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Care-Arbeit darf nicht länger ignoriert werden

Wer Kinder erzieht oder die Oma pflegt, der bekommt kein Geld und dessen Arbeit wird im gängigen Wirtschaftsverständnis auch nicht berücksichtigt. Dieser blinde Fleck muss überwunden werden, sagt der Ökonom Hans Rusinek und fordert ein Umdenken nicht nur in der Wissenschaft.

Stellen Sie sich vor, wir hätten bei allen Analysen zur wirtschaftlichen Lage einfach vergessen, den größten Sektor mit einzuberechnen! Und stellen Sie sich dann noch vor, die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen in Deutschland läge gar nicht bei 18 Prozent, was ohnehin vorletzter EU-Platz ist, sondern – wenn wir den vergessenen Sektor mitdenken – bei mehr als 45 Prozent!

Dieser blinde Fleck ist die so genannte Care-Arbeit. Sie umfasst alle Tätigkeiten des Sorgens und Kümmerns: das Pflegen von Alten, das Erziehen von Kindern, die Nachbarschaftshilfe, die emotionale Betreuung der Freundin, die gefeuert wurde. Dass wir uns kümmern, macht uns vielleicht erst zu Menschen, macht definitiv die Ökonomie erst zu jener gut geölten Maschine. Man könnte sogar wie die Theologin Ina Praetorius sagen, dass Wirtschaften im eigentlichen Sinne Care ist.

Schlecht oder gar nicht bezahlt

Unser gängiges Wirtschaftsverständnis ist aber ein anderes. In einer dreifachen Ironie spielt Care-Arbeit dort nur eine höchst randständige Rolle, teilt sich auf in un- und unterbezahlte Arbeit, und wird überwiegend von Frauen geleistet. Würde Care vollständig bezahlt, wäre Fürsorgearbeit in der Schweiz mit 360 Milliarden Euro der größte Wirtschaftsbereich, noch vor Banken und Pharmaindustrie, wie das dortige Bundesamt für Statistik angibt.

In einer ähnlichen Logik wie bei der Umwelt werden aber die Kosten von Care nicht beachtet und eben meist auch nicht in Rechnung gestellt. Care und Umwelt sind die zwei Systeme, die wir für Regeneration haben. Unser Wirtschaften ist auf beide angewiesen – und beutet beide aus.

Wirtschaftswissenschaft ignoriert Care-Arbeit

Sechs Jahre kann man Wirtschaft studiert und dann noch einmal so lange für Konzerne gearbeitet haben, so wie ich, ohne jemals von Care-Arbeit gehört zu haben. Unser Wirtschaftsbegriff ist hiermit – Achtung, schwieriges aber schönes Wort – kryptonormativ: Das heißt, er zeigt uns bestimmte Dinge, die als normal gelten sollen, wie globale Lieferketten für Erdbeeren, und versteckt andere, wie die Erziehungsarbeit von Frauen, die wir dann mit dem Thema Ökonomie gar nicht mehr in Verbindung bringen.

So spielt Care-Arbeit dann auch in der Wirtschaftswissenschaft kaum eine Rolle. Die wenigen, die dazu forschen, wie sich Fürsorgearbeit in ökonomische Prognosen und Modelle integrieren lässt, sodass unser Wirtschaftsverständnis diesen riesigen blinden Fleck überwindet, müssen dies meist fernab universitärer Belohnungssysteme machen.

Hans Rusinek

Hans promoviert in St. Gallen zur Sinnsuche in der modernen Arbeitswelt und ist Kursleiter an der Fresenius University. Neben der Forschung ist er als Purpose-Berater im Bereich Zukunft der Arbeit tätig. Außerdem engagiert er sich als Fellow im ThinkTank30 des Club of Rome Deutschland und schreibt gelegentlich Debattenbeiträge zur Arbeitswelt etwa in BrandEins, Capital oder Personalmagazin.

Neues Wirtschaftsverständnis muss Teil des Unterrichts sein

Ein neues Wirtschaftsverständnis hängt aber auch von einem besseren Unterricht an Schulen und Unis ab: Studien belegen, dass Ungleichheit für Schüler und Studentinnen die wichtigste wirtschaftliche Frage ist, und die gegenwärtige Lage der Care-Arbeit ist eine zentrale Ungerechtigkeitsmaschine, wie die Ökonomin Mascha Madörin sagt.

Doch ökonomische Lehrbücher behandeln das Thema Ungleichheit meist nur im Anhang, wie der britische „Economist“ untersuchte. Stattdessen findet man geschlechtsspezifische Verzerrungen: Da wird Bierkonsum oder Automobilproduktion berechnet, statt Beispiele zu Pflege oder Umwelt zu betrachten. Das führt dazu, dass gerade für marginalisierte Gruppen Wirtschaft früh als ein langweiliges Fach heraussticht, und dass das Thema Ungleichheit Themen wie Wachstum, Innovation und Effizienz weichen muss.

Aber es gibt Hoffnung: Am New Yorker Hamilton College wurden überarbeitete Kurse getestet, die das breite Spektrum an sozialen Themen mit abdeckten, für das die Ökonomik eben auch Antworten finden kann. Plötzlich machten die Noten der weiblichen Studierenden einen Sprung nach oben. Die Schülerin Carina Krusell freute sich, dass sie etwa eine Methodik lernte, die die Diskriminierung von Menschen mit afroamerikanisch klingenden Namen ökonomisch untersuchte: „Oh, das ist ja auch Wirtschaft“, lautete ihr überraschtes Fazit.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Dlf Kultur.