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Die politische Ökonomie des Green New Deal

Ein Green New Deal wird bestenfalls zur Modernisierung des Kapitalismus führen, jedoch keinen Ausweg aus der Klimakrise bieten, argumentiert Rainer Trampert. Produktion, Verteilung und Konsum nach menschlichen Bedürfnissen wie auch ein respektvoller Umgang mit der Natur erfordern einen Bruch mit der kapitalistischen Logik.

Der Green New Deal soll an den New Deal des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt in den 1930er-Jahren erinnern, ist aber etwas völlig anderes. Roosevelt wollte den Kapitalismus nicht erneuern, sondern ihn so, wie er war, aus der Krise holen – mit »freiwilliger Zwangsarbeit« für die Söhne armer Familien, Wohnungsbaukrediten für Weiße und mit protektionistischen Eingriffen in den Welthandel. Dagegen ist der heutige Green New Deal Teil einer tiefgreifenden Modernisierung des Kapitalismus, der sich auf den Weg gemacht hat, neue Felder der Mehrwertproduktion zu erschließen, altes Kapital durch neues, produktiveres Kapital (Big-Data, Digitalisierung, künstliche Intelligenz, E-Mobilität) zu ersetzen, die Schäden des Klimawandels durch den Ausstieg aus der fossilen Epoche zu begrenzen und die stockende Kapitalakkumulation in den Zentren zu revitalisieren. 

»Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse […] fortwährend zu revolutionieren«, schrieben Marx und Engels im Kommunistischen Manifest.  1 Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, in: dies.: Werke, Berlin 1956 ff. [MEW], Bd. 4, S. 459–493, hier S. 464. Es ist wieder so weit. Nach Kohle, Dampf und Pferdegetrappel, nach Erdöl, Autos, Kunststoffen und Atomkraft beginnt die Epoche der regenerativen Antriebskräfte, der kommunizierenden Maschinen, der E-Mobilität und der Ausdehnung der Fabriksysteme auf Ländereien und Meere. Neu ist auch die Propaganda, die dieser industriellen Revolution mit der Verkündung, es gehe um die Rettung der Schöpfung, einen Glorienschein verpasst, der kaum Widerspruch duldet. Dinge werden mit Moral angereichert, während der Mensch in Ungnade fällt. Es wächst das Ansehen von Windrädern und Dämmplatten. Ethik wird in CO₂-Einheiten gemessen. Unternehmen dürfen Menschen ausbeuten, wie es ihnen beliebt, sofern sie die Emissionen senken oder sich Verschmutzungsrechte kaufen. Rassismus und Antisemitismus entziehen sich der energetischen Gebäudesanierung, und wer heute von Autonomie spricht, meint das selbstfahrende Auto. 

Rainer Trampert

Rainer Trampert publiziert in linken Zeitungen und Zeitschriften und schreibt Bücher und Buchbeiträge, unter anderem »Europa zwischen Weltmacht und Zerfall« (2014) und »Die Offenbarung der Propheten« (mit Thomas Ebermann, 1998). Foto: Rainer Trampert

»Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse […] fortwährend zu revolutionieren«, schrieben Marx und Engels im Kommunistischen Manifest.  1 Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, in: dies.: Werke, Berlin 1956 ff. [MEW], Bd. 4, S. 459–493, hier S. 464. Es ist wieder so weit. Nach Kohle, Dampf und Pferdegetrappel, nach Erdöl, Autos, Kunststoffen und Atomkraft beginnt die Epoche der regenerativen Antriebskräfte, der kommunizierenden Maschinen, der E-Mobilität und der Ausdehnung der Fabriksysteme auf Ländereien und Meere. Neu ist auch die Propaganda, die dieser industriellen Revolution mit der Verkündung, es gehe um die Rettung der Schöpfung, einen Glorienschein verpasst, der kaum Widerspruch duldet. Dinge werden mit Moral angereichert, während der Mensch in Ungnade fällt. Es wächst das Ansehen von Windrädern und Dämmplatten. Ethik wird in CO₂-Einheiten gemessen. Unternehmen dürfen Menschen ausbeuten, wie es ihnen beliebt, sofern sie die Emissionen senken oder sich Verschmutzungsrechte kaufen. Rassismus und Antisemitismus entziehen sich der energetischen Gebäudesanierung, und wer heute von Autonomie spricht, meint das selbstfahrende Auto. 

Wie bei allen industriellen Revolutionen entwertet die neue technologische Struktur die geronnene Arbeit von Generationen, und es bedarf der Arbeit von Generationen, bis das Neue sich ganz durchgesetzt haben wird. Der Ausstieg aus dem fossilen Zeitalter wird schon deshalb lange dauern, weil sich der Verkehr auf der Welt bis 2050 verdoppelt haben wird und China sowie andere nachindustrialisierende Staaten jedes Jahr rund 500 Milliarden US-Dollar in Öl, Gas und Kohle investieren, um ihre Aufholjagd zu befeuern. 

Der Green New Deal und die große Modernisierung

Während Grüne den von der Wirtschaft ohnehin betriebenen Umbau als Bewahrung der Schöpfung lobpreisen, als hätte ihn Gott persönlich in Auftrag gegeben, erklärt Philipp Hildebrand vom Management des Investmentkonzerns Blackrock den wahren Grund: Bei der Modernisierung gehe es »nicht nur um Moral«, sondern um einen »grundlegenden Strukturwandel […] hin zur erhöhten Widerstandskraft unserer Wirtschaft«. Die Kapitalumschichtung finde bereits »massiv statt«, weil Risiken des Klimawandels Investitionsrisiken seien; »dieser Aspekt ist fundamental. Das außer Acht zu lassen, kostet Rendite. So einfach ist das.« Europa habe im Hightech-Bereich den Zug verpasst, könne sich aber bei der »Nachhaltigkeit« an die Spitze setzen, »auch im Vergleich zu Amerika«. 2 »Es geht nicht nur um Moral«. Inken Schönauer im Gespräch mit Philipp Hildebrand, Vizepräsident von Blackrock, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.7.2020, S. 29.

Die Theorie, die uns alle 20 Jahre das Ende der wertbildenden Arbeit weissagt, bewahrheitet sich schon wieder nicht: 1,2 Milliarden Autos weltweit sind auf Batterie-, Hybrid- oder Wasserstoffsysteme umzurüsten, zwei Milliarden Menschen warten auf ihr erstes Auto, Fabriken werden mit kommunizierenden Maschinen und Gabelstaplern, die sich ihre Wege selbst suchen, und Haushalte mit dialogfähigen Geräten ausgestattet. Landschaften werden mit 5G-Türmen und E-Ladestationen, mit Wind-, Solar- und Batteriefabriken sowie Stauseen für die Stromspeicherung in Fabrikräume verwandelt. In den Niederlanden schwimmen bereits Stadtteile in Betonwannen. Tankstellen werden zu Industrieanlagen mit Zapf- und Ladesäulen, Akkuwechselstationen, Landeplätzen für Lufttaxis mit eigener Stromerzeugung und Erlebnisparks zum Amüsieren während der Ladezeiten. In den Städten kreisen autonom fahrende E-Autos und Lufttaxis. Die stinkende Brumm-Brumm-Erotik wird durch die elektrische Beschleunigung ersetzt. Mercedes bietet an: das E-Auto mit Widescreen-Cockpit, intuitiver Sprachsteuerung und Bauteilen aus nachwachsenden Rohstoffen wie Hanf, Kenaf, Wolle, Baumwolle, Holz oder Naturkautschuk. Umweltschutz, Digitalisierung, die künstliche Intelligenz und der Mensch sitzen im Fahrzeug der Zukunft einträchtig nebeneinander. Volkswagen verspricht, dass der »Rechner auf Rädern« dem Kunden zwischen 2026 und 2030 auf klar definierten Strecken das Fahren abnehmen und der Kunde begreifen wird, dass »der Computer besser Auto fährt« als der Mensch.  3 Carsten Germis im Gespräch mit VW-Markenchef Ralf Brandstätter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.6.2021, S. 26.

»Der grüne Kapitalismus ist alles andere als sanft. Er gräbt die halbe Welt nach Sanden, Zement und Metallen um und steuert auf neue Beschaffungsprobleme zu. Die Sauberkeit der reichen Welt wird mit der Verschmutzung und Ausbeutung der sogenannten Dritten Welt bezahlt.«

Aktionäre, Banken, Fonds, Investoren, die um ihre Anlagewerte bangen, achten auf den Beitrag der Unternehmen zur »ökologischen Erneuerung«. Die Aktionäre des Ölkonzerns Chevron verpflichteten das Management, die CO₂-Emissionen »substantiell zu senken«, der Hedgefonds Engine No. 1 vollzog mit Unterstützung von Blackrock im Mai 2021 die Umbesetzung des Verwaltungsrats von Exxon/Mobil, um eine »nachhaltige« Konzernpolitik zu gewährleisten. Nachhaltigkeit ersetzt nicht den Profit als Bestimmungsgröße für Investitionen, Managements werden aber zunehmend verpflichtet, auf Klimarisiken und CO₂-sparende Techniken zu achten. Die langfristige Profitentwicklung tritt in den Vordergrund. Was bietet der Green-Tech-Markt, welche Energieeffizienz haben Verfahren und Produkte, welche Haftungsrisiken drohen? 

Alte Firmen verenden oder wechseln ihr Programm, neue drängen in den Markt. Im Sommer 2020 war der Tesla-Konzern an der Börse so viel wert wie die drei Ölgiganten Exxon/Mobil, Shell und BP zusammen. Im August 2020 flog Exxon/Mobil, 2013 noch der wertvollste Konzern der Welt, aus dem US-amerikanischen Aktienindex Dow Jones. Er war zu klein geworden für den Club der 30 Größten. Eine von BP in Auftrag gegebene Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sich der Verbrauch von Kohlenwasserstoff in 30 Jahren halbieren und der Verbrennermotor keine Zukunft mehr haben wird. 4 Philip Plickert: BP will weg vom Öl. Der britische Konzern senkt die Öl- und Gasproduktion um 40 Prozent und investiert in Windkraftparks und Ladestationen für E-Autos, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.9.2020, S. 18. Die Ölnachfrage werde bis 2050 um 80 Prozent sinken. BP wird deshalb in den kommenden zehn Jahren die eigene Öl- und Gasproduktion um 40 Prozent senken und seine Investitionen in Windkraftanlagen und Ladestationen verzehnfachen. 

Zu den Besonderheiten des Green New Deal gehört die Versöhnung des »grünen« Kapitals mit dem alten Stahl- und Betonkapital. Der Studie »Metals for a low-carbon society« von Olivier Vidal, Bruno Goffé und Nicholas Arndt zufolge müssten für die bis 2050 angepeilten 25000 Terrawattstunden aus Wind- und Solarenergie 3,2  Milliarden Tonnen Stahl (knapp 440000  Eiffeltürme), 310  Millionen Tonnen Aluminium, 40 Millionen Tonnen Kupfer und unvorstellbare Mengen Beton verbaut werden.  5 Olivier Vidal/Bruno Goffé/Nicholas Arndt: Metals for a low-carbon society, in: Nature Geoscience 11/2013, S. 894–896, hier S. 895. In einem Windrad mit mehr als 180 Metern Höhe stecken im Sockel 1.300 Kubikmeter Beton und 180 Tonnen Stahl. Kein Auto, Flugzeug, Schiff, elektronisches System, kein Energiesystem, keine Fabrik, kein medizintechnisches oder unterhaltungselektronisches Gerät kommt ohne Chips und seltene Metalle aus. Der grüne Kapitalismus ist alles andere als sanft. Er gräbt die halbe Welt nach Sanden, Zement und Metallen um und steuert auf neue Beschaffungsprobleme zu. Die Sauberkeit der reichen Welt wird mit der Verschmutzung und Ausbeutung der sogenannten Dritten Welt bezahlt. 

Politische Ökonomie I: Impulse und Krisensymptome 

Der industrielle Wandel hat mehrere Triebfedern. Am offensichtlichsten sind die Schäden und Entwertungen durch den Klimawandel. Hitzewellen, Wasserknappheit, Trockenperioden, Brände und Stürme, Starkregen, Überschwemmungen, Niedrigwasser, Behinderung der Lieferketten, Schmelzen und der Anstieg des Meeresspiegels, der die Existenz von 136 Millionenstädten (und Industriezentren) an den Küsten bedroht, Treibhausgase aus Quadratkilometern von Permafrostböden und vieles andere mehr gefährden das Profitregime. Arbeitszeit und Produktionsmittel werden durch Reparaturen, Instandsetzungen und Umsiedlungen absorbiert, steigende Kosten und Preise lassen das Geschäftsvolumen sinken. Geriete China unter Wasser, schössen im Westen die Preise für Produktionsmittel und Waren in schwindelerregende Höhen. Nach einer Studie der New York University wird der Klimawandel bereits ab 2025 etwa 1,7 Billionen Euro im Jahr kosten, sollten die Treibhausgasemissionen nicht erheblich reduziert werden. 6 Joachim Wille: Nichts tun wird viel teurer, in: Frankfurter Rundschau, 29.3.2021.

Die Bewältigung der Klimaschäden fällt zusammen mit einer Flut neuer Erfindungen und der notwendigen Revitalisierung der Kapitalakkumulation in den Zentren als weiteren Triebfedern für den industriellen Umbau. Der Zwang des Kapitals, ständig expandieren und den Kapitalwert steigern zu müssen, weil sonst der Ruin oder die Übernahme durch stärkere Konkurrenten drohen, hat zur Folge, dass einerseits die Umweltschäden tendenziell zunehmen und sich andererseits der wachsende Kapitalstock nicht zu gleich hohen Raten versilbern lässt – was die Krise weiter antreibt. Marx analysierte, dass mit dem stärkeren Anwachsen des konstanten Kapitals in Relation zu den Kosten für die lebendige Arbeit die Profitrate sinken müsse. 7 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band, in: MEW, Bd. 25, Dritter Abschnitt: Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate, S. 221–241.  Merkmale sind schrumpfendes Wachstum und stockende Kapitalbildung (Investition) sowie die Kapitalflucht in profitablere Regionen der Erde. Diese Phänomene prägen die europäische Entwicklung seit Jahrzehnten. Anstatt auf die sinkende Profitabilität ihrer Kapitalberge mit Kapitalflucht zu reagieren, kann auch dem Zentrum eine Radikalkur verpasst werden. Damit haben wir es heute zu tun.

Zu den Elementen einer solchen Kur zählt die Erneuerung der technischen Apparate bei gleichzeitiger Ausmerzung unproduktiver Sektoren. Schumpeter sprach von der »schöpferischen Zerstörung«, Marx von der »Verwohlfeilerung der Elemente des konstanten Kapitals«. Die Korrekturen bieten neben den effektiveren Produktionsmitteln einen strategischen Nutzen. Die grüne Energie im eigenen Land macht unabhängig von Öl- und Gasimporten aus Russland und unsicheren Weltregionen, spart Kosten für Auslandstruppen und Kriege und erleichtert es Firmen, sich bei globalen Konflikten in die Obhut »ihrer« Nation zu begeben, wo sie sich auf Regierungen, Gewerkschaften und vaterländische Stimmungen verlassen können, während sie im Ausland immer wieder patriotischen Angriffen ausgesetzt sind (»Buy American!«). VW hat vor deutschen Gerichten kaum etwas zu befürchten, wird von US-Staaten aber zu Milliardenstrafen verdonnert. Bei der Umstellung auf die heimatliche Energieerzeugung haben Erdölexporteure und Länder, die Einnahmen aus Hafen- und Durchleitungsgebühren verlieren, das Nachsehen. Die Kapitalflucht hat zu Chinas Machtentfaltung beigetragen, die heimische Nutzung von Sonne, Wind und Wasser führt zu einem Machtzuwachs der alten Imperien. Die Idee, die EU solle doch Solarstrom aus Afrika beziehen (eventuell als Wasserstoffimport) blendet aus, dass sie ohne die militärische Besetzung Nordafrikas kaum zu realisieren wäre. 

Modernisierungsschübe beschleunigen den internationalen Anpassungsdruck und die Selektion in konkurrenzfähige und nicht konkurrenzfähige Staaten. Der technische Vorsprung erhöht die Wettbewerbskraft und ist eine protektionistische Waffe. Wer vorne liegt, wird versuchen, die eigene Kapitalbildung durch Importsteuern auf »unsaubere« und nicht den Normen entsprechende Auslandswaren zu stärken, und so einen Harmonisierungswettlauf in Gang setzen. Die EU will europäisches Kapital mit einem »Klimazoll« vor Importen aus Ländern mit laxen CO₂-Auflagen schützen. Kaum hatte China, das sowohl die E-Mobilität als auch die Kohleverstromung vorantreibt (jährlich kommen so viele Kohlekapazitäten neu ans Netz, wie in Deutschland überhaupt betrieben werden), erwähnt, es werde »in naher Zukunft« Verbrennungsmotoren verbieten, kündigte der VW-Konzern, der 40  Prozent seiner Autos in China verkauft, die Produktion von E-Mobilen, Batteriezellen und Ladestationen (in Kooperation mit BP und Shell) sowie die Erprobung von Flugautos in China an. 

Naturkatastrophen beschleunigen die technische Innovation, die ihrerseits den Wert der aggregierten Kapitalmasse mindert. Der Green New Deal ist daher nicht nur Teil der Krisenbewältigung, indem er dem wachstumsschwachen Kapital hochwertiges neues Kapital hinzufügt und Märkte ausdehnt, sondern auch Urheberin neuer Krisen. Das voluminösere Altkapital verliert über das physische Altern, den Verschleiß, hinaus an Wert, weil es in der Konkurrenz mit neuen Dingen schneller veraltet oder nicht mehr den Normen entspricht (Dieselproduktion). Ist der Wertverfall des alten Kapitals größer als der Wertzuwachs des neuen, fällt die Wirtschaft in eine Rezession, und die Finanzierung der Transformation, die noch länger aus Überschüssen der alten Ökonomie geleistet werden muss, ist gefährdet. Siemens-Chef Roland Busch wies auf die Dialektik hin: Einerseits steige mit jedem Jahr, »in dem wir nicht die Trendwende schaffen, der Druck auf den Kessel. Die notwendige Anpassung wird dann immer teurer und schmerzhafter.« Andererseits müsse der Wirtschaftsraum insgesamt wachsen, »wenn wir das beschädigen, haben wir ein Riesenproblem«.  8 Georg Meck: Siemens will keine weiteren Abspaltungen. Der neue Chef des Technikkonzerns, Roland Busch, lobt Klimaaktivisten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.10.2020, S. 23. Das Wachstum des grünen Kapitals hängt also vom Wachstum des Gesamtkapitals ab.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch »Das Klima des Kapitals. Gesellschaftliche Naturverhältnisse und Ökonomiekritik«. Wir veröffentlichen den Auszug mit freundlicher Genehmigung des Berliner Dietz Verlags.

Der Wettstreit zwischen modernen und traditionellen Sektoren läuft nicht harmonisch ab. Joe Kaeser (ehemaliger Siemens-Chef) und Simone Menne (Aufsichtsrätin von BMW, Henkel, Deutsche Post) begrüßen die industrielle Revolution und warben für Grünen-Chefin Baerbock als Kanzlerin. Dagegen steht die Lobbygruppe »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft«, die vor einer »neuen Staatsreligion« warnt, die den politischen Eingriff in die Autonomie des Kapitals anstrebe, und Baerbock in Großanzeigen als Moses mit zehn Verbotstafeln verunglimpfte. Überschrift: »Warum uns grüne Verbote nicht ins gelobte Land führen.« Die Initiative, die unter anderem von Metallunternehmern finanziert wird, hatte bereits gegen den Mindestlohn und erneuerbare Energien gekämpft. Eines ihrer Fake-Gebote lautet: »Du darfst deine Arbeitsverhältnisse nicht frei aushandeln.« Beides, die Unterstellung, dass Arbeitsverhältnisse zwischen Konzernen und Arbeitssuchenden frei aushandelbar wären (das Gegenteil ist der Fall – jeder Konzern kann die Suchenden schon an der Pforte wieder nach Hause schicken), und die Darstellung des Juden als Verkünder von Verboten, ist Ausdruck der verkommenen Moral des Schrottkapitals. Die Deutschen Arbeitgeberverbände distanzierten sich flugs von dieser Aktion. 

Ein anderer Krisenfaktor ist die strukturelle Arbeitslosigkeit. Manche Unternehmen werden den Anschluss an die »grüne« Moderne verlieren, außerdem spart die technische Revolution Arbeitszeit ein. »Klar, die Zukunft ist elektrisch, aber wir können nicht einfach 300000  Mitarbeiter nach Hause schicken und mit 20000 wieder eingestellten eine Elektroauto-Firma aufbauen«, sagt Daimler-Chef Ola Källenius. 9 »Absolut wow«. Holger Appel und Susanne Preuß im Gespräch mit Daimler-Chef Ola Källenius, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.9.2020, S. 22.  Die Digitalisierung und der Einsatz von künstlicher Intelligenz werden dort, wo große Datenmengen erhoben, transportiert und zur Steuerung benötigt werden, Arbeitszeit einsparen, das E-Auto besteht aus weniger Teilen, die Fabrikation kommt durch kommunizierende Maschinen mit weniger Personal aus, Funktionen werden von den Zulieferern in die Hauptwerke zurückgeholt, autonom fahrende Mietautos, die per Zuruf bestellt werden können, werden die Anzahl der privaten Autos senken. Ferdinand Dudenhöffer, bis 2020 Professor für Automobilwirtschaft, vermutet, dass die Autobranche ihre Profitabilität bewusst »mit weniger Verkäufen und kleineren Fabriken« steigern will. 10 Ferdinand Dudenhöffer: Sinkende Autorabatte lassen Strategiewechsel erkennen, in: Automobilwoche, 8.9.2020. Gegentendenzen sind die Erweiterung der Märkte durch innovative Techniken, viele neue Berufe, Investitionen durch die Revitalisierung der Profitrate.

Für den Kapitalismus ist Arbeitslosigkeit zunächst ein Vorteil, weil sie den Preis der Arbeitskraft drückt; zu einem Problem wird sie erst, wenn die Gewinne der technischen Revolution von den Kosten der durch sie verursachten Arbeitslosigkeit aufgezehrt werden. »Der Kapitalismus muss sich seinen Opfern widmen, damit sie stillhalten; aber das System wird diese Verluste nur tragen, wenn sie durch die steigende Arbeitsproduktivität kompensiert werden. Wenn der Produktivitätszuwachs selbst zu ausgedehnter und anhaltender Arbeitslosigkeit führt, nützt er nichts mehr: Die durch ihn entstehenden Profite würden von den Kosten der Erhaltung der nicht produktiven Bevölkerung aufgezehrt. Das Kapital hörte auf, als Kapital zu fungieren.« 11 Paul Mattick: Marx und Keynes. Die Grenzen des gemischten Wirtschaftssystems, Frankfurt a. M. 1971, S. 215.

Politische Ökonomie II: Keynesianismus 

Die Grünen fordern vom Staat 500 Milliarden Euro in zehn Jahren für die ökologische Transformation, die Linkspartei will »mit öffentlichen Investitionen den Aufschwung stabilisieren« (im August 2019 mit 120 Milliarden, im Mai 2020 mit 134 Milliarden), der DGB fordert jährlich 45 Milliarden, die IG Metall verlangt, dass der Staat angeschlagenen Firmen »mit Milliarden« hilft. Alle eint der Ruf nach der keynesianischen Staatsnachfrage auf Kredit. Der Staat soll sich bis zur Halskrause verschulden, um mit kreditfinanzierter Nachfrage die von der Pandemie gebeutelte Konjunktur anzukurbeln, marode Betriebe vor dem Ruin zu bewahren, grüne Projekte anzuschieben und Firmen, die beim Tempo der Modernisierung nicht mithalten können, unter die Arme zu greifen. Und das, obwohl die Bundesregierung sich bereits um mehrere Hundert Milliarden verschuldet hat. 

DIE LINKE und Grüne haben schon lange emanzipatorische, vom Kapitalismus befreite, gesellschaftliche Visionen durch den prokapitalistischen Keynesianismus ersetzt. Nicht die Beseitigung des Kapitalismus ist gefragt, sondern – im Gegenteil – seine »Ankurbelung« und »Stabilisierung«. Nicht die Revolution, sondern der Staatskredit soll es richten. Und so kommt es zu dem kuriosen Phänomen, dass Linkspartei und Grüne immer neue Staatskredite fordern, während Neoliberale, die als das Böse schlechthin angeprangert werden, die Staatsnachfrage und -schulden in Höhen treiben, die sich kein Keynesianer je zu fordern getraut hat. In Krisen füttern Regierungen jeder Couleur die Wirtschaft halt mit Geld – ganz unabhängig von Theorien. Dazu braucht es keine Linken, das macht die Europäische Zentralbank. Das politische Pendant zur Förderung des Kapitals ist die Ersetzung der Kritik des Systems durch harmlose Nörgeleien an der Globalisierung und der bürgerlichen Politikform (Neoliberalismus). 

Der Keynesianismus ist nicht nur eine prokapitalistische Theorie, sondern auch eine reaktionäre Ideologie. Er ruft nach dem starken Staat im Dienst des Kapitals, seine Wirkung entfaltet er nur im geschlossenen »Vaterland«, und er wird getragen von der Idee, dass nur der arbeitende Mensch von Wert ist. Weshalb der Keynesianer ihm eintrichtert, er habe sich ohne Arbeit schlecht zu fühlen. Muße, kulturelle Autonomie, Spaß und Spiel haben keinen Platz, alles soll Nachfrage nach Investition und entfremdeter Arbeit sein, um die kapitalistische Mehrwertmaschine anzukurbeln. Dass Menschen sich ohne Arbeit oft wertlos fühlen, ist für Keynesianer nicht Ausdruck der systemischen Indoktrination, sondern naturhaft. Die Tragik der »linken« Keynesianer liegt darin, dass sie vom Kapital, dem sie ihre Hilfe anbieten, ignoriert werden, weil ihre Rezepte wirklich nichts taugen: 

»Der Kapitalismus wird reichen Staaten schwimmende Städte verkaufen und Millionen von armen Menschen den Fluten überlassen. Seine Dynamik ist spektakulär.«

Das Kapital investiert und produziert nur, wenn Profit winkt. Eine höhere Nachfrage vermag den Umsatz zu steigern, aber nicht den Profit, der auf dem Mehrwert der Arbeit beruht. Ein Unternehmen, das nicht profitabel arbeitet, weil es das Personal zu wenig ausbeutet oder mit einem überteuerten Kapitalstock produziert, wird durch Nachfrage nicht profitabel, sondern steigert mit dem Verkauf jeder Ware, die es mit Verlust produziert, den Gesamtverlust. Der Staat, der sich verschuldet, um unprofitable Sektoren am Leben zu halten (die anderen sind darauf nicht angewiesen), muss sich die Mittel für die Schuldentilgung später aus den profitablen Sektoren holen (die anderen haben nichts). Auf diese Weise schichtet der Staat permanent Wert von weltmarktfähigen Sektoren in nicht konkurrenzfähige um, dezimiert den Mehrwert des Gesamtkapitals sowie die gesellschaftlichen Einnahmen und behindert die laufende Sanierung der Profitrate, die auf der Ausmerzung der maroden Sektoren und der Umlenkung von Produktionsmitteln, Personal und Kunden in die profitablen Sektoren beruht. Die EU macht seit Langem die Erfahrung, dass gewaltige Geldmengen (Geldnachfrage) kein Wachstum erzeugen. 

Der kreditfinanzierte Aufschwung ist zudem problematisch, weil der Wert, mit dem der Staat die Wirtschaft ankurbelt, nicht existiert, sondern erst später erwirtschaftet werden muss. Er ist also eine Wette auf künftige Einnahmen, die kommen oder ausbleiben können. Im »deficit spending« sind die Schulden real und die versprochenen späteren Einnahmen eine Fiktion. Da die Nachfrage nicht den Mangel an Mehrwert aufhebt, türmt der Staat bei künftigen Konjunkturdellen springflutartig Schulden auf, die umso heftigere Sparprogramme, Inflationen oder Sonderabgaben nach sich ziehen. Bei den Schulden ist zu differenzieren zwischen Inlandsschulden, die die Abhängigkeit von den eigenen Banken und Sozialsystemen fördern (die USA sind bei ihren Rentenfonds hoch verschuldet), und Auslandsschulden, die durch die Abhängigkeit von Gläubigerländern zu einem Mittelabfluss ins Ausland und einer Verschiebung der internationalen Machtstrukturen führen können. 

Aus all diesen Gründen hält Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing wenig von Kredithilfen des Staates. Ein gewisses Maß an kreativer Zerstörung müsse zugelassen werden, sonst entstehe eine Zombie-Wirtschaft. Hans-Peter Keitel, ehemaliger Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, fordert, dass nur »gesunde« Firmen aus dem Pandemietopf subventioniert werden. Das Geld, das kranken Unternehmen zufließe, werde den wettbewerbsfähigen Sektoren fehlen. Tatsächlich könnten Firmen, denen ein Mindestlohn von 13 Euro bereits zu hoch ist, bald der staatlichen Alimentierung anheimfallen, die dann zulasten der produktiven Sektoren ginge. Das Kapital nimmt zwar Staatsaufträge gern entgegen, bevorzugt aber eine Ökonomie, die ihre Kapitalbildung aus eigenen Gewinnen erwirtschaftet.

Bewusstsein und Attitüde

Der Kapitalismus wird reichen Staaten schwimmende Städte verkaufen und Millionen von armen Menschen den Fluten überlassen. Seine Dynamik ist spektakulär. Als Marx »Das Kapital« schrieb, arbeiteten in der damals führenden Industrienation England 1,7 Millionen Menschen in der Industrie. In dem heute führenden China sind es knapp 350 Millionen. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schrieben, die Vernichtungsfähigkeit des Menschen verspreche »so groß zu werden, dass – wenn diese Art sich einmal erschöpft hat – Tabula rasa gemacht ist. Entweder zerfleischt sie sich selbst, oder sie reißt die gesamte Fauna und Flora der Erde mit hinab.«  12 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Zur Kritik der Geschichtsphilosophie, in: dies.: Dialektik der Aufklärung [1944], Frankfurt a. M. 1969, S. 253–256, hier S. 255. Ist der Mensch so schlimm oder nur der Kapitalismus? Wenn der Mensch so wäre, gäbe es keinen Ausweg, wohingegen der Kapitalismus beseitigt und durch ein System ersetzt werden könnte, in dem der Mensch mit seinesgleichen solidarisch und liebevoll umgeht und den Austausch mit der übrigen Natur behutsam regelt. Dafür hätte das Bewusstsein aber Verhältnisse und Traditionen kritisch zu reflektieren und eine vom Kapitalismus befreite Gesellschaft anzustreben. Damit ist es nicht weit her.

Obwohl wir mit ihm auf den Untergang des Planeten zusteuern sollen, befindet sich der Kapitalismus in einer komfortablen Situation. Mit der Verschärfung der Klassengegensätze scheint sich das Klassenbewusstsein verflüchtigt zu haben. Früher lösten technische Revolutionen Aufstände aus, rangen Arbeiter- und Emanzipationsbewegungen dem System soziale und demokratische Rechte ab, heute preisen Jugendliche in Straßenumzügen den neuen Akkumulationstyp als Beitrag zur Rettung des Planeten und fordern die Verteuerung der Mieten und Waren durch CO₂-Sondersteuern auf den Verkehr und das Heizen. Neben den freundlichen Kids gibt es den bösen Protest, der Verschwörungsformeln brabbelt und gegen Symbole der Demokratie marschiert.

Die Bösen beharren auf Kohle und Diesel, die Freundlichen wollen neue Technologien, beide interessiert nicht, dass der Kapitalismus sich so oder so darüber reproduziert, dass er Menschen in seinen Betriebsdiktaturen ausbeutet, demütigt, entfremdet und in Angst vor dem Existenzverlust versetzt. Als Ausgleich für alle Entbehrungen gibt es Waren, ohne deren Absatz der Kapitalkreislauf nicht funktionieren würde, und soziale Medien zum Pöbeln. Rechte Kreise empfehlen, sich an Migranten schadlos zu halten. Linke, Grüne und Future-Kids sind gefangen im Respekt vor der Marktwirtschaft, die von vornherein alle Möglichkeiten zensiert und Gesellschaften entmenschlicht. Der kapitalistische Markt ist die Übertragung der darwinistischen Naturordnung »fressen und gefressen werden« auf die menschliche Gesellschaft. Er selektiert in permanenter Konkurrenz Firmen, Staaten und Individuen nach wert und unwert und vernichtet das Unwerte. Die Reduktion des Denkens auf die Marktkonformität ist Teil der Bewusstseinsregression, die den Gedanken etwa an eine demokratische Planwirtschaft zur »Rettung des Planeten« ausschließt, obwohl sie womöglich die einzige Chance wäre. Die Marktideologie gestattet es nicht einmal, Unternehmen durch Verbote, Auflagen oder Anordnungen zu zwingen, einen Teil des durch Arbeit erwirtschafteten Werts für grüne Investitionen, niedrigere Emissionen oder Sozialtransfers auszugeben. Sobald ihm etwas auferlegt werden soll, zürnt der Marktgott wider die »Verbotsparteien«.

Im Gegensatz zu den Grünen, die für ihren Schöpfungsmythos gewählt werden, ist die Partei DIE LINKE politisch und theoretisch derart paralysiert, dass sie kaum Kraft nach außen entfalten kann. Ihre inneren Konflikte lassen sich objektiv nicht kitten. Die Risse verlaufen zwischen prowestlichem Flügel und antiamerikanisch-antisemitischem Flügel, zwischen Israels Demokratie und palästinensischem Islamismus, zwischen globalem Welthandel und nationaler Borniertheit, zwischen Sozialismus und Kapitalismus, der als Keynesianismus oder putinscher Oligarchen-Kapitalismus daherkommen kann, zwischen Demokratie und Menschenrecht einerseits und Wertschätzung von Diktaturen in China, Syrien oder Russland andererseits, zwischen Friedenspolitik und russischen Bomben, zwischen einer Migrationspolitik der offenen Grenzen und der reaktionären Wagenknecht-Ideologie, jener seltenen Mischung aus »Keynes«, »Thilo Sarrazin«, AfD-nahen »Gelbwesten«, dem Arbeiter-und-Bauern-Bild der SED und katholischer Familie. 

Deshalb fällt es den Grünen leicht, sich verbal an die Spitze einer Modernisierung zu setzen, die der Kapitalismus aus eigenem Interesse vorantreibt. Gleichwohl schätzt das moderne Kapital den grünen Propagandatyp, der die Vergesellschaftung der Transformationskosten und den Handel mit Verschmutzungsrechten als Bewahrung der Schöpfung feiert. Außer den Grünen käme wohl keiner auf die Idee, dem Kauf von Verschmutzungszertifikaten, den sich nur solche Firmen leisten können, die durch die intensive Ausbeutung der Arbeitskräfte genug Überschüsse erwirtschaften, und der Abwälzung der Kosten für alle Umweltstandards mittels Preisen auf die Allgemeinheit religiöse Weihe zu verleihen. Die grüne Klimapolitik ist im Kern nicht mehr als ein Plädoyer für zusätzliche Einnahmen des Staates ohne »Lenkungswirkung«. Welche CO₂-Einsparung soll denn von einer Verteuerung des Benzins um sechs bis 16 Cent ausgehen, wenn die bisherige Energie- und Mehrwertsteuer von 70 Cent pro Liter ohne Einfluss auf den Autoverkehr geblieben ist? Von 1990 bis 2020 hat sich der Preis für einen Liter Benzin in Deutschland verdreifacht, gleichzeitig stiegen die gefahrenen Pkw-Kilometer von 432 auf 645 Milliarden. Der leichte Rückgang beim Verbrauch ist allein auf die effizientere Fahrzeugtechnik zurückzuführen. 

»Im Kapitalismus bliebe immer verwehrt, was in einer solidarischen Gesellschaft selbstverständlich wäre, dass Menschen ihre Fähigkeiten frei entfalten und ausleben und die Überschüsse so verteilen, dass ein gleiches Niveau der Bedürfnisbefriedigung herrscht.«

Das grüne Wahlprogramm verkauft die Subventionierung der Wirtschaft als »epochale Aufgabe mit inspirierender Kraft« und die Vergesellschaftung der Kosten als Rettung der Schöpfung, die für viele eine »große Herausforderung, ja Zumutung« sein werde. Deshalb ersetzen die Grünen die Losung »Wohlstand für alle« (Ludwig Erhard) durch den »klimagerechten Wohlstand«, der keiner mehr sein wird. Die grüne Politik passt zur industriellen Revolution, in der Investitionen stets zulasten des Konsums steigen. »Je geringer der gesellschaftliche Gesamtkonsum im Verhältnis zum gesellschaftlichen Gesamtprodukt, desto größer der für Akkumulationszwecke gebliebene Mehrwert.«  13 Mattick: Marx und Keynes, S. 64. Andererseits könnte der von den Grünen betriebene soziale Aderlass eine ähnliche Bestrafung nach sich ziehen, wie sie die SPD nach Hartz IV erlebt hat. 

Durch die Attitüde, die Leuten das Gefühl gibt, dass ihr Verzicht ein Beitrag zur Rettung des Planeten sei, erwerben Grüne und Klimabewegte die Lizenz, auf ethische und soziale Kriterien keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen. Und so können sie sich als Lebensretter aufspielen und Sondersteuern erlassen, kann Naomi Klein die Mutter Theresa der Klimabewegung spielen und zum Israel-Boykott aufrufen, 14 Die antiisraelische BDS-Kampagne wirbt im Internet: »Persönlichkeiten wie […] Naomi Klein […] unterstützen BDS«, o. D., unter: bds-kampagne.de/boykott/. kann die aktionistische Gruppe Extinction Rebellion den Aufstand gegen das »Aussterben der Menschheit durch den Klimawandel« ankündigen, während ihr Mitgründer Roger Hallam den Holocaust als »fast normales Ereignis« abwertet und festlegt: »Auch jemand, der ein bisschen sexistisch oder rassistisch denkt, kann bei uns mitmachen.«  15 Mitbegründer von Extinction Rebellion nennt Holocaust »weiteren Scheiß«, Zeit Online, 20.11.2019, unter: www.zeit.de/wirtschaft/2019-11/roger-hallam-extinction-rebellion-mitgruender-klimawandel-holocaust. Wenn der Tod, der nicht aufs Klima zurückzuführen ist, sondern auf Völkermord, Pogrom, Krieg, Vertreibung, Hunger, Folter, Seuche, Männergewalt, Religion, Rassismus, Profit und Eroberung, nichts bedeutet, wundern solche Entgleisungen kaum. Häufig ist die Attitüde des Planetenretters die Lizenz, sonst auf nichts mehr Rücksicht nehmen zu müssen. Früher wurde über die Ökodiktatur spekuliert. Sie ist vermutlich nicht erforderlich. Der Gehorsam und die Ideologie von der planetarischen Rettung genügen, um Menschen einzutrichtern, dass sie sich am Weltuntergang versündigen, wenn sie die Übernahme der Kosten verweigern. 

Der Mensch, der den Austausch mit der Natur ein Berufsleben lang in diktatorischen Arbeitsverhältnissen erlebt, wird erst dann zugleich ein solidarisches Leben und einen schonenden Umgang mit der Natur entwickeln, wenn er anfängt, die Verhältnisse zum Teufel zu jagen. Da der Kapitalismus nicht an seinen inneren Widersprüchen zugrunde geht, sondern nur an einem Bewusstsein, das eine neue Gesellschaft anstrebt, müssen diejenigen, die die Probleme des Klimawandels ernst nehmen, gleichermaßen die Befreiung des Menschen vom Kapitalismus und all seinen Zwängen ernst nehmen und für die demokratische Verfügung über Produktionsmittel, die Aneignung der Zeit, die Aufhebung der Angst vor dem Existenzverlust, das Streben nach Autonomie und den dadurch erst ermöglichten behutsamen Umgang mit der Natur werben. Das eine wird nicht ohne das andere gehen. 

Im Kapitalismus bliebe immer verwehrt, was in einer solidarischen Gesellschaft selbstverständlich wäre, dass Menschen ihre Fähigkeiten frei entfalten und ausleben und die Überschüsse so verteilen, dass ein gleiches Niveau der Bedürfnisbefriedigung herrscht. »Wenn hemmungslose Leute keineswegs die angenehmsten und nicht einmal die freiesten sind, so könnte wohl die Gesellschaft, deren Fessel gefallen ist, darauf sich besinnen, dass auch die Produktivkräfte nicht das letzte Substrat des Menschen, sondern dessen auf die Warenproduktion historisch zugeschnittene Gestalt abgeben. Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und lässt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen.« 16 Theodor W. Adorno: Sur l’eau, in: ders.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a. M. 1951, S. 177–179, hier S. 178.245 Damit wäre auch dem Klima geholfen.

Aus: Valeria Bruschi / Moritz Zeiler (Hrsg.), Das Klima des Kapitals, Gesellschaftliche Naturverhältnisse und Ökonomiekritik, Karl Dietz Verlag Berlin 2022, S. 229–245