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Warum Europa in der Klimapolitik nicht dem Third Way folgen sollte

Mit ihrer technischen Antwort auf den Klimawandel steuern die Europäische Union und Deutschland auf fiskalische und soziale Verwerfungen zu. Eine erfolgreiche Dekarbonisierung erfordert einen gesamtwirtschaftlichen Ansatz, der technische Maßnahmen zur Emissionsminderung mit guten und hoch bezahlten Arbeitsplätzen sowie finanzieller Sicherheit verbindet.

Die Klimapolitik ist am Scheideweg angelangt. Weltweit führende Wissenschaftler:innen sehen ein sich schnell schließendes Zeitfenster, um die schlimmsten Folgen der globalen Erwärmung zu verhindern. Mit der Verabschiedung des Inflation Reduction Act (IRA) im vergangenen Jahr haben die Vereinigten Staaten nun endlich wirksame nationale Maßnahmen zur Emissionsreduzierung ergriffen. Europa bemüht sich gerade um eine angemessene Reaktion.

Klimapolitik wird in der EU – und insbesondere in Deutschland, ihrem größten Mitgliedstaat – weiterhin vor allem als technisches Problem behandelt. Der Fit-for-55-Plan der Europäischen Kommission beispielsweise zerlegt das Problem in Teilprobleme, indem er Ziele für einzelne Sektoren festlegt und bestimmt, wie viel die verschiedenen Lösungen für sich genommen an CO₂-Reduktion erreichen können. Die sich abzeichnende Reaktion auf den IRA beschleunigt diesen Ansatz mit schnelleren Planungsverfahren und mehr Spielraum für Industriesubventionen, ändert ihn aber nicht.

Dieses technische Paradigma ist nicht blind für soziale Belange. Um die Akzeptanz der CO₂-Preise zu erhöhen, soll es eine CO₂-Dividende geben. Für die Bekämpfung der Energiearmut soll eine bedürftigkeitsabhängige Geldleistung eingeführt werden. Und um die Ängste vor Arbeitslosigkeit in der fossilen Brennstoffindustrie zu zerstreuen, sollen Ausbildungsprogramme für umweltfreundliche Berufe angeboten werden. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Ein Dritter Weg 2.0?

Diese Maßnahmen schließen zwar eine wichtige Lücke, klingen aber ganz gespenstisch nach dem sogenannten Dritten Weg („Third Way“), der in den 1990er und frühen 2000er Jahren vor allem in Großbritannien propagiert wurde. Damals wurde den Wähler:innen gesagt, sie müssten sich keine Sorgen machen, wenn ihre Arbeitsplätze durch Automatisierung und Globalisierung verloren gehen. Neue und bessere Möglichkeiten stünden am Horizont. Die Arbeitnehmer:innen könnten sich für Umschulungsprogramme anmelden und die Sozialhilfe würde sie unterstützen, bis sie gefragte Qualifikationen erworben hätten.

Philippa Sigl-Glöckner

Philippa Sigl-Glöckner ist Ökonomin und Gründerin des Think Tanks Dezernat Zukunft, der sich auf Geld-, Finanz-, und Wirtschaftspolitik fokussiert. Zuvor war sie u. a. im Bundesfinanzministerium, als Beraterin des liberianischen Finanzministers und bei der Weltbank tätig. Ihr aktueller Arbeitsschwerpunkt liegt auf der deutschen Fiskalpolitik, den europäische Fiskalregeln und der Finanzierung der Dekarbonisierung.

Das Ende der Geschichte ist bekannt. Es hat sich gezeigt, dass durchaus gut bezahlte Arbeitsplätze verschwinden und durch schlecht bezahlte, prekäre Jobs ersetzt werden können. In vielen Industrienationen erlebten ganze Regionen einen lang anhaltenden Niedergang. Viele Arbeitnehmer:innen haben diese Entwicklung miterlebt und entsprechend gewählt.

Die Klimapolitik darf nicht in dieselbe Falle tappen. Die Dekarbonisierung wird, wie zuvor die Globalisierung und die Automatisierung, nicht automatisch allen zugutekommen. Langfristig gibt es gewiss keinen Widerspruch zwischen Wohlstand und Klimaschutz; ein gesunder Planet ist die Grundlage zukünftigen Wohlstands. Aber in der Übergangszeit wird die Abkehr von fossilen Brennstoffen zu höheren Kosten und wirtschaftlicher Instabilität führen, sei es durch höhere Energiepreise, vorübergehende Engpässe in Lieferketten, veränderte Handelsstrukturen oder finanzielle Instabilität.

Gesamtwirtschaftlicher Ansatz

Nur ein grundlegendes Umdenken kann einen Dritten Weg 2.0 abwenden. Die Dekarbonisierung muss mit guten Arbeitsplätzen, hohen Löhnen und wirtschaftlicher Sicherheit einhergehen, und keine Region darf zurückgelassen werden. Damit wird sie zur gesamtwirtschaftlichen Herausforderung. Es geht in den nächsten Jahren nicht nur darum, wie wir bestimmte Produktionsverfahren umstellen oder am geschicktesten Gebäude sanieren. Es geht auch darum, wie wir den Übergang so organisieren, dass möglichst viele Menschen eine gute Beschäftigung haben. Das erfordert die Verknüpfung der Klimapolitik mit einer breiteren Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die ausschließliche Konzentration auf die Emissionsminderung geht am Kern der Sache vorbei. Mit anderen Worten: Sinnvolle Klimaschutzmaßnahmen erfordern eine „all-of-economy“-Strategie. 

So sind zum Beispiel Investitionen in Bildung essenziell, um so vielen Menschen wie möglich die Chance auf eine qualifizierte Arbeit mit gutem Lohn zu geben. Ebenso wird eine Verbesserung der Löhne und Arbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst – die in Deutschland im Vergleich zu anderen EU-Ländern relativ schlecht sind – die Standards auf dem Arbeitsmarkt verbessern. Eine Wiederbelebung der Regionalpolitik, aufbauend auf EU-Programmen wie dem sozialen Klimafonds oder dem älteren Kohäsionsfonds, könnte notwendig sein, um sicherzustellen, dass der Wohlstand gleichmäßig innerhalb und zwischen den Ländern verteilt wird.

Ein gesamtwirtschaftlicher Ansatz mag unnötig komplex erscheinen. Es gibt aber keine Abkürzung. Um die Klimakrise aufzuhalten, sind große Veränderungen im menschlichen Verhalten und in unserer Wirtschaft erforderlich. Wenn diese Erfordernisse mit weit verbreiteter Verunsicherung kollidieren, könnten sowohl die Menschen als auch die Regierungen schnell überfordert sein. Dies wurde während der Energie- und Inflationskrise im letzten Jahr deutlich. Selbst in Deutschland hatten 40 % der Bevölkerung keine nennenswerten Ersparnisse, auf die sie zurückgreifen konnten. Als die Energie- und Lebensmittelpreise in die Höhe schossen und die Inflation das 3- bis 4-fache ihres normalen Niveaus erreichte, hatte die deutsche Regierung, wie auch andere in Europa, keine andere Wahl, als massive fiskalische Unterstützung zu leisten.

Man muss keine Anhängerin der Spardoktrin sein, um anzuerkennen, dass es nicht nachhaltig ist, jedes Mal Unterstützungspakete dieser Größenordnung zu schnüren, sobald der Transformationsweg holprig wird. Präventive Maßnahmen zu ergreifen, wäre effizienter als sich auf Rettungspakete zu verlassen. Der Abbau wirtschaftlicher Ängste und Sorgen würde auch dazu beitragen, Mehrheiten für einen wirtschaftlichen Umbau zu schaffen, der ausreichend schnell ist, um die Klimaziele einzuhalten.

Knackpunkt Fiskalpolitik

Das Erreichen von dauerhafter Vollbeschäftigung, guten Löhnen auch am unteren Ende der Einkommensverteilung und damit wirtschaftlicher Sicherheit erfordert einen neuen fiskalpolitischen Ansatz. Dabei sind kurzfristige Ausgaben nicht das zentrale Problem: Die Haushaltsregeln der EU haben ihre Flexibilität in jüngsten Notfällen bewiesen. Um aber präventiv handeln zu können, müsste auf europäischer Ebene die wenig hilfreiche Obsession mit Schuldenquoten überwunden werden. Stattdessen sollten sich die politischen Entscheidungsträger:innen auf relevantere makroökonomische Indikatoren wie den primären Haushaltssaldo (das Haushaltssaldo exklusive Zinszahlungen) sowie aussagekräftigere Indikatoren für den langfristigen Wohlstand konzentrieren. Ein Beispiel dafür wäre das Verhältnis von Schulden zur „net zero-readiness“ des Kapitalstocks.

Dezernat Zukunft

Das Dezernat Zukunft ist ein überparteiliches Institut mit dem Ziel, Geld-, Finanz- und Wirtschaftspolitik verständlich zu erklären, einzuordnen und neu zu denken. Bei dieser Arbeit ist es geleitet von seinen Kernwerten Demokratie, Menschenwürde und breit verteilter Wohlstand.

In Deutschland, wo die Schuldenbremse verfassungsrechtlich verankert ist, sollte von einer weitgehend rückwärtsgewandten Berechnung des Produktionspotenzials abgerückt werden. Mittelfristig höhere kommunale Investitionen erfordern geeignete Finanzierungsinstrumente. Das Ziel muss es also sein, die fiskalischen Regeln und Strukturen von der europäischen bis zur kommunalen Ebene zu reformieren und damit eine angemessene strukturelle Haushaltsausstattung für das nächste Jahrzehnt sicherzustellen.

Doch einfach mehr Geld in das System zu pumpen, kann keine Lösung sein, wenn es nicht zu einer Rückkehr zur säkularen Stagnation wie vor der COVID-Krise kommen soll. Stattdessen muss neben der Verbesserung der Planungsprozesse zur Beschleunigung der angebotsseitigen Anpassung auch das Steuersystem überarbeitet werden, um die Subventionen für fossile Brennstoffe schrittweise abzubauen und einen etwaigen Nachfrageüberhang zu bewältigen, der sich aus einem gesamtwirtschaftlichen Ansatz ergibt.

Die Bekämpfung der Klimakrise erfordert mehr als eine beschleunigte Dekarbonisierung und die Entwicklung grüner Technologien. Er erfordert die Verknüpfung der Klimapolitik mit einem umfassenderen politischen Werkzeugkasten, der die wirtschaftliche Sicherheit verbessert. Nach der Pandemie und mehr als einem Jahrzehnt schwachen Wachstums sind immer noch zu viele Menschen wirtschaftlich gefährdet. Überall brauchen die Menschen gute Arbeitsplätze, höhere Einkommen und die Möglichkeit, Schocks mit ihren eigenen Ersparnissen abzufedern – zumindest als erste Verteidigungslinie. Klimaaktivist:innen, die gemeinsam mit Gewerkschaften demonstrieren, wissen das. Auch US-Präsident Joe Biden weiß es. Er machte mit der Aussage „Wenn ich an Klima denke, denke ich an Arbeitsplätze“ Schlagzeilen. Es ist höchste Zeit, dass die EU diesem Beispiel folgt.