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Impfen gegen den Neoliberalismus – Zur politischen Homöopathie der Krisenbewältigung

Die Pandemie hat auch hinsichtlich des Gesundheitswesens lediglich als ein Brennglas fungiert. Anstatt nun jedoch die dramatischen Folgen neoliberaler Gesundheitspolitik auf struktureller Ebene entschlossen anzugehen, fixieren sich die allermeisten öffentlich-politischen Diskurse auf die Impfbereitschaft atomisierter Individuen. Ähnliches mit Ähnlichem zu bekämpfen – das scheint das Motto einer homöopathischen Krisenpolitik zu sein.

Impfungen stellen, daran kann kein ernsthafter Zweifel bestehen, einen wichtigen Beitrag zur Überwindung einer pandemischen Notsituation dar. Zoomt man jedoch einmal aus dem aktuellen politischen Krisenmodus heraus und verlässt die argumentativ-moralische Fixierung auf die Impffrage, so zeigt sich ein differenzierteres Bild. Denn nach nunmehr zwei Jahren der Pandemie wird immer deutlicher, dass das Corona-Virus, ganz wie in anderen Teilbereichen der Gesellschaft, die bestehenden Probleme nicht verursacht, sondern nur verstärkt und sichtbarer gemacht hat. So scheint derzeit einiges dafür zu sprechen, dass die Belastungsgrenzen in deutschen Krankenhäusern immer weniger wegen der Corona-Pandemie erreicht werden. Vielmehr zeigt sich, wie eine Recherche des Bayerischen Rundfunks (Heim und Jerabek 2022) offenlegt, dass zumindest in Bayern mittlerweile die Mehrzahl der Fälle, die als Corona-Fälle gewertet werden, wegen anderen Beschwerden eingeliefert werden. Sie sind entweder nur nebenbei Corona-positiv oder werden erst nachträglich positiv getestet. Sie überlasten nicht wegen, sondern mit Corona die Kliniken.

Ungeachtet der gegenwärtigen Verschärfung der Situation sind wir bereits seit vielen Jahren immer wieder mit medizinischen Versorgungsengpässen in Deutschland konfrontiert. Diese gab es bereits lange vor Corona und sie stehen allem Anschein nach in einem direkten Zusammenhang mit der zunehmenden Verbetriebswirtschaftlichung und Kommerzialisierung des Krankenhauswesens. Ursächlich dafür ist nicht zuletzt die Einführung des DRG-Systems, auch Fallkostenpauschale genannt, im Jahr 2004 durch die damalige SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Auf diese Weise wurde, durchaus willentlich, ein massiver Effizienzdruck in den Krankenhäusern erzeugt, dem viele mittlere und kleinere Kliniken nicht gewachsen sind. Das Resultat ist derart verheerend, dass selbst die Bundesärztekammer im Jahr 2014 in diesem Zusammenhang von einer „Organisierten Körperverletzung im großen Stil“ (Flintrop 2014) sprach.

In der historisch etwas geweiteten Perspektivierung wird also deutlich, dass die medizinische Versorgungskrise nicht nur mit Corona, sondern in ganz erheblichem Umfang auch und insbesondere mit der neoliberalen Gesundheitspolitik der vergangenen rund 20 Jahre zu tun hat. Insofern man nun versucht, die desaströsen Folgen der Vermarktwirtschaftlichung der Daseinsvorsorge durch die Impfbereitschaft einzelner Individuen zu beheben, bekämpft man derzeit Ähnliches mit Ähnlichem – ein Musterfall politischer Homöopathie. 1 Diese Begriffsschöpfung der „politischen Homöopathie“ bezieht sich lediglich auf die Art und Weise, in der das Krisenphänomen auf politischer Ebene angegangen wird. Dass Impfungen als solche medizinisch sinnvoll sind, wird hier nicht in Frage gestellt werden. Dennoch wird man das Problem einer strukturellen Unterversorgung im Gesundheitssektor, das letztlich ein Politisches ist, auf diese Weise nicht in den Griff bekommen.

Manuel Schulz

Manuel Schulz hat jüngst seine Dissertationsschrift am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena eingereicht. Sein Forschungsinteresse gilt neben zeit- und leibphilosophischer Gesellschaftstheorie insbesondere der kritischen Analyse polit-ökonomischer Verhältnisse.

Die medizinische Versorgungskrise ist älter als Corona

Die in Teilen des Landes herrschende strukturelle Unterversorgung im Gesundheitswesen ist, wie einleitend betont, kein neues Phänomen. So waren wir z. B. bereits während der Grippewelle im Jahr 2017 mit einer Überbelastung der deutschen Kliniken konfrontiert. Auch damals fielen zahlreiche Pflegekräfte wegen Ansteckung aus, Patient:innen mussten auf andere Krankenhäuser verteilt und manche Notaufnahmen vorübergehend geschlossen werden (Ärzteblatt 2017).

Lässt man diese zugegebenermaßen außergewöhnlich starke Grippewelle jedoch einmal beiseite, muss das Problem dennoch als ein chronisches verstanden werden. So zeigt eine Studie des Deutschen Krankenhausinstitutes (DKI) zur Situation der Pflege in deutschen Kliniken (Blum et al. 2019), dass die Versorgungslage schon vor Corona und jenseits einer Grippewelle im Regelbetrieb extrem angespannt ist. Beispielsweise gaben bereits vor der gegenwärtigen Pandemie rund die Hälfte aller Kliniken an, offene Stellen im Bereich der Pflege nicht neu besetzen zu können – und das bei insgesamt steigendem Bedarf (ebd.: 67). Darüber hinaus ergab eine weitere Studie des DKI (Blum et al. 2018), dass ein Drittel der befragten Allgemeinkrankenhäuser im Jahr 2017 Verluste gemacht hat (ebd.: 6) und sogar 37 % beurteilten die finanziellen Aussichten für die nähere Zukunft als negativ (ebd.: 9). Besonders dramatisch scheint dabei die Situation in der Kinder- und Frauenheilkunde zu sein. So gaben rund ein Drittel der Kliniken an, dass sie im Jahr 2018 Frauen mit Wehen auf Geburtsstationen wegen Kapazitätsengpässen abweisen mussten (Hillienhof und Maybaum 2020) und im selben Jahr wiesen Expertinnen auf eine massive Versorgungsknappheit in der Kinderheilkunde hin (Osterloh 2018). Dieser Trend bestätigt sich auch im weiter oben bereits herangezogenen Krankenhaus Barometer (Blum et al. 2018: 24ff). Schließlich sanken in den Jahren vor der Pandemie beispielsweise im Raum München die Kapazitäten der inneren Medizin im gemeinsamen Meldesystem für Rettungseinsätze erheblich, und das bei steigenden Fallzahlen (Rittberg et al. 2020). 

Diese Situation findet ihre Ursache in einer dramatischen Unterfinanzierung 2 Insofern dieses Finanzierungsproblem hauptsächlich die Grundversorgung in der Fläche und gerade nicht hochspezialisierte Eingriffe betrifft, müsste im Kontext des DRG-Fallpauschalensystems freilich eher von einer Fehlfinanzierung gesprochen werden. Denn während letztere Behandlungen bei entsprechender Spezialisierung einer Klinik hochprofitabel sein können, ist es selbst bei noch so effizientem Ressourceneinsatz nahezu unmöglich, das vielseitige Leistungsspektrum der Grundversorgung auch nur annähernd kostendeckend anzubieten.  des Gesundheitssektors, die wie erwähnt maßgeblich durch die Verbetriebswirtschaftlichung und Kommerzialisierung des Krankenhauswesens verursacht wurde. Die Fallkostenpauschale (DRG-System) sollte, so das explizite Ziel, mehr Effizienz und Wettbewerb in den Krankenhaussektor bringen. 3 Natürlich ist an der Idee, auch in einem Krankenhaus einen effizienten Ressourceneinsatz zu erreichen, im Grunde überhaupt nichts auszusetzen – im Gegenteil. Auch der damalige Präsident der Bundesärztekammer Montgomery unterschied in diesem Sinne im Jahr 2018 zwischen Ökonomie und Kommerzialisierung, und betonte, dass ein sparsames Haushalten mit Ressourcen eine der Pflichten des medizinisch Tätigen sei (Osterloh 2018). Problematisch wird es jedoch, wie auch Montgomery hervorhob, wenn Betriebswirtschaftlichkeit und Effizienz zu den dominanten Kriterien im Bereich der sozialen Daseinsvorsorge werden (vgl. hierzu auch Schulz 2020).  Mit Blick auf das verheerende Ergebnis dieser finanziellen Strukturreform regt sich seit vielen Jahren nicht zuletzt auch Widerstand aus dem Kreis der medizinischen Berufsverbände:

 Die Kommerzialisierung des Gesundheitssystems hat zu einer Arbeitsverdichtung geführt, die die Patientenversorgung und die Gesundheit der Ärzte gefährdet. Auf einer Tagung der Bundesärztekammer forderten Experten Änderungen am DRG-System – und mehr Widerstand der Ärzteschaft.

Osterloh 2018

Die steigende Relevanz der Betriebswirtschaftlichkeit in der Gesundheitsversorgung ist also ein ebenso beabsichtigtes, wie von Beginn an problematisches Projekt. Folge waren Arbeitsverdichtung, daraus resultierend eine Überlastung des Personals und eine trotz Corona immer noch anhaltende Welle von Krankenhausschließungen (Storn 2022). Emanzipiert  man sich also einmal für einen Augenblick vom aktuellen Krisenmodus und öffnet die Perspektive für eine langfristigere Betrachtung, wird schnell deutlich, dass die Versorgungslage schon vor Corona, also im Regelbetrieb in manchen Teilen des Landes hochproblematisch war. Dies bedeutet dann aber auch, dass die gegenwärtige Situation nur das Symptom eines tieferliegenden Strukturproblems ist. Und in der Tat scheint die Überbelastung der Krankenhäuser im nun beginnenden dritten Jahr der Pandemie nur noch sehr bedingt an den Corona-Fällen zu liegen (vgl. die Recherchen von Heim und Jerabek 2022). Stattdessen ist auch hier, ganz wie in anderen Bereichen gesellschaftlicher Missstände, offenkundig der allerorts betonte Brennglaseffekt zu beobachten. Die aktuelle Überbelastung durch Corona ist ein Symptom, nicht das Problem.

Die Ursache scheint vielmehr darin zu liegen, dass man im Rahmen neoliberaler Gesundheitspolitik seit ca. 20 Jahren ein Modell präferiert und sowohl von Seiten der SPD als auch der CDU/CSU durchgesetzt hat, dass den Gesundheitssektor zunehmend nach den Kriterien von betriebswirtschaftlicher Effizienz und Wettbewerb strukturierte. 4 Die verträumten Argumente der neoliberalen Umstrukturierung des Gesundheitswesens brachte ausgerechnet der nun als medizinisch gebildete Retter in der Not gefeierte Karl Lauterbach 2019 in einem Interview mit der Passauer Neuen Presse auf den Punkt: „Bei weniger Krankenhäusern hätten wir mehr Pflegekräfte, Ärzte und Erfahrung pro Bett und Patient und könnten auf überflüssige Eingriffe verzichten.“ (Passauer Neue Presse 2019)  Was das bedeutet, zeigt uns die aktuelle Versorgungskrise im Gesundheitswesen sehr anschaulich. Denn es ist effizient, die Kapazitätsauslastungen von Kliniken bis an die Einhundertprozentmarke heranzuführen. Ein Angebot an (medizinischen) Dienstleistungen, dass nicht unmittelbar von den Patienten und Patientinnen nachgefragt wird, ist ein Überangebot und damit ein betriebswirtschaftliches Problem. Letzteres verursacht den „Unternehmen Krankenhaus“ laufende Kosten, die schlicht ineffizient und daher zu vermeiden sind (Schulz 2020). Es geht, so ungerne man dies hören mag, bei Betriebswirtschaft nicht um Lebensrettung, sondern um Effizienz – und im Falle privatisierter Kliniken – um Profit im Interesse der Kapitalanlegenden. 

Politische Verantwortung in der kurzen und in der langen Frist

Das Argument der moralischen Verantwortung des Individuums, der pandemischen Krisensituation durch eine Impfung im Interesse der Allgemeinheit entgegenzutreten, war dabei zunächst durchaus überzeugend. In der akuten Notsituation, so haben es auch die allermeisten Menschen in Deutschland ganz offenkundig eingesehen, kann es sinnvoll und gefordert sein, dass sich möglichst viele Menschen impfen lassen – auch wenn sie selbst nicht zu einer Risikogruppe gehören oder sogar Bedenken gegenüber den neuartigen Impfstoffen haben. Auf diese Weise kann die Krankheitslast vorübergehend von den Kliniken genommen und der Kollaps der medizinischen Grundversorgung abgewendet werden. 

Nach nunmehr zwei Jahren, in denen sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung davon angesprochen fühlte und die individuelle Verantwortung ernst nahm, verliert dieses Argument jedoch zunehmend seine Überzeugungskraft. Denn immer mehr Menschen sehen, dass auch im Gesundheitssektor Corona lediglich ein Problem sichtbarer gemacht hat, welches bereits lange vor der Pandemie besorgniserregende Auswirkungen gezeigt hatte. Es besteht in einem Gesundheitswesen, dass ausschließlich auf Effizienz getrimmt und in weiten Teilen von privaten Kapitalinteressen durchsetzt ist. 

Wenn nun aber auf politischer Ebene seit Beginn der Pandemie bislang überhaupt nichts unternommen worden ist, diese strukturellen Probleme und die durch sie verursachte Versorgungskrise zu beseitigen – Im Gegenteil die Schließung von Kliniken wegen betriebswirtschaftlicher Ineffizienz seit dem Beginn der Pandemie munter voranschreitet (Storn 2022) und die Zahl der Intensivbetten, die wegen Personalmangels nicht belegt werden können immer weiter ansteigt (DGIIN 2021) – dann stellen sich viele Menschen berechtigtermaßen die Frage, inwiefern sie eigentlich persönlich noch moralisch verantwortlich  für die aktuelle Notsituation sind? Wenn diejenigen, die in politischen Ämtern Verantwortung für die Dramatik dieser Versorgungskrise tragen, nach zwei Jahren der Pandemie nichts, aber auch gar nichts substanzielles unternommen haben, um der kollektiven Notlage entgegenzutreten, wieso sollte ich mich denn dann weiterhin regelmäßig impfen lassen? Kämpfe ich mit dem Impfen als Einzelner nicht eher insofern gegen Windmühlen, als damit das strukturelle Grundproblem der betriebswirtschaftlich effizienten, aber medizinisch höchst Unzureichenden Gesundheitsversorgung im Land unangetastet bleibt? 

Wie unter Abschnitt 2 gezeigt, sind die Kapazitätsengpässe im Gesundheitswesen in Deutschland älter als die Pandemie. Und glaubt man den Studien des Deutschen Krankenhausinstitutes (Blum et al. 2018; 2019), so wird sich diese strukturelle Unterversorgung in den kommenden Jahren aller Voraussicht nach noch verschärfen. Dieser Einschätzung schließt sich im Übrigen auch die Deutsche Gesellschaft für internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) an. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass ein Drittel aller Intensivpflegekräfte darüber nachdenken, den Beruf zu wechseln, schlägt die Fachgesellschaft insbesondere auch mit Blick auf die Zukunft Alarm, indem sie schreibt:

Die Sektion Pflege der DGIIN befürchtet jetzt eine weitere Verschärfung, welche nicht nur den Betrieb einzelner Intensivstationen gefährden kann, sondern das gesamte Gesundheitssystem an seine Belastungsgrenze bringen wird: Absehbar wird die kritische Personalstärke zur Aufrechterhaltung eines Regelbetriebs dauerhaft unterschritten werden.

Deutsche Gesellschaft für internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin 2021

Betrachtet man diese wissenschaftlich fundierten Einschätzungen der Fachleute über die herrschende medizinische Versorgungskrise im Kontext der aktuell diskutierten politischen Lösungsstrategien, so stellen sich folgende Fragen: Ist es in der mittleren und langen Frist wirklich die vernünftigste Lösung, dass wir uns nun alle mehr oder weniger dauerhaft präventiv-medikamentös behandeln, um nur ja nicht in eines der wegen politischer Untätigkeit überlasteten Krankenhäuser zu müssen? Und darüber hinaus – ist das einzelne Individuum hier wirklich diejenige Instanz, die es im Rahmen der extrem moralisch aufgeladenen Diskurse um die Verantwortlichkeit für überlastete Krankenhausstationen zu adressieren gilt?

Die politische Homöopathie der Krisenbewältigung

Wie gezeigt haben wir es bei der weit verbreiteten medizinischen Unterversorgung auf der strukturellen Ebene mit dem Resultat einer Verbetriebswirtschaftlichung und Kommerzialisierung von Krankenhäusern und anderen Gesundheitseinrichtungen zu tun. Letzteres ist Ausdruck eines gesellschaftspolitischen Projektes, dass gemeinhin Neoliberalismus genannt wird. Neoliberale Politik ist u. a. dadurch gekennzeichnet, dass man versucht alle gesellschaftlichen Teilbereiche nach den Gesetzen des Marktes zu organisieren. Ganz egal worum es im Konkreten geht –  die Kriterien von Effizienz und Wettbewerb sind der Maßstab. Nicht mehr nur noch dasjenige, was man gemeinhin Wirtschaft nennt, soll wirtschaftlich sein. Alles soll wie ein Unternehmen geführt werden, Krankenhäuser, Pflegeheime, Kindertagesstätten, öffentlicher Nahverkehr und sogar der Staat selbst soll mehr und mehr seiner hoheitlichen Aufgaben der Logik des Marktes aussetzen (Stichwort Privatisierung).

Ein zweites ganz zentrales Merkmal neoliberalen Denkens ist darüber hinaus die Verleugnung von gesellschaftlichen Gesamtzusammenhängen. Der Neoliberalismus kennt nur atomisierte Einzelsubjekte.  „There is no such thing as society“, wie Margaret Thatcher diese Denkweise einst auf den Punkt brachte. Jeder Mensch wird auf den Status eines Einzelakteurs reduziert, der sich letztlich am Markt behaupten soll – ganz egal ob Arbeitsmarkt, Heiratsmarkt oder an den vor einiger Zeit neu geschaffenen Märkten für private Altersvorsorge. Jede und jeder für sich, so das Kredo. 

Indem nun die Verantwortung für die Überwindung der aktuell herrschenden Krisensituation im Gesundheitswesen im beginnenden dritten Jahr der Pandemie immer noch auf den oder die Einzelne und deren Bereitschaft sich impfen zu lassen übertragen wird, wird eben dieses neoliberale Verständnis von Gesellschaft weitergeführt. Dabei ist dieser Diskurs über die individuelle Verantwortlichkeit jedoch eigenartig kollektivistisch aufgeladen. Denn mit der eigenen Impfbereitschaft, so das Kredo, schützt man insbesondere die Anderen. Natürlich ist das zutreffend und das Argument erschien zu Beginn der Pandemie wie erwähnt den meisten Menschen auch durchaus plausibel. Indem jedoch immer deutlicher wird, dass wir es bei der medizinischen Versorgungskrise nicht zuletzt auch mit einem strukturellen und vor allem politisch mehr oder weniger bewusst herbeigeführten Problem zu tun haben, erscheint diese diskursive Engführung immer weniger überzeugend. 

Schließlich verweist die gesamtgesellschaftliche Einbettung der Krisensituation, die der vorliegende Text vollzieht, auf eine erstaunliche Analogie. Denn die gegenwärtige politische Agenda besteht darin, die verheerenden Folgen neoliberaler Politik mit noch mehr Neoliberalismus, namentlich der Individuellen Eigenverantwortung vereinzelter Individuen zu bekämpfen. Impfe dich, sonst bist du schuld an den Toten in den überfüllten Kliniken. Wir bekämpfen derzeit also gewissermaßen politisch Ähnliches mit Ähnlichem und folgen damit einem Grundsatz, den man eigentlich eher aus der Homöopathie kennt. Und bleibt man in dieser Analogie, so scheint es auch hier wenig ratsam, ganz wie in anderen medizinischen Fragen, sich angesichts einer existenziell bedrohlichen Situation ausschließlich auf diesen Ansatz zu verlassen.

Fazit

Vergegenwärtigt man sich die aufgezeigten gesellschaftspolitischen Zusammenhänge, so erscheint schließlich auch der immer wieder auftauchende Begriff der „Impfsolidarität“ als ein Euphemismus. Denn solidarisch wäre eine Politik, die die bestehenden Missstände auf struktureller Ebene entschlossen angeht und alle nur erdenklichen Hebel in Bewegung setzt, um die Versorgungskrise, in der wir nicht erst seit Corona stecken, zu bekämpfen. Zwar leistet in einer pandemischen Lage das Impfen wie erwähnt fraglos einen wichtigen Beitrag dazu, es darf jedoch keinesfalls als einziges Auffangnetz für ein Gesundheitswesen dienen, das vom Zweck der gesellschaftlichen Daseinsvorsorge zum Mittel betriebswirtschaftlicher Effizienz- und Profitsteigerung herabgesunken ist.

Die Überwindung der aktuellen Notlage stattdessen dem einzelnen Individuum, sei es durch exzessives Nudging (2G+ Regel) oder letztlich eine drohende Impfpflicht aufzuerlegen, ist ohne die Thematisierung des tieferliegenden Strukturproblems nicht solidarisch, sondern politisch verantwortungslos. Diesen Einsichten folgend stellt die allerorts geführte und extrem polarisierte Impfdebatte schließlich weniger eine Lösung zur Überwindung der Krise, als vielmehr einen Beitrag zur Verdrängung ihrer Ursachen dar. Sie erscheint im dritten Jahr der Pandemie lediglich die Wirkung einer Entpolitisierung bzw. einer Fehlpolitisierung der öffentlich geführten Debatte zu entfalten. Denn den berechtigten Zorn über diese verheerenden Zustände auf diejenigen zu projizieren, die sich aus welchen Gründen auch immer bislang nicht haben impfen lassen, ist fehlgeleitet. 5 Stattdessen ließe sich die durch jede und jeden von uns in den vergangenen zwei Jahren am eigenen Leib erfahrene Bedrohungslage stattdessen politisch-argumentativ nutzen, um eine Umstrukturierung des Gesundheitswesens im Dienste kollektiver Existenzsicherung nicht zuletzt auch gerechtigkeitstheoretisch zu fundieren (vgl. Schulz 2021).  Diese Strategie politischer Homöopathie folgt vielmehr der beschriebenen Logik der neoliberalen Verleugnung gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge. Es wird das vereinzelte Individuum und dessen Handeln für etwas verantwortlich gemacht, namentlich die medizinische Versorgungsknappheit, das in seiner strukturellen Dimension auf dieser Ebene schlicht und ergreifend nicht zu lösen ist.


Literatur

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Blum, Karl; Löffert, Sabine; Offermanns, Matthias; Steffen, Petra (2018): Krankenhaus Barometer 2018. Herausgegeben vom Deutschen Krankenhausinstitut e. V.

Blum, Karl; Offermanns, Matthias; Steffen, Petra (2019): Situation und Entwicklung der Pflege bis 2030. Herausgegeben vom Deutschen Krankenhausinstitut e. V.

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Rittberg, Wendelin; Pflüger, Patrick; Ledwoch, Jakob; Katchanov, Juri; Steinbrunner, Dieter; Bogner-Flatz, Viktoria; Spinner, Christoph D.; Kanz, Karl-Georg; Dommasch, Michael (2020): Zuweisungen von Notfallpatienten an abgemeldete Krankenhäuser (Akutbelegung). Daten aus einer deutschen Großstadt. URL: https://www.aerzteblatt.de/archiv/214555/Zuweisungen-von-Notfallpatienten-an-abgemeldete-Krankenhaeuser-(Akutbelegung). Letzter Zugriff 09.02.2022.

Schulz, Manuel (2020): Haben Beatmungsgeräte einen Grenznutzen? Auf dem Weg zu einer neophänomenologischen Definition existenzieller Güter. In: Sonderheft Corona der Zeitschrift für praktische Philosophie (ZfpP), Band 7, Heft 2. S. 253–278.

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Storn, Herbert (2022): Zur Krankenhauspolitik in Deutschland: Privatisierung und Ökonomisierung führen zu Klinikschließungen. Artikel für Gemeingut in BürgerInnenhand. URL: https://www.gemeingut.org/zur-krankenhauspolitik-in-deutschland-privatisierung-und-oekonomisierung-fuehren-zu-klinikschliessungen/