Porträtfoto Daniel Marwecki: © Nassim Rad

Daniel Marwecki: „Der Abstieg der einen ist der Aufstieg der anderen.“

In seinem neuen Buch »Die Welt nach dem Westen« beschreibt Daniel Marwecki den Zerfall der liberalen Weltordnung und die Entstehung einer multipolaren Welt. Im Interview mit Julia Werthmann erklärt er, warum die Untergangsstimmung im Westen trügt, weshalb Gaza und die Ukraine zu Brenngläsern globaler Machtverschiebungen werden und warum westliche Erzählungen weltweit an Überzeugungskraft verlieren.

Herr Marwecki, Politik und Medien reden hierzulande ununterbrochen von krisenhaften Zeiten, sozialwissenschaftliche Bestseller drehen sich um das Gefühl des Verlusts. Wieso herrscht solch eine Untergangsstimmung? 

Die diskursive Stimmung spiegelt die westlichen Wohlstandsverluste wider. Günstige Energiequellen fallen weg und der chinesische Absatzmarkt wird zur Konkurrenz. Was im deutschen Diskurs außen vorgelassen wird: Der Abstieg der einen ist der Aufstieg der anderen, allen voran Asiens. Nicht, weil die Welt grundsätzlich ein Nullsummenspiel ist, aber weil wir in einem System leben, das so funktioniert. Der Westen muss sich nun an eine neu strukturierte Welt anpassen, in der er nicht mehr so dominant ist wie vorher. Was das für die einzelnen Menschen in den westlichen Staaten bedeutet, hängt von der Politik ab. Schließlich muss aus dem relativen Abstieg im globalen Gefüge nicht zwangsläufig ein absoluter Abstieg der Gesellschaft folgen.

Sie lehren auch in Asien. Ist die Stimmung dort anders?

In China herrscht grundsätzlich eine Aufstiegsstimmung. Natürlich kommt es immer darauf an, wen man fragt. Viele meiner Studierenden sind Kinder der Shanghaier oberen Mittelschicht mit drei iPhones, sie haben nichts zu beklagen. Den chinesischen Fabrikarbeitern hingegen geht es weniger gut. Und in Hong Kong, wo ich lehre, kommen natürlich noch die Nachwirkungen der Proteste von 2019 dazu. Aber grundsätzlich lässt sich sagen: In den aufstrebenden asiatischen Gesellschaften herrscht eine Stimmung, die auch jene erfasst, die nicht unmittelbar am Reichtum teilhaben. Man denkt sich: Durch Leistung steige ich auf und meine Kinder werden ein besseres Leben haben. Eben dieses Aufstiegsversprechen ist etwa in Deutschland erloschen. Das macht den Unterschied.

Ihr Buch beschreibt einen Umbruch der globalen Ordnung. Wie lässt sich beschreiben, was hier gerade untergeht?

Freundlich formuliert ist es die sogenannte regelbasierte liberale Weltordnung. Das Problem an diesem Begriff ist, dass die Regeln für die Mächtigen nie gegolten haben – und dass die Ordnung auch nicht so liberal war, wie sie behauptete. Immerhin haben liberale Demokratien problemlos mit illiberalen Mächten kooperiert. An eben diesen Widersprüchen zerbricht die Ordnung gerade. Da ist erstens das gebrochene Entwicklungsversprechen: Man versprach den nicht-westlichen Ländern denselben Wohlstand – was sich für die meisten nicht einlöste. Zweitens wurde das Friedensversprechen gebrochen, wie wir aktuell an Gaza und in der Ukraine sehen. Zwar sind diese Widersprüche des Liberalismus nicht neu, aber sie erlangen gegenwärtig neue Geltung. Denn: Nicht-westliche Akteure formulieren selber Weltordnungsansprüche. Zuvorderst China, aber auch Indien und andere BRICS-Staaten. Deshalb gilt für den Westen und seine liberale Erzählung jetzt: Nimmt seine Dominanz ab, kann er sich die Widersprüche nicht mehr leisten.

Daniel Marwecki

Daniel Marwecki wurde 1987 in Bremen geboren und ist Politikwissenschaftler. Er lehrt Internationale Beziehungen an der University of Hong Kong. Sein Buch »Die Welt nach dem Westen. Über die Neuordnung der Macht im 21. Jahrhundert« erschien Oktober 2025 im Aufbau-Verlag. Er schreibt u.a. für Le Monde Diplomatique, taz, Unherd, Jacobin, Berlin Review of Books. Bild: Nassim Rad

Wie konnte der Westen überhaupt solch eine Dominanz erlangen?

Durch den industriellen Kapitalismus. Großbritannien machte es vor, gefolgt vom Rest Westeuropas. Das Beispiel Deutschland zeigt, was die Erfolgskriterien in diesem Modell sind: Zunächst Protektionismus und der Aufbau einer eigenen Industrie – dann die Öffnung hin zum Weltmarkt. Dahinter steht nicht einfach die Geschichte genialer Aufklärungsideen, und auch nicht nur pure Waffengewalt. Sondern die Strukturgeschichte der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die auf die gesamte Welt ausgreift.

Westeuropa und die USA haben diesen Weg beschritten. War es dem Rest der Welt möglich, dieses Entwicklungsmodell zu wiederholen?

Das versprach der Westen jedenfalls, indem er behauptete: Ihr werdet auch aufsteigen, wenn ihr den Vorgaben der Weltbank, der Welthandelsorganisation und des Internationalen Währungsfonds folgt. Das bedeutete: Handelsschranken abbauen, den Staat kleinmachen und dem Markt freien Lauf lassen. Für viele Länder hat das nicht funktioniert. Mehr Erfolg hatten diejenigen, die sich das deutsche oder amerikanische Modell des 19. Jahrhunderts aneigneten: Ein starker Staat, Industrialisierung und aktive Industriepolitik, zu der auch protektionistische Zölle gehörten. Das waren Südkorea, Taiwan, oder heute natürlich China. Allerdings konnten diesen Weg nicht alle beschreiten. Erstens, weil die Industrieländer für ihre Akkumulation und Rohstoffe nicht-industrialisierte Länder benötigen. Zweitens konnten nicht alle den Protektionismus durchhalten. Den ostasiatischen Aufsteigern erlaubte dies ihre US-Bindung im Kalten Krieg nicht und für viele lateinamerikanische Länder war es aus demselben Grund ebenfalls nicht möglich. Drittens verbietet heute der Klimawandel, dass alle dasselbe industrielle Entwicklungsmodell wiederholen.

Nur manchen wurde also gewährt, das westliche Modell zu wiederholen …

Genau, der deutsche Nationalökonom Friedrich Liszt hat das mit folgender Metapher beschrieben: die Leiter wegstoßen. Wenn ich mich industrialisiere und dann Freihandel predige, erhalte ich meine Dominanz. Ich versperre anderen den Entwicklungsweg, den ich beschritten habe.

Alle sind sich einig, dass die westliche Weltordnung ins Wanken gerät. Uneins ist man sich jedoch darüber, wie die Veränderung zu beschreiben ist. Manche reden vom neuen Hegemon China, der die USA ablöst, andere betrachten die Rivalität zwischen China und den USA als neuen Kalten Krieg, wiederum andere sprechen von einer Multipolarität wie vor dem Ersten Weltkrieg. Wie lässt sich die Gegenwart ihrer Meinung nach beschreiben – welche historischen Vergleiche sind passend, welche irreführend?

Wir haben keine andere Wahl als auf die Geschichte – Erster Weltkrieg, Kalter Krieg, US-Dominanz – zurückzugreifen, um das Neue zu beschreiben. Das Problem ist nur, dass wir dann schnell das Neue übersehen: und zwar den Wiederaufstieg Asiens. Lassen Sie uns die Vergleichsfolien im Einzelnen betrachten. China wird nicht der eine neue Hegemon sein, weil die USA und auch andere Länder zu stark sind. Außerdem fehlt China die universelle Zivilisierungsmission, es hat kaum soft power. Für die Bipolarität spricht bereits mehr: Wir sehen ein Wettrüsten zwischen den Großmächten mit den USA und China als entscheidende Akteure. Allerdings besteht zwischen den beiden weder eine echte ideologische Konkurrenz – beide Länder sind kapitalistisch –, noch steht der NATO ein geeinter Block gegenüber. Russland und Indien haben kein Interesse, sich China unterzuordnen.

Also am ehesten Multipolarität?

Ich sehe die Entstehung einer multipolaren Welt mit zwei starken Polen: China und den USA. Allerdings unterscheidet sich die Multipolarität von der am Vorabend des Ersten Weltkriegs, weil der Aufstieg Asiens neu ist und weil diese Multipolarität wirklich global ist. Vor dem Ersten Weltkrieg konkurrierten die europäischen Großmächte, was schlussendlich zum Krieg führte. Für den Rest der Welt war der Erste Weltkrieg allerdings ein europäischer Bürgerkrieg, in den sie mit reingezogen wurden. Das zeigt aber auch: In solchen Phasen der Machttransition steigt die Kriegsgefahr. Der Erste Weltkrieg hing auch mit dem Aufstieg Deutschlands und dem relativen Abstieg Großbritanniens zusammen. Auch der heutige Umbruch birgt diese Gefahr.

Wovon hängt ab, ob die multipolare Konstellation kriegerisch ausgetragen wird – oder ob sie ihre Möglichkeit einer gerechteren Globalordnung verwirklicht? 

Einerseits vom politischen Personal der mächtigsten Staaten. Andererseits finde ich aber auch, dass es auf politischen Druck und Organisierung ankommt. Es ist eine dringliche Aufgabe, den relativen Abstieg des Westens möglichst würdevoll zu gestalten. Im Endeffekt ist Multipolarität auch, was man daraus macht. 

Wie steht die Multipolarität zur viel wiederholten Erzählung, die Demokratie müsse sich derzeit global gegen den autoritären Vormarsch wehren?

Einerseits stimmt das. Wir haben es mit dem Erstarken einer globalen Rechten zu tun, die wohlgemerkt nicht nur westlich ist. Die AfD würde sich wunderbar mit dem indischen Premierminister Narendra Modi verstehen und Alice Weidel geht in China viral, wobei das eher auf ihre Mandarin-Kenntnisse und Chinaerfahrung zurückzuführen ist. Gleichzeitig ist dieses Narrativ von einer »Achse der Autokraten« fragwürdig: Hier der schon immer gut gewesene Westen, dort die Barbaren. Dieser Topos ist höchst widersprüchlich, schon weil der Westen mit zahlreichen Autokratien zusammengearbeitet hat, sofern es seinen Interessen diente – das beweisen die Demokratien, die die USA im Kalten Krieg zugunsten von pro-westlichen Militärdiktaturen stürzte. Kurzum: Global gesehen erhellt diese Erzählung durchaus einige gegenwärtige Entwicklungen, aber im Westen untermauert sie auch einen doppelzüngigen Herrschaftsanspruch. 

In Ihrem Buch verstehen sie Gaza und den Ukrainekrieg als Brenngläser des Umbruchs der Weltordnung. Inwiefern? 

In Gaza sehen wir einen Krieg der Narrative. Während Deutschland den 7. Oktober mit dem Holocaust in Verbindung setzte, da verstand Namibia ihn als antikoloniales Massaker mit einem darauffolgenden Genozid – wie man es aus der deutschen Kolonialgeschichte kennt. Letztlich konkurrieren hier westliche und nicht-westliche Weltgeschichtsinterpretationen. Und in dieser Weise betrachtet die Weltmehrheit auch den Ukrainekrieg. 

Wieso trägt die nicht-westliche Welt die Sanktionen gegen Russland nicht mit, wenn doch auch hier ein Volk dem Machtstreben seines großen Nachbars unterliegt?

Weil sie darin einen europäischen Krieg und westliche Doppelmoral erkennt. Wenngleich die Kriegsverbrechen in Gaza offenbar sind, möchte der Westen nur Wladimir Putin, nicht aber auch Benjamin Netanjahu nach Den Haag schicken. Der Globale Süden ist eher russlandfreundlich oder neutral, vielleicht auch, weil Putin den Krieg in der Ukraine als Verteidigung einer multipolaren Ordnung inszeniert. Dass der Globale Süden da teilweise mitzieht, ist weniger einer Ideologie als einem Pragmatismus geschuldet. Aus diesem Krieg der Narrative lässt sich aber schlussfolgern: Hätte Joe Biden den Ukrainekrieg als antikolonialen Widerstand gegen einen imperialen Aggressor geframed, und nicht als Kampf des demokratischen Westens gegen die Autokratie, dann hätte es wahrscheinlich mehr Zustimmung aus dem Globalen Süden gegeben. Aufgrund seiner eigenen auch jüngeren imperialen Vergangenheit spricht der Westen allerdings nicht so. Genau da liegt der Zwist.

Die Demokratisierungserzählung des Westens – mit Freihandel gegen Autokraten – wird also schwächer. Welche Erzählung tritt in der multipolaren Ordnung an ihre Stelle – oder entbehrt eine Weltordnung ohne Zentrum auch einer hegemonialen Erzählung?

Im Westen finden die alten Eliten keine Antwort auf die Widersprüche der liberalen Erzählung. Bisher ist der einzige wirkliche Bearbeitungsversuch rechts, und der lautet: Make America great again! In China und den BRICS-Staaten sehen wir noch eine andere aufstrebende Erzählung, die eine Pluralität souveräner Staaten und ihrer Weltsichten betont. Wahrscheinlich geht eine multipolare Ordnung auch mit einer Vielfalt an Narrativen einher, die sich besonders entlang der Nord-Süd-Achse unterscheiden.

Die USA haben kürzlich eine neue nationale Sicherheitsstrategie veröffentlicht, in der sie sich als Opfer der Globalisierung darstellen. War die liberale Ordnung nicht ein US-Projekt mit Eigeninteressen?

Im Rückblick auf die liberale Ära sehen die USA unter Trump nur die Kosten, nicht aber den eigenen Nutzen. Globalisierung wird gleichbedeutend mit Wohlstandsverlusten durch die De-Industrialisierung und Migration. Daraus folgt: ICE soll die Migranten rausschmeißen und Zölle sollen das Land reindustrialisieren. Selbstverständlich ignoriert Trump damit den Status des US-Dollars als globale Leitwährung, durch den die Vereinigten Staaten über ihren eigenen Verhältnissen leben konnten. Das möchte Trump durchaus beibehalten, nur eben plus Reindustrialisierung und Protektionismus. Fraglich ist, ob dieses Experiment klappen kann. Allerdings sieht man an dieser Politik: Trump ist der Abstiegsmanager der USA und des Westens. 

Julia Werthmann

Julia Werthmann forscht und lehrt zum Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie an der Universität Wien. Als freie Autorin schreibt sie u.a. für ZEIT Online und den Freitag.

Was bedeutet das?

Er verwandelt die USA von einem Imperium zurück zu einer Nation. Natürlich bleibt diese Nation – America first! – höchst dominant im globalen Gefüge, aber dennoch wird sie gerade zu einer Nation unter vielen. Da der Aufstieg Chinas und anderer eine unwiederbringliche Tatsache darstellt, hat dieses Abstiegsmanagement wohlgemerkt auch nichts mit Trump per se zu tun – das hätte auch auf der To-Do-Liste von Kamala Harris gestanden.

Quer durch die politischen Lager hören wir gerade den Aufruf: Europa muss sich in der globalen Umbruchssituation als autonomer Akteur positionieren. Inwiefern unterscheiden liberalkonservative sich von linken Eigenständigkeitsideen?

Trump verlangt von Europa: Ihr sollt – wenngleich mit unseren Waffen – euer eigenes Ding, also MAGA in den europäischen Ländern machen. Diese Forderung verwandelt derzeit selbst die überzeugtesten Transatlantiker wie Friedrich Merz in Nationalisten. Progressive Kräfte müssen einerseits einen kritischen Blick auf das Wettrüsten und den damit verbundenen neuen militärisch-industriellen Komplex richten. Denn Europa gibt bereits genügend Geld für eine große Armee und Waffensysteme aus, um Russland damit im Zweifel abzuschrecken. Noch mehr braucht es nicht! Andererseits sollte das europäische Integrationsprojekt vorangetrieben werden, anstatt zur Nation zurück zu kehren. Das beste wäre, so hat es der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze formuliert, wenn Europa die »große Schweiz« der Weltpolitik wäre. Mein idealistisches Wunscheuropa ist zwar verteidigungsfähig, aber nicht angriffsbereit, sondern betont friedenspolitisch aktiv. 

Wie können Linke auf internationale Politik schauen, ohne weder naiv von der baldigen Demokratisierung des Globus auszugehen noch zynisch die Kräfteverhältnisse und somit die dahinterstehenden menschlichen Kosten zu akzeptieren?

Viele Progressive und Linke haben sich lange Zeit darauf beschränkt, die Doppelmoral der westlichen Hegemonie zu kritisieren, um die dahinterstehende Machtpolitik aufzuzeigen. Nicht selten ging damit die Gefahr einher, selbst in zynisches Machtdenken zu verfallen. Das konnte man auch am Ukrainekrieg beobachten. Jetzt löst sich die alte Ordnung auf und Konzepte sind gefragt, die eine zynische Machtanalyse überschreiten. Allerdings ist genau das eine Leerstelle linker Politik. In Deutschland reden Linke vornehmlich über Wohnen und Gesundheit, zur internationalen Politik gibt es nur vage Appelle fürs Völkerrecht und Frieden – das reicht nicht! Es bräuchte eine ausgearbeitete Anti-Militarisierungspolitik und eine Idee, wie der empirische Fakt des westlichen Abstiegs von links besetzt werden kann. Derzeit haben dazu nur die Rechten eine Erzählung parat.

Vielen Dank für das Gespräch!