Die ökonomische Macht des Kapitals

Warum ist der Kapitalismus nicht schon längst zusammengebrochen? Für ein Verständnis der verflixten Beständigkeit des Kapitalismus stellt Søren Maus Buch »Stummer Zwang – Eine Marxistische Analyse der ökonomischen Macht im Kapitalismus« nichts weniger als einen essenziellen Beitrag dar, schreibt Jannis Köster.

Im ersten Band von »Das Kapital« unterscheidet Marx, wo er den Akkumulationsprozess des Kapitals darlegt, zwischen den Notwendigkeiten und Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und ihrer Entstehung in Form der sogenannten »ursprünglichen Akkumulation«. Während letztere entscheidend von Gewalt geprägt ist – das Kapital kommt zur Welt »von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend«  1 Marx & Engels Gesamtausgabe (MEGA2). Zweite Abteilung. „Das Kapital“ und Vorarbeiten. Band 10, S. 682.  – reicht für die Reproduktion der kapitalistischen Produktionsverhältnisse Gewalt nicht aus. Es genügt nicht, so Marx, die Arbeitenden gewaltsam von den Produktionsmitteln zu trennen, damit Akkumulation geschehen kann. Ebenso wenig reicht es aus, die Arbeitenden dazu zu zwingen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. 2 Ebd.

Stattdessen ist für die Fortentwicklung der kapitalistischen Produktion und ihrer Reproduktion die Entwicklung einer Arbeiterklasse entscheidend, so Marx, »die aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit, die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt.«  3 Ebd. Die Widerstände der Reproduktion werden durch die »Organisation des ausgebildeten kapitalistischen Produktionsprozesses« 4 Ebd. selbst gebrochen. In der Wirkung der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten entstehen dadurch genau die Bedingungen, welche die Reproduktion der kapitalistischen Sozialverhältnisse sichern: »[D]er stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse besiegelt die Herrschaft des Kapitalisten über den Arbeiter.«  5 Ebd.

Es ist die aufmerksame Lektüre dieser Textstelle, die Søren Mau auf den Titel seiner Abhandlung gebracht und zur Auseinandersetzung mit einer nicht ausreichend theoretisierten Kategorie kapitalistischer Macht geführt hat. Mau’s 2023 erschienenes Buch »Stummer Zwang – Eine Marxistische Analyse der ökonomischen Macht im Kapitalismus« (Dietz) ist die Übersetzung der bei Verso erschienen, überarbeiteten Fassung seiner Dissertation. Für ein Verständnis der verflixten Beständigkeit des Kapitalismus stellt diese Buch nichts weniger als einen essenziellen Beitrag dar. Oder, wie Mau es in seiner Einleitung bescheidener formuliert, einen Beitrag zu der Frage: »Warum ist der Kapitalismus nicht schon längst zusammengebrochen?«  6 Mau, S. (2023). Stummer Zwang. Eine marxistische Analyse der ökonomischen Macht im Kapitalismus. Dietz Berlin. S. 15.

Jannis Köster

Jannis Köster studiert im Master Nachhaltigkeitswissenschaften in Lüneburg. Aus Perspektive der politischen Ökonomie und Wirtschaftssoziologie schreibt er über Transformationsprozesse und widmet sich der möglichen Veränderungen des gesellschaftlichen Stoffwechsels.

Macht im Kapitalismus

Um Mau’s Antwort auf diese Frage zu verstehen, ist zuerst ein Rückgriff auf die gängige Verständnisweise der Faktoren hilfreich, die das Fortbestehen des Kapitalismus sichern. Im Rückgriff auf Nicos Poulantzas 7 Poulantzas, N. (2014). State, Power & Socialism. Verso Books.  lässt sich, so Mau, das Panorama gängiger Theorien der Reproduktion des Kapitalismus – oder genauer, der Reproduktion der Herrschaft des Kapitals über Arbeit – über ein zentrales Begriffspaar verstehen. Gängige Theorien der Reproduktion kapitalistischer Produktionsverhältnisse bauen auf der Annahme auf, dass sich diese über zwei grundlegende Formen erläutern lässt: Gewalt und Ideologie. 8 Mau, 2023, S. 17. Bei Poulantzas (2014) ist das Begriffspaar beschrieben als Gewalt-Zustimmung und Unterdrückung-Ideologie (S. 78), welches sich auch in Althusser’s Unterscheidung zwischen ideologischem und repressivem Staatsapparat wiederfindet.

Sowohl Gewalt als auch Ideologie sind direkte Machtformen, die die Reproduktion auf bestimmte Art und Weise sicherstellen. Erstere adressiert die physische und körperliche Unterdrückung der Menschen, letztere die Fähigkeit »die Art und Weise zu formen, in der wir uns und unsere soziale Welt (bewusst oder unbewusst) wahrnehmen und verstehen«. 9 Mau, 2023, S. 17. Von hier, so Mau, ist die entscheidende Erkenntnis aus der oben zitierten Passage von Marx, dass das Begriffspaar Gewalt-Ideologie eine zentrale Form von Macht unberücksichtigt lässt, die die Reproduktion der kapitalistischen Produktionsverhältnisse sichert: ökonomische Macht. Wie Marx im Fortgang an die letztzitierte Passage über die Rolle des ‚stummen Zwangs der ökonomischen Verhältnisse‘ für das Sicherstellen der Reproduktion schreibt: 

[D]er stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse besiegelt die Herrschaft des Kapitalisten über den Arbeiter. Außerökonomische, unmittelbare Gewalt wird zwar immer noch angewandt, aber nur ausnahmsweise. Für den gewöhnlichen Gang der Dinge kann der Arbeiter den ‚Naturgesetzen der Produktion‘ überlassen bleiben, d. h. seiner aus den Produktionsbedingungen selbst entspringenden, durch sie garantierten und verewigten Abhängigkeit vom Kapital. 

Marx & Engels Gesamtausgabe (MEGA2). Zweite Abteilung. »Das Kapital« und Vorarbeiten. Band 10, S. 662. 1890/1991

Neben Gewalt oder Ideologie sind es vor allem die Effekte der ‚verewigten Abhängigkeit vom Kapital‘ – die Einbettung in die ökonomischen Prozesse – die entscheidend dafür sind, dass sich die kapitalistischen Produktionsverhältnisse »auf stets wachsender Stufenleiter«  10 MEGA2, S. 642.  reproduzieren. Mau geht dieser dritten Machtform im Kapitalismus nach. 

Aufsteigende Konkretheit

Von Aaron Benanav als »sofortigen Klassiker« 11 Benanav, A. zitiert nach Mau, S. (2023). Mute Compulsion. A Marxist Theory of the Economic Power of Capital. Verso Books. Einband.   bezeichnet, schafft Søren Mau den entscheidenden Spagat: Seine Analyse beinhaltet sowohl eine differenzierte Theorie über ökonomische Macht im Kapitalismus als auch Darstellungen und Klärungen von zentralen Debatten des marxistischen Theoriekanons. Auf 319 Seiten beschreibt Mau nicht nur, warum und wie der stumme Zwang ökonomischer Verhältnisse in menschlichen Gesellschaften überhaupt möglich ist, sondern auch was das Besondere, Tückische und Hartnäckige am Kapitalismus ist, sodass er sich beständig reproduzieren kann. Hierbei werfen die erarbeiteten Konzepte und Relationen wichtige Fragen über unsere Gegenwart und die Zukunft des Kapitalismus auf, die zukünftige Debatten und politisches Handeln auf interessante Weise strukturieren können. Aber alles zu seiner Zeit. 

In der Rekonstruktion einer Theorie des stummen Zwangs widmet sich Mau’s Analyse der oben gestellten Frage, warum hält das Kapital noch immer das gesellschaftliche Leben in seinem Griff?  Wie reproduzieren die kapitalistischen Sozialverhältnisse sich und welcher Faktor muss den bestehenden Theorien zur Reproduktion des Kapitals hinzugefügt werden, um diese zu verstehen? Wie bereits geschrieben ist Mau’s Argument, dass es einer tiefergehenden Theoretisierung der ökonomischen Macht des Kapitals und ihrer Ausprägung als »stummer Zwang der ökonomischen Verhältnisse«  12 MEGA2, S. 662.  bedarf, der die Arbeitenden bindet, um die fortwährende Reproduktion des Kapitalismus zu verstehen.  Entscheidend hierbei jedoch ist, dass Mau’s Arbeit sich nicht mit der Reproduktion des Kapitalismus in einem spezifischen Kontext beschäftigt. Vielmehr geht es ihm darum, die Frage nach der ökonomischen Macht auf dem Abstraktionsniveau der ‚Kernstruktur‘ bzw. des ‚idealen Durchschnitts‘ 13 Moseley, F. (Ed.) (2017). Marx‘ Economic Manuscripts of 1864-1865, S. 376, 898; Heinrich in Mau (2023), S. 12.  der kapitalistischen Produktionsweise zu untersuchen. 

Es geht in Mau’s Analyse also darum, den »Logiken, Strukturen und Dynamiken« nachzuspüren, die das Wesen des Kapitalismus über seine historischen und geographischen Variationen hinaus erkennen lassen. 14 Mau, S. (2019). Mute Compulsion. A Theory of the Economic Power of Capital. [Dissertation, Süddänische Universität]. S. 10.  Hierbei folgt Mau Marx’s Methode der aufsteigenden Konkretheit: Ausgehend von den Relationen, die die kapitalistischen Sozialverhältnisse definieren, wird im Laufe der Analyse die »allmähliche Zunahme der begrifflichen Komplexität als Folge der Einführung von immer mehr Begriffen und der Bestimmung ihrer Wechselbeziehungen« erreicht. 15 Mau, 2023, S. 26.  Die methodischen Abstraktionen der früheren Stufen werden in der theoretischen Progression somit allmählich aufgehoben, indem sie in eine immer ausgefeilter theoretische Struktur eingebettet werden. Das bedeutet zweierlei für die Leserinnen und Leser: Erstens lohnt es sich, das Buch von vorne bis hinten zu lesen – denn genau im Entfalten der Analyse werden zentrale Begriffe miteinander in Beziehung gesetzt und wichtige Zusammenhänge der abstrakten Theorie erläutert. Und zweitens: Um von der abstrakten Ebene der Kernstruktur zu einem Verständnis der Gegenwart überzugehen, bedarf es der »konkreten Analyse der konkreten Situation« 16 Lenin, zitiert in Mau, 2023, S. 319.  mit Hilfe von Mau’s Kategorien. In Anwendung der von Mau entwickelten Theorie auf die Gegenwart lassen sich entscheidende Weichen für zukünftige transformative Politik erblicken.  

Die totale Macht des Kapitals

Bevor wir auf diese zu sprechen kommen, müssen wir einmal in die Theorie abtauchen. In Teil 1 seines Buches entwickelt Mau eine Analyse der sozialen Ontologie ökonomischer Macht aus Marx Werk. Hierbei ist die zentrale Frage, wie ein ‚stummer Zwang‘ ökonomischer Verhältnisse überhaupt möglich ist – Wie ist es der Logik des Kapitals möglich, die Möglichkeit der ökonomischen Macht auszunutzen? 17 Vgl. Mau, 2023, S. 126.  Die von Mau rekonstruierte Ontologie verdeutlicht, dass es die menschliche Flexibilität in der Organisation der sozialen Reproduktion ist, die die Möglichkeit bietet, dass Machtverhältnisse sich zwischen Arbeitende und ihrer Reproduktion schieben 18 Mau, 2023, S. 125.  und so die Reproduktion menschlichen Lebens anderen Zwecken unterworfen wird. 19 Ebd., S. 121.

Das bedeutet konkreter, dass im Kapitalismus nicht mehr nur die Möglichkeit der ökonomischen Macht des Kapitals, sondern die Dominanz des Kapitalverhältnisses über den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess, indem sich die »Akkumulation von abstraktem Reichtum«  20 Mau, 2023, S. 128.  eben genau zwischen das Leben und seine Bedingungen schiebt. Der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse wirkt dadurch im Vergleich zu Gewalt und Ideologie indirekt auf Individuen: Die wirtschaftliche Macht des Kapitals bewegt die Menschen zu bestimmten Handlungen, indem sie die sozialen und materiellen Bedingungen ihrer Existenz umgestaltet – durch das Unterwerfen der gesellschaftlichen Reproduktion und so auch die Lebensbedingungen der Proletarier unter die Kapitalspirale.

Die unterschiedlichen Wirkweisen dieser Unterwerfung der gesellschaftlichen Reproduktion unter das Kapital theoretisiert Mau in Teil 2. In Anlehnung an Robert Brenner unterscheidet Mau hier zwischen vertikalen und horizontalen Verhältnissen, die zusammen die Einheit der kapitalistischen Produktionsverhältnisse bilden. Unter dem Begriff der vertikalen Verhältnisse lässt sich »die Form der Klassenherrschaft [verstehen], die Voraussetzung für die kapitalistische Produktion ist.«  21 Ebd., S. 31.  Kurz beschrieben als die Klassenunterscheidung zwischen Kapital und Arbeit geht Mau jedoch über die Lohnarbeit-Definition hinaus: Der untergeordnete Teil in den vertikalen Verhältnissen umfasst hierbei »alle Personen, die für ihr Überleben auf den Kapitalverkehr angewiesen sind, unabhängig davon, ob sie Lohnarbeiter sind oder nicht.« 22 Mau, 2019, S. 31.  Mit diesem Verständnis der vertikalen Verhältnisse lässt sich erkennen, dass die »Möglichkeitsbedingungen gesellschaftlichen Lebens« 23 Ebd., S. 31.  insgesamt vom Kapital unterworfen werden, und dies ist ein zentraler Teil seiner ökonomischen Macht. 24 Im Zuge der Analyse der vertikalen Klassenverhältnisse widmet sich Mau ebenfalls der »Produktion sozialer Unterschiede und Hierarchien auf der Grundlage von geschlechtlichen und rassistischen Zuschreibungen« (Mau, 2023, S. 31) – welches wichtige Anknüpfungspunkte für gegenwärtige Debatten bietet.

Von hier argumentiert Mau, dass die Arbeiterin »nicht nur dem Kapital unterworfen [ist], bevor sie den Markt betritt und nachdem sie ihn wieder verlässt; sie ist der Macht des Kapitals auch unterworfen, während sie dort ist.« 25 Mau, 2023, S. 177.  Diese Verhältnisse auf dem Markt – von Mau als die Beziehungen »zwischen den Ausbeutern selbst und den direkten Produzenten selbst«  26 Ebd., S. 178.  beschrieben – äußern sich über den Einfluss des Wertgesetzes und des Wettbewerbs auf alle Akteure. In der Marktvermittlung der sozialen Beziehungen zwischen allen Produzierenden entstehen »obligatorische Standards und Anforderungen«, denen die Produzierenden entsprechen müssen, um Zugang zu den Existenzbedingungen zu bekommen. 27 Ebd., S. 187. Hierdurch stellt der Markt kein einfaches System der Informationsweitergabe und -verarbeitung dar, wie es die bürgerliche Ökonomie konstatiert. Stattdessen werden über den Markt zwingende Anforderungen durch die Bewegung von Dingen kommuniziert, die erfüllt werden müssen, um zu bestehenHiermit ist die ökonomische Macht des Kapitals im Rückgriff auf die Neue Marx Lektüre als die »abstrakte und unpersönliche Beherrschung aller durch die Wertform« 28 Ebd., S. 187.  zu verstehen. In den Anforderungen, die die Realisierung des Mehrwerts an alle Akteure stellt, stehen die gesellschaftlichen Verhältnisse den Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft »als fremde Macht« 29 Ebd., S. 189.  gegenüber. So entfaltet der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse auch seine Wirkung, indem alle Akteure auf dem Markt zu bestimmten Handlungen gezwungen werden, um ihr Überleben zu sichern. 

Mau’s Blick auf die ökonomische Macht des Kapitals lässt sich wie folgt zusammenfassen: Sie umfasst die Beherrschung einer Klasse durch eine andere und auch die Beherrschung aller durch das Kapital. Und obwohl sich diese beiden Dimensionen gegenseitig vermitteln, haben sie in zwei »nicht reduzierbaren Gruppen von sozialen Beziehungen ihren Ursprung«  30 Mau, 2019, S. 32.   – weder Wert noch Klasse lassen sich aufeinander reduzieren. 31 Stattdessen zeigt Mau, und hier geht er über die Schwachstelle der Neuen Marx Lektüre hinaus, dass der Wert die Klassenherrschaft voraussetzt (vgl. Mau, 2023, S. 205). Denn die externen Verhältnisse, von denen die Werttheorie ausgeht, setzen eine bestimmte interne Organisation dieser Einheiten voraus. Damit das Wertgesetz seinen Lauf nehmen kann, braucht es die Produktion von Mehrwert durch die Ausbeutung von Arbeitskraft (Ebd., S. 204-205). Oder, noch deutlicher in Opposition zur Perspektive der bürgerlichen Ökonomie: »die scheinbare Gleichheit zwischen Marktakteuren« ergibt sich nur, wenn von allem, was außerhalb der Tauschakte geschieht, abstrahiert wird (Ebd., S. 210). Die Beziehung als Kapitalisten und Arbeiter ist die Voraussetzung ihrer Beziehung als Käufer und Verkäufer (Ebd. S. 210). In diesem Sinne, so Mau, sind die vertikalen und horizontalen Verhältnisse zwei zusammenhängende jedoch getrennte Quellen der Macht des Kapital (Ebd., S. 209-210) – und in ihrer gegenseitigen Mediation entstehen die Dynamiken, welcher die Macht des Kapitals stärken (Ebd., S. 218-219).

Eine sich selbst erhaltende & verstärkende Macht

Ausgehend von dem entwickelten Verständnis der abstrakten Verhältnisse, die den Kapitalismus in seiner Kernstruktur definieren, wendet sich Mau in Teil 3 den »Bewegungsgesetzen«  32 MEGA2, S. 9, Vorwort zur ersten Auflage.  der kapitalistischen Produktionsweise zu und fragt, welchen Einfluss diese auf die Macht des Kapitals haben. Zusammengefasst sind diese zu verstehen als Quelle und Resultat – die Ausübung der Macht des Kapitals ist zugleich auch eine ihrer Quellen. Mit Hegel könnte man auch sagen, dass die Macht des Kapitals das Ergebnis ihrer Ausübung ist. 33 Vgl. Mau, 2023, S. 223.

In seinem Buch widmet Mau sich der kontinuierlichen Neugestaltung des Produktionsprozesses durch das Kapital (Kapitel 10) und der kapitalistischen Rekonfiguration der Natur am Beispiel der Industrialisierung und Globalisierung der Landwirtschaft seit den 1940er Jahren (Kapitel 11) sowie auch der expansiven Dynamik des Kapitals anhand der logistischen Revolution (Kapitel 12) seit den 1970er Jahren. 

Der Begriff der realen Unterwerfung spielt hier eine zentrale Rolle: Die zentralen Abläufe im Produktionsprozess als auch in der Landwirtschaft werden der Logik des Kapitals unterworfen und neugestaltet, sodass Mehrwert besser abgeschöpft werden kann. In der Produktion zum Beispiel wirkt die Dynamik des Wettbewerbs als Verstärker und Intensivierer der Klassenherrschaft, indem die einzelnen Kapitalisten von den Anforderungen des Marktes zur Disziplinierung und Unterwerfung der Arbeiter in der Produktionssphäre gezwungen werden. 34 Ebd., S. 220.  Insgesamt ergibt sich so die ökonomische Macht des Kapitals »nicht nur aus den Produktionsverhältnissen, sondern auch aus den sozialen und materiellen Umgestaltungen, die sich aus diesen Verhältnissen ergeben.« 35 Mau, 2019, S. 249.

Im letzten Kapitel beschäftigt sich Mau dann mit den Verhältnissen von Akkumulationsdynamiken und der Macht des Kapitals. Hier greift Mau die Dynamik der »relativen Überschussbevölkerung«  36 MEGA2, S. 662.  auf. Nach einer Diskussion der generellen kapitalistischen Akkumulationsdynamik, wie sie sich aus der Kernstruktur der kapitalistischen Verhältnisse ergibt, kommt in Hinblick auf die relative Überpopulation wieder der zentrale Effekt des Wettbewerbs zum Tragen, diesmal jedoch zwischen den Arbeitenden: Wie Mau schreibt, erhöht das Kapital »durch die Sicherung eines bestimmten Niveaus der Arbeitslosigkeit« »den Wettbewerb unter den Arbeitnehmern, was es den Kapitalisten leichter macht, sie zu disziplinieren und die Löhne niedrig zu halten.«  37 Mau, 2019, S. 33.  So wird die Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft durch die direkten Effekte der Akkumulationsdynamik gesichert – auch diese sind sowohl Quelle als auch Resultat der ökonomischen Macht des Kapital. 

Und warum ist der Kapitalismus noch da?

Mit dem Verständnis der Akkumulationsdynamiken schließt Mau dann den Bogen zu der Eingangsfrage – der verflixten Beständigkeit des Kapitalismus. Hier widerspricht Mau den Krisen-Zusammenbruch-Strängen des Marxismus der Zweiten Internationale, auf dessen Erbe die aufgerufene Perspektive nach dem immanenten Zusammenbruch des Kapitalismus beruht. Anstatt zu hoffen, dass der Kapitalismus sich von selbst erübrigt, argumentiert Mau, dass sich aus »der Logik des Kapitals […] keine absolute Tendenz zum Zusammenbruch ableiten [lässt].«  38 Ebd., S. 33.  Stattdessen sind Krisen im Kapitalismus Ausdruck der immanenten Widersprüche der Akkumulationsdynamiken. 

Diese systemimmanenten und zugleich krisenhaften Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Akkumulation ergeben sich aus dem Widerspruch zwischen zwei Rationalitäten: Dem, was aus Perspektive einzelner Kapitalisten rational ist, und dem, was aus Perspektive des kapitalistischen Systems als Ganzes rational ist. 39 Mau, 2023, S. 299.  Genau der »stumme Zwang der Konkurrenz zwingt die einzelnen Kapitale [dazu], ohne Rücksicht auf die Grenzen des Marktes zu produzieren.« 40 Ebd., S. 300. Anstatt dass also Unterkonsumkrisen zum Zusammenbruch des Kapitalismus führen, argumentiert Mau, sind Krisen im Kapitalismus Überproduktionskrisen – zyklische Phänomene als Ergebnis immanenter Widersprüche der kapitalistischen Produktion. 41 Mau, 2023, S. 300  Gleichzeitig überkommt das Kapital Krisen ebenso aus sich selbst heraus: Indem es einen Teil seiner selbst opfert – in Form von Entwertung und Zerstörung von Kapital 42 Ebd., S. 304.  ebenso wie durch Mechanismen wie die Ausweitung der Märkte, Druck auf die Löhne und Erhöhung der Mehrwertrate – »beseitigt eine Krise ihre eigenen (unmittelbaren) Ursachen und bereitet den Weg für eine neue Runde der Akkumulation.« 43 Mau, 2023, S. 304.   

Insgesamt, so Mau, beherbergen Krisen, anstatt den Untergang des Kapitalismus einzuläuten »immanente Tendenzen«, »eine mächtige Dynamik in Gang zu setzen, die tendenziell die Macht des Kapitals wiederherstellt und ausweitet, sofern sie nicht unter Kontrolle gebracht wird.« 44 Ebd., S. 308.   Wenn wir uns also fragen, warum der Kapitalismus noch nicht zusammengebrochen ist, so ist Mau’s nüchterne Antwort: Weil er es nicht von selber tut. Das müssen wir schon selbst tun. 

Eine gelungene Theorie der ökonomischen Macht des Kapital

Insgesamt, so lässt sich nach dem Durchgang durch Mau’s Theorie festhalten, ist seine Analyse ökonomischer Macht zur Reproduktion kapitalistischer Sozialverhältnisse umfassend, tiefgreifend und bestechend. Mau’s Theorie stellt einen zentralen Baustein für all diejenigen dar, die in Zukunft die Beständigkeit des Kapitalismus verstehen und diesen überkommen wollen. Für ein Verständnis der abstrakten Zusammenhänge kapitalistischer Sozialverhältnisse ist für alle Kenntnisstände viel mitzunehmen. »Stummer Zwang« bietet sowohl eine tiefgreifende Einführung in marxistisches Denken als auch ein Verständnis zentraler Zusammenhänge sowie die Beantwortung der brennenden Frage, warum der Kapitalismus immer noch existiert. Darüber hinaus ist eine lineare Lektüre des Buches zu empfehlen: Indem Mau der marxschen Darstellungsmethode folgt, baut jedes Kapitel auf vorherigen Beschreibungen und Konzepten auf und liefert zugleich Konkretisierungen, Erläuterungen und Alterationen der im vorigen Kapitel beschriebenen Relationen. Besonders die Analyse der Bewegungsgesetze im Hinblick auf den stummen Zwang in Teil 3 füllen die entwickelten Konzepte mit relevanter, konkreter historischer Konzeptualisierung. 

Weiterhin bietet Mau’s Rekonstruktion zentraler Debatten der (marxistischen) Theorie und vor allem der Philosophie der letzten 150 Jahre einen klaren Blick auf Zusammenhänge, Bezüge und Debatten des marxistischen und übergeordneten philosophischen Diskurses. Zugleich bleibt die in der gesamten Arbeit zu findenden Referenzen zu vergangenen und gegenwärtigen Theorieentwicklungen interessant für all diejenige*n, die die Lektüre weiter vertiefen wollen. Für Nicht-Marx-Kenner*innen gilt jedoch Vorsicht zu walten: Mau bewegt sich in seinem auf den marxistischen Diskurs angelegten Beitrag auf voraussetzungsvollem Niveau, sodass große Schwierigkeit darin bestehen kann, zentralen Debatten oder Argumenten zu folgen. Doch das ist das notwendige Pendant zu der Größe des Beitrags die Mau leistet. Insgesamt lässt sich sagen: Eine Lektüre von Mau’s Buch lohnt sich – sowohl für Spezialistinnen als auch für Einsteigerinnen in Marx, bei letzteren am besten in Verbindung mit anderen, um direkt über aufkommende Fragen zu sprechen. 

Mau’s Analyse ist aber auch ernüchternd. Und das nicht, weil Mau’s theoretische Arbeit nicht funktioniert, sondern genau weil sie funktioniert. Aus der Antwort auf die Frage, warum der Kapitalismus noch nicht zusammengebrochen ist, ergibt sich eine wichtige Erkenntnis: Der Kapitalismus wird umso beständiger, je fundamentaler die gesellschaftliche Reproduktion der Kapitalrelation unterworfen ist. Der Kapitalismus kann sich deshalb nicht von selbst abschaffen, wie Anhänger*innen der Zweiten Internationale einst gehofft haben. Im Nachgang aller entscheidenden Krisen der letzten 150 Jahre muss man feststellen, dass die Unterwerfung der gesellschaftlichen Reproduktion unter das Kapital verstärkt wurde.

Paradoxerweise kann man hieraus aber auch Hoffnung schöpfen. Denn nicht nur liefert Mau’s Theorie den fehlenden Mörtel, um die bestehenden Bausteine der marxistischen Theorie zu einem soliden Theoriegebäude zusammenzufügen, auch liefert er den Bauplan eines Hammers. Zum einen lässt sich in der Lektüre nämlich verstehen, warum der Kapitalismus immer weiter besteht und welche Bedeutsamkeit die Abhängigkeit vom Kapital für das Fortbestehen gesellschaftlichen Lebens hat. Zum anderen lässt sich aber auch verstehen, worin überhaupt so etwas wie Transformationspotenzial und Hebelpunkte bestehen könnten. Der Bauplan für den Hammer ist die übergeordnete, abstrakte Perspektive auf die Transformation, die sich aus diesem Verständnis der Reproduktion des Kapitalismus ableiten lässt: Es muss – auch in Anbetracht ökologischer Krisen und gesellschaftlich-politischer Verwerfungen – bei antikapitalistischen Bestrebungen darum gehen, »die Lebensbedingungen aus dem Griff des Kapitals« zu befreien. 45 Vgl. Ebd., S. 134.

Literatur

Mau, S. (2019). Mute Compulsion. A Theory of the Economic Power of Capital. [Dissertation, Süddänische Universität].
Mau, S. (2023). Stummer Zwang. Eine marxistische Analyse der ökonomischen Macht im Kapitalismus. Dietz Berlin.
Marx & Engels Gesamtausgabe (MEGA2). Zweite Abteilung. »Das Kapital« und Vorarbeiten. Band 10. 1890/1991.