Eine komplexe Welt braucht komplexes Denken
Wir benötigen technologische Innovationen, aber auch jemanden, der uns die heutigen Krisen erklärt. Warum wir in Zukunft keine Natur- und Geisteswissenschaftler mehr brauchen, sondern beides in einem, darüber denkt der Autor Hans Rusinek nach.
Was haben wir nur geschwärmt von MINT-Fächern: Die Unis werden finanziert, von wem? Ist doch egal. Die Kinder lernen was Praktisches. Wofür? Ist doch egal. Die Gesellschaft wird effizient und lösungsorientiert. Alles andere ist doch: egal. Und ist nicht am Ende alles ein Technologieproblem, für das es dann auch eine technologische Lösung gibt?
Was haben wir nur gelästert über Geistes- und Sozialwissenschaften! Eine genderkritische Betrachtung mexikanischer Zeichentrickserien der späten 70er-Jahre: brotlose Künstler:innen, promovierte Taxifahrer!
Also: Weg damit!
Sozial- und Geisteswissenschaftler bleiben unter sich
Und jetzt können wir mit nutzenmaximierter Effizienz die Ernte einfahren: In der Politik wird gesagt, was bisher zurecht als unsagbar galt, oder versucht, gesellschaftliche Probleme wie den Klimawandel als Expertensache wegzudefinieren.
In der Wirtschaft wird festgestellt, dass all die technologischen Innovationen ganz schön viele soziale Krisen auslösen. Und die Gesellschaft, sofern sie diesen Namen überhaupt noch verdient, zerbröselt in spezialisierte und isolierte Subgruppen. Nebenbei macht uns die Arbeit immer mehr krank, weil effizienzmaximiert eben nicht sinnmaximiert ist.
Zu all dem hätten Sozial- und Geisteswissenschaftler etwas zu sagen, mehr denn je: Techniksoziolog:innen, Anthropologen, Sprachwissenschaftler:innen, politische Philosophen. Stattdessen sind sie so furchtbar unter sich.
Dabei wirft der Philosoph Slavoj Zizek ein, dass wir uns gerade heute doch im Zeitalter der Philosophie befänden, denn überall im täglichen Leben werden wir mit philosophischen Problemen konfrontiert. Kritisches Denken ist notwendiger denn je, aber stattdessen üben wir nur hinnehmendes Denken.
Hans Rusinek
Unsinnige Trennung der Wissenswelten
Natürlich sollen Geisteswissenschaftler nicht Naturwissenschaftler ersetzen. Wichtig für die Zukunft ist, die falsche Dichotomie, die unsinnige Trennung der beiden Wissenswelten aufzuheben.
Mit der gegenseitigen Exotisierung muss Schluss sein! Die einen sind nicht menschenscheue Geeks, die anderen haben auch etwas zu den wirklichen Problemen zu sagen. Wenn sich die einen aber nur hochspezialisierte Gedanken über Technik machen und die anderen nur über die Heidegger-Rezeption von Jupp Schmitz … tja, dann bleiben wir da festgenagelt, wo wir gerade sind.
Woher kommt eigentlich das absurde Tabu, dass man nicht ein bisschen von beidem sein kann, dass die beiden Welten nicht komplementär sind? Wir brauchen jetzt philosophisch informierte Techniker:innen und technisch informierte Philosoph:innen.
Unsere Welt braucht Flexibilität, Neugierde und Kreativität
In „FastCompany“, der Hauspostille des Silicon Valley, schreibt Georgia Nugent, dass es eine „schreckliche Ironie ist, dass wir genau in dem Moment, in dem die Welt immer komplexer wird, junge Menschen dazu ermutigen, enorm spezialisiert zu sein.“
Während Technologie zu einer immer einfacher zu bedienenden Toolbox wird, läge der wahre Vorteil doch in der Kombination mit Geistes- und Sozialwissenschaften. Deren Flexibilität, Neugierde und Kreativität sind überlebenswichtig in einer Welt, in der die Kinder von heute etwa bis 2080 arbeiten müssen und 65 Prozent der heutigen Schulkinder in Jobs arbeiten werden, die noch gar nicht erfunden sind.
Der amerikanische Tech-Investor Scott Hartley fügt in seinem brillanten Buch „Fuzzy vs. Techie“ hinzu, dass die Relevanz der Sozialwissenschaften vor allem aber in deren Kerngeschäft liegt: in der Erforschung der Natur des Menschen, unserer Gemeinschaften und größeren Gesellschaften.
Know-how trifft auf Know-why
Klar, das muss mit technologischer Expertise verbunden werden und – Obacht! – das geht! Hartley nennt moderne Studienfächer wie Cognitive Science (bestehend aus Psychologie, Linguistik und Neurowissenschaften), Urban Policy (eine Mischung aus Soziologie und Bauingenieurwesen) oder das sehr beliebte Stanford-Programm Symbolic Systems (eine Mischung aus Philosophie, IT und Linguistik).
Das ist keine Mode, es ist Rückbesinnung. Bereits in der Antike zählten immer auch Mathe und Physik zu den Sieben Freien Künsten. Die Grundannahme dieser Liberal Arts war, dass das Finden unserer Stärken nur mit einem breiten Fächer von Denkweisen und Denkstilen erfolgen kann.
Damit machen wir uns nicht nur fit für jede Art von Zukunft, sondern finden ganz nebenbei auch unseren individuellen Sinn in der Arbeit.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf DLF Kultur.