Musk. Fürs Volk. Klimapolitik nach dem Nein zum CO2-Gesetz. Denknetz-Working-Paper.

Die Technikoption verbindet Marktmechanismen mit einem Plädoyer für beschleunigten technologischer Wandel. Vorreiter sind Repräsentanten der New Economy wie Elon Musk und Bill Gates. Beide stehen für einen Solutionismus, sprich: für eine Ideologie, die in unternehmerischer Kreativität, technischen Innovationen und einer Berücksichtigung des Gesetzes von Angebot und Nachfrage die Lösung für nahezu jedes Weltproblem sieht. Der Staat wird als Protagonist technologischen Wandels durchaus gebraucht. Er soll Forschung und Entwicklung fördern, klimafreundliche Innovationen anregen und entsprechende Investitionen nachfragen. Investiert werden soll in CO2-neutralen Zement, Stahl, Dünger, Kunststoffen, eine CO2-freie Wasserstoffproduktion sowie in CO2-neutrale Alternativen zum Palmöl und die „Kernspaltung der nächsten Generation“. 22 Gates, Bill 2021: Wie wir die Klimakatastrophe verhindern. München.  Einmal davon abgesehen, dass sich die Kernenergie als technologische Sackgasse erwiesen hat, weist auch die Technikoption strukturelle Mängel auf. Geht es nach dem technikbasierten Solutionismus, fahren wir künftig mit dem Elektroauto, verfügen über synthetische Kraftstoffe, essen aus Pflanzen hergestelltes Fleisch, bauen mit emissionsfreiem Zement, verarbeiten klimaneutralen Stahl, lassen die Welt aber im Großen und Ganzen so, wie sie ist. 23 Eine solchen Weg, der Klimaneutralität binnen drei Investitionszyklen erreichen will, beschreibt auch: Prognos, Öko­Institut, Wuppertal­Institut (2021): Klimaneutrales Deutschland 2045. Wie Deutschland seine Klimaziele schon vor 2050 erreichen kann. Zusammenfassung im Auftrag von Stiftung Klimaneutralität, Agora Energiewende und Agora Verkehrswende: https://www.prognos.com/de/projekt/klimaneutrales-deutschland-2045; Zugriff: 08.12.21.  Das ist ein Wechsel auf die Zukunft, der sich kaum einlösen lässt, weil die systemischen Treiber des „Immer mehr und nie genug“, allen voran eine auf Wachstum, Marktexpansion und privaten Gewinn ausgerichtete Wirtschaft, fortbestehen.

Auch die Staatsoption lässt Marktmechanismen Raum und setzt auf technologischen Wandel; sie bricht jedoch mit der Vorstellung, der Staat sei ein schlechter Unternehmer. Vielmehr hänge die vermeintlich größte Stärke des Kapitalismus, seine Innovationsfähigkeit, die im Modus schöpferischer Zerstörung prozessiere, von den Interventionen und Ressourcen eines steuernden Staates ab. Ohne staatliche Unterstützung sei in der Vergangenheit keine der großen Sprunginnovationen und der dazu nötigen Forschungen überhaupt möglich gewesen. Der Staat müsse „zu jeder Zeit im Konjunkturzyklus die Rolle eines echten Tigers spielen“, während die Unternehmen nur die Rolle von „Hauskatzen“ einnähmen, argumentiert die italienisch-amerikanische Starökonomin Mariana Mazzucato. 24 Mazzucato, Mariana 2013: Das Kapital des Staates. Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum, München, S. 17.  Trotz ihrer realistischen Bewertung der keineswegs immer sichtbaren Hand des Staates im Innovationsprozess hat auch diese Option ihre Tücken. So sind wirtschaftsfreundliche Staatsinterventionen kaum in der Lage, Rent-Seeking-Strategien zu begegnen, mit deren Hilfe große Marktakteure das eigene Einkommen zulasten des Einkommens anderer Marktteilnehmer steigern. 25 Das räumt Mariana Mazzucato durchaus ein. Vgl.: Mazzucato, Mariana (2018): Wie kommt der Wert in die Welt? Von Schöpfern und Abschöpfern, Frankfurt a. M./New York, S. 269. Hinzu kommt das Agieren staatlicher Apparate und Behörden, die, an politisch gewollte Zurückhaltung gewöhnt, unter akuter industrie- und strukturpolitischer Fantasielosigkeit leiden.  Ein staatlich gelenkter Umbau der Wirtschaft, der sich an Dekarbonisierungszielen ausrichtet, ist mit schwerfälligen Behörden, die im Routinemodus erstarren, aber kaum zu machen.

Insgesamt halten alle genannten Optionen, die sich in ein großes Spektrum möglicher Politiken auffächern, bei der Grundentscheidung an einer Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und dessen ökologisch destruktiven Folgen fest. Das führt zu einem eigentümlichen Widerspruch. Einerseits muss sich nahezu alles rasch ändern, nur die Basisregel kapitalistischer Markwirtschaften, der Zwang zu unendlicher Akkumulation und fortwährendem raschen Wirtschaftswachstum, soll bestehen bleiben. Aus dem Finanz- wird ein „Naturkapitalismus“, 26 Weizsäcker, Ernst Ulrich von (2020): Eine spannende Reise zur Nachhaltigkeit. Naturkapitalismus und die neue Aufklärung, in: Görgen, Benjamin/Wendt, Björn (Hg.): Sozial­ökologische Utopien. Diesseits oder jenseits von Wachstum und Kapitalismus? München, S. 81–95. wobei die gleichen systemischen Mechanismen, die die Zangenkrise heraufbeschworen haben, auch zu ihrer Überwindung beitragen sollen. 

»Keine der skizzierten politischen Optionen kann für sich genommen den Weg in eine nachhaltige Gesellschaft bahnen. Es kommt auf die Mischungsverhältnisse an, die transformative Politiken beinhalten.«

Dass dieser „kapitalistische Realismus“  27 Mark Fisher bezeichnet damit eine Grundhaltung, den Untergang der Menschheit eher in Kauf zu nehmen als ein Ende des Kapitalismus anzustreben. Vgl. Fisher, Mark (2020): Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Hamburg.  letztendlich unrealistisch bleibt, wird von diversen Politikansätzen moniert, die bei der Grundentscheidung auf eine Befreiung der Gesellschaften von systemischen Akkumulations- und Wachstumszwängen setzen. Ich bezeichne diese oft noch wenig konturierten Strategien als Demokratisierungsoption. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie Klimaschutz und ökologische Nachhaltigkeit mit dem Übergang zu einem anderen, letztendlich postkapitalistischen Gesellschaftstyp verbinden. In freilich sehr unterschiedlicher Weise beziehen sie auch die Konfliktachse sozialer Nachhaltigkeit ein. Am Kapitalismus monieren sie neben dessen Krisenanfälligkeit vor allem, dass er nach dem Wall-Mart-Prinzip funktioniert. Was etwa mithilfe von höherer Energieeffizienz an Kapital eingespart wird, kann für die Ausdehnung des Geschäfts genutzt werden. Entsprechende Geschäftspraktiken erzeugen Rebound-Effekte, denn größerer Output und steigender Konsum stellen die ökologischen Erfolge effizienzbasierter Strategien früher oder später wieder infrage. Das vermeintlich grüne Wachstum bleibt letztendlich so „wenig nachhaltig wie bisher“. 28 Jackson, Tim (2011): Wohlstand ohne Wachstum. München, S. 129.

Demgegenüber zielen Demokratisierungsstrategien darauf, die Ökonomie der Kontrolle und Planung demokratischer Zivilgesellschaft zu überantworten. Favorisiert werden neue Formen eines kollektiven Selbsteigentums (Genossenschaften, Mitarbeitergesellschaften) und eine stärkere Gewichtung des Öffentlichen („Commons“), 29 Helfrich, Silke (2014): Commons. Für eine Neue Politik jenseits von Markt und Staat. Bielefeld. Ansätze demokratischer Rahmenplanung 30 Divine, Pat (2018): Planning for Freedom. In: Brie, Michael/Thomasberger, Claus (2018): Karl Polanyi’s Vision of a Socialist Transformation. Montréal.  sowie politische Innovationen etwa in Gestalt von Transformations- und Nachhaltigkeitsräten, die Öffentlichkeit hinsichtlich der Erreichung von Nachhaltigkeitszielen herstellen und so kontinuierlich Druck auf die Entscheidungsträger ausüben. 31 Dörre, Klaus 2021: Die Utopie des Sozialismus. Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution, Berlin, S. 140 ff., S. 165.   Die Demokratisierungsoption hat unterschiedliche Namen. Demokratische Postwachstumsgesellschaft, 32 Einen guten Überblick bieten: Schmelzer, Matthias/Vetter, Andrea (2019): Degrowth/Postwachstum zur Einführung. Hamburg. Gemeinwohlwirtschaft, 33 Bandt, Olaf 2020: Ökologisch-soziale Gemeinwirtschaft. Wege aus der Umweltkrise, in: spw 6/2020, 17–21.  und partizipativer oder ökologischer oder Sozialismus 34 Piketty, Thomas 2020: Kapital und Ideologie. München; Arruzza, Cinzia/Bhattacharya, Tithi/Fraser, Nancy 2019: Feminismus für die 99 %. Ein Manifest, Berlin.  lauten einige von ihnen. So unterschiedlich diese Ansätze im Detail auch sein mögen, sie alle eint die Prämisse, wonach eine Wende zur Nachhaltigkeit ohne grundlegende Veränderung etablierter Produktions- und Lebensweisen nicht zu bewerkstelligen ist. Einige dieser Ansätze zielen primär auf eine Veränderung des Konsumverhaltens. Andere setzen den Schwerpunkt bei Veränderungen der Produktionsweisen. Angestrebt wird die Herstellung langlebiger Güter mit nachhaltig bereitgestellten Dienstleistungen. Ließe sich eine ökologische Qualitätsproduktion realisieren, würde stofflich weniger, dafür aber höherwertiger konsumiert. Das wäre möglich, weil Nachhaltigkeitsziele nicht nur in die Preisbildung, sondern ebenso in die Planungs- und ökonomischen Anreizsysteme integriert sind. Kooperation, Gleichstellung und die Vermeidung ökologischer Belastungen würden ebenso belohnt wie der Aufbau weitgehend geschlossener Wirtschaftskreisläufe und nachhaltiger Mobilitätssysteme. Dazu würde eine technologisch mögliche Reorganisation der Arbeitsprozesse beitragen, die ermöglichte, was sich Thomas Morus bereits für seine Insel Utopia gewünscht hatte: eine kurze Vollzeiterwerbsarbeit für alle, die große Freiräume für die Ausübung anderer Tätigkeiten schafft. 35 Morus, Thomas (1980 [1516]): Utopia. Stuttgart, S. 28 f.

Schlussbemerkung

Alle Demokratisierungsstrategien zeichnen sich durch etwas aus, was dem „kapitalistischen Realismus“ fehlt – der Mut, über scheinbar unveränderbare Systemgrenzen hinauszublicken, um die Zukunft mit utopischem Überschuss und positiven Visionen anzugehen. Auch diese Strategien sehen sich indes mit einem strukturellen Widerspruch konfrontiert. Erfordern sie doch in der einen oder anderen Weise eine radikale Überwindung bestehender Machtverhältnisse. Weil das, wie Adam Tooze betont, schon wegen der Corona-Pandemie und ihrer sozialen Folgen derzeit völlig unwahrscheinlich erscheint  36 Tooze, Adam (2021):   und die Zeitpolster für Veränderungen schrumpfen, kommen auch Demokratisierungsstrategien nicht umhin, Einfluss auf das derzeit dominante Krisenmanagement zu nehmen. 

Um es klar zu sagen: Gleich ob systemtransformierend oder nicht, keine der skizzierten politischen Optionen kann für sich genommen den Weg in eine nachhaltige Gesellschaft bahnen. Es kommt auf die Mischungsverhältnisse an, die transformative Politiken beinhalten. Bei der Erprobung solcher Strategien ist angesichts einer ungewissen Zukunft Experimentierfreudigkeit dringend geboten. Naomi Klein hat das Grundprinzip radikaler Realpolitik treffend auf den Punkt gebracht. Einerseits hegt sie keinen Zweifel, dass „der Kapitalismus, nicht die ‚menschliche Natur‘“ uns „die historische Chance im Kampf gegen den Klimawandel verbaut“ 37 Klein, Naomi (2019): Warum nur ein Green New Deal unseren Planeten retten kann, Hamburg. S. 273. . Andererseits vermeidet sie abstrakte Debatten über die Unmöglichkeit systemkonformer Nachhaltigkeit. Im Sinne eines radikalen Pragmatismus plädiert sie eindringlich dafür, den Kapitalismus und seine Eliten immer wieder auf die Probe zu stellen. Dazu gehört, genau zu inspizieren, was sich hinter den diversen politischen Angeboten eines Green New Deal genau verbirgt. 

In Deutschland, Europa und auch weltweit mangelt es nicht an Konzeptionen, die versprechen, soziale mit ökologischer Nachhaltigkeit in Einklang zu bringen. Einige ambitioniertere Entwürfe weisen große Schnittmengen auf. Nachhaltige Verkehrs- und Energiewende, Sicherheitsgarantieren für Beschäftigte aus den Karbonbranchen, Umverteilung mittels gerechter Steuerpolitik, Aufwertung von Sorgearbeit, Arbeitszeitverkürzung, eine armutsfeste Grundsicherung, Bekämpfung prekärer Beschäftigung sowie ein neuer Multilateralismus, der Aufrüstung und Kriege vermeidet, indem er einer gerechten Weltwirtschaftsordnung zum Durchbruch verhilft, gehören zum Standardrepertoire solcher Programmatiken. Sie alle beanspruchen, die längst im Gange befindliche große gesellschaftliche Transformation als Sprungbrett für den Übergang zu besseren, weil nachhaltigen Gesellschaften zu nutzen. Ob dergleichen gelingen kann, ist ungewiss. Gegenwärtig besitzen autoritäre Antworten auf die Zangenkrise einen beträchtlichen Realitätsgehalt. Die Chancen von Gegenentwürfen werden wesentlich davon abhängen, ob es gelingt, Konflikte um die sozial-ökologische Transformation innerhalb eines demokratischen Rahmens und einer halbwegs zivilen Staatengemeinschaft auszutragen. Auf der Mikroebene findet sich beides. Wir beobachten die Verselbständigung von ökologischer und sozialer Konfliktachse in den Braunkohlerevieren wie der Lausitz samt entsprechender Lagerbildungen. Wir sehen aber auch, wie Klimabewegungen und Gewerkschaften in Tarifrunden etwa des Öffentlichen Personennahverkehrs zusammenarbeiten, die von beiden Seiten bewusst als Beitrag zum Klimaschutz verstanden werden. 38 Kaiser, Julia (2020): #Wir fahren zusammen. Die Allianz von Fridays for Future und ver.di im Bereich Nahverkehr als Exempel ökologischer Klassenpolitik, in: Dörre, Klaus/Holzschuh, Madeleine/Köster, Jakob/Sittel, Johanna (Hg.) (2020): Abschied von Kohle und Auto? Sozial­ökologische Transformationskonflikte um Energie und Mobilität. Frankfurt a.M., S. 267–283.  Immerhin gibt es also zarte Pflänzchen für neue Allianzen, die Hoffnung machen können. Mehr und Besseres lässt sich zum Stand der sozial-ökologischen Transformation derzeit wohl nicht sagen. Der Zangengriff von Ökonomie und Ökologie dürfte daher künftig noch an Stärke gewinnen. Damit wird der Krisenmodus noch nicht zur normalen „Integrationsform“ einer nächsten Gesellschaft. Nur Krisenrobustheit ist zukunftsträchtig. Deshalb werden nicht Märkte, sondern nachhaltige Solidarität und Kooperation die wichtigsten Triebkräfte des Neuen sein. Je rascher sich diese Einsicht verbreitet, desto größer ist die Chance, dass die kommende Gesellschaft eine bessere sein wird.

Dieser Beitrag erschien in kürzerer Fassung bei Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 3-4/2022) CC BY-NC-ND 3.0 DE.