IMAGO / Panthermedia

Nicht ob, sondern wann ist die Frage?

Bereits heute ist absehbar, dass die zukünftigen Finanzbedarfe mit der Schuldenbremse nicht zu vereinbaren sind. Früher oder später werden die Schuldenregeln also angepasst werden müssen, wie Klaus Seipp in seinem Beitrag zur Schuldenbremse schreibt.

Als die Schuldenbremse 2009 ins Grundgesetz kam, stand Deutschland unter dem Eindruck wachsender Staatsverschuldung. In den frühen Nullerjahren war das Wirtschaftswachstum niedrig und die Arbeitslosigkeit hoch. Dann brach 2008 die globale Finanzkrise aus. Diese führte durch eine Kombination aus einbrechenden Steuereinnahmen sowie massiven Ausgaben für Konjunkturpakete und Bankenrettungen zu einer stark steigenden Verschuldung. Unter diesem Eindruck wurde die heute vieldiskutierte Schuldenbremse eingeführt. 1 Anna Mayr hat in der ZEIT erklärt, dass ein Grund für den Beschluss zur Einführung der Schuldenbremse auch war, dass man sich auf andere wichtige Fragen in der damaligen Föderalismuskommission nicht einigen konnte: https://www.zeit.de/2023/39/schuldenbremse-haushaltsentwurf-christian-lindner-bundesregierung. Die Schuldenbremse ist auf Basis eines Vorschlags vom damaligen Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) in der Föderalismuskommission ausgearbeitet worden.  Ihr Ziel war nicht eine makroökonomisch sinnvolle Fiskalpolitik herbeizuführen, sondern die Begrenzung der Staatsverschuldung. Um dieses Ziel zu erreichen, verabschiedete man eine Regel, die einen sehr engen fiskalischen Spielraum definierte. 

Nach ihrer Einführung konnte man mit der Schuldenbremse zunächst gut leben. In den 2010er Jahren erlebte Deutschland ein Jahrzehnt mit hohem Wirtschaftswachstum, steigenden Steuereinnahmen, sinkender Arbeitslosigkeit und zugleich sinkenden Zinsen. Im Vergleich zu den wirtschaftsschwachen Nullerjahren hatte sich die ökonomische Lage gedreht. 2 Ich habe das an anderer Stelle genauer dargelegt: https://threadreaderapp.com/thread/1728067526993580263.html  Seit 2020 hat sich die Situation allerdings wieder grundlegend geändert. Die Pandemie und ihre wirtschaftlichen Folgen führten dazu, dass die Schuldenbremse erstmals ausgesetzt werden musste. Auch in den beiden Folgejahren wurde eine Notlage und damit die Aussetzung erklärt. Die Bundesregierung plante zudem Finanzierungsbedarfe über Kreditermächtigungen aus den Notlagenjahren zu finanzieren, die im regulären Haushalt der folgenden Jahre nicht abbildbar gewesen wären. Das Bundesverfassungsgericht untersagte dies in seinem Urteil vom 15. November 2023 und stellte die Schuldenbremse maximal scharf. Es ist aber schon heute absehbar, dass die zukünftigen Finanzbedarfe mit dieser eng definierten Schuldenbremse nicht zu bewältigen sein werden.

Klaus Seipp

Klaus Seipp ist ein Ökonom mit den Schwerpunkten Fiskalpolitik, Verteilung und Steuern. Er ist Politikberater und hat für die Grünen und die grüne Bundestagsfraktion gearbeitet. Aktuell ist er im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz tätig.

Investitions- und Transformationsbedarfe sind eine Doppelbelastung 

Die aktuelle Debatte um die Schuldenbremse wird mit Hinweis auf die enormen Investitionsbedarfe geführt. Diese stammen zum Teil aus der Vergangenheit, da Investitionen schon vor der Schuldenbremse vernachlässigt wurden. Die öffentliche Investitionsquote der Bundesrepublik lag in den vergangenen 15 Jahren im Mittel bei weniger als 2,3 Prozent seiner Wirtschaftsleistung. In der OECD liegt Deutschland damit hinter allen anderen großen Industrieländern (siehe Abbildung 1). Die geringen Investitionen reichten in der Vergangenheit nicht aus, um den Werteverzehr der Infrastruktur auszugleichen. Allein in den Kommunen beläuft sich der Investitionsrückstand auf mittlerweile 165 Mrd. Euro

Doch auch die Zukunft kommt mit neuen Bedarfen. Am größten sind die für die Transformation der Wirtschaft hin zur Klimaneutralität. Krebs und Steitz (2021) kommen für die Jahre von 2021 bis 2030 auf die Summe von insgesamt 460 Mrd. Euro. Ein großer Teil davon entfällt auf die Förderung von privaten Investitionen. Gerade hierdurch entsteht eine doppelte Herausforderung für Deutschland. Einerseits müssen zu geringe Investitionen in die Infrastruktur, wie etwa sanierungsbedürftige Schulen und Brücken, nachgeholt werden. Andererseits müssen zusätzliche Milliarden für die Transformation zur Klimaneutralität bereitgestellt werden. 

Abbildung 1, Quelle: OECD, Government at a glance

Aber wie kann Deutschland diese doppelte Herausforderung bewältigen? Oft wird betont, dass 90 Prozent der Investitionen bereits privat erfolgen. Damit ist der private Investitionsanteil in Deutschland besonders hoch. Insgesamt weist die Bundesrepublik aber eine niedrige Investitionsquote auf,  weil öffentliche Investitionen eine Vorbedingung für privates Wirtschaften sind. 3 Im Durchschnitt weisen Länder mit hohen öffentlichen Investitionen eine höhere gesamtwirtschaftliche Investitionsquote auf. Öffentliche Investitionen bremsen privates Engagement nämlich nicht, sondern begünstigten es. Das erstaunt nicht, wenn man bedenkt, dass viele öffentlichen Investitionsausgaben in die Infrastruktur eine Vorbedingung für private Investitionen sind.  Besonders beim Klimaschutz ist ohne öffentliche Förderung deshalb davon auszugehen, dass die privaten Haushalte zu wenig investieren werden, um die Klimaziele zu erreichen. In den Sektoren Verkehr und Gebäude sind sie schon heute für die Zielverfehlung verantwortlich. 

Bei der Industrie ist zu vermuten, dass diese sich auf Klimaneutralität umstellen wird, dies allerdings durch die Verlagerung von Investitionen in andere Länder tun wird. Deutschland steht heute in einem globalen Wettbewerb mit Ländern, die entweder bessere klimatische Bedingungen für die Erzeugung von erneuerbarem Strom haben, und/oder sich nicht davor scheuen, die Industrie mit Milliardensubventionen anzulocken. 4 Auch die Ampel hat gezeigt, wie wichtig ihr die neue Industriepolitik ist. Eine etwa 10 Milliarden große Einzelsubvention für die Chipproduktion Intels in Magdeburg wurde trotz der Haushaltskrise beibehalten. Nicht zuletzt möchte die Ampel nicht nur neue Branchen in Deutschland ansiedeln, sondern auch große Teile der alten energieintensiven Industrie in Deutschland halten. Angesichts von schlechteren Produktionsbedingungen für erneuerbare Energien als in vielen anderen Ländern wird auch dies vermutlich mindestens vorübergehend zu einem Bedarf an expliziten oder impliziten Subventionen führen. Schon heute profitiert die energieintensive Industrie von zahlreichen Sonderregelungen bei den staatlich induzierten Strompreisbestandteilen. Noch wehren sich deutsche Ordoliberale gegen die neue Industriepolitik. Aber nicht aus Kostengründen, denn die von Ihnen propagierte Alternative von deutlichen Steuersenkungen für alle Unternehmen würde sich auf die öffentlichen Haushalte noch zerstörerischer auswirken. In den USA verfährt man nach dem gegenteiligen Prinzip: selektive Subventionen und Investitionsförderungen, die zumindest teilweise durch Steuererhöhungen auch bei Kapitaleinkommen und Unternehmen finanziert werden. Für eine große Volkswirtschaft scheint dies der erfolgsversprechendere Weg.  International scheint es sich längst durchgesetzt zu haben, dass man neue, als zukunftsträchtig angesehene, Branchen staatlich fördern muss, um ihre Standortentscheidungen zu Gunsten des eigenen Landes zu beeinflussen. Insbesondere die USA haben mit dem Inflation Reduction Act gezeigt, dass sie keine Hemmungen haben, auf große Subventionen zu setzen und diese auch mit explizit protektionistischen Elementen (local content) zu versehen.

Ohne die massive Förderung privater Investitionen wird es auch in Deutschland nicht gehen. Eine Kreditfinanzierung ist dem Bund strukturell allerdings nur im Umfang von 0,35% des Bruttoinlandsprodukts erlaubt und den Ländern überhaupt nicht. Da dieser Betrag bereits heute voll ausgeschöpft wird, werden unter der Schuldenbremse zusätzliche Investitionen aus Steuereinnahmen finanziert werden müssen. Nur unter sehr optimistischen Annahmen zum Wirtschaftswachstum könnte dies möglicherweise gelingen. Derzeit hat sich Deutschland ökonomisch aber noch nicht von Corona und der Energiekrise erholt. Auch für die kommenden Jahre wird eine schwache wirtschaftliche Entwicklung vorhergesagt. Der Sachverständigenrat sagt für die Jahre bis 2030 ein Potentialwachstum von weniger als 0,5% pro Jahr voraus. Das Wachstum in den 2010er Jahren war etwa dreimal so stark, selbst wenn man es um die Finanzkrise korrigiert. 

Steuereinnahmen sinken anteilig für den Bund 

Vor allem der Bund gerät bei dieser Doppelbelastung unter Druck. Er ist es nämlich, der die Aufgabe der Förderung privater Investitionen in die Transformation ganz überwiegend übernommen hat. Zu einem Teil wollte er diese über neue Kredite finanzieren. Mit dem Urteil vom 15. November hat das Bundesverfassungsgericht aber einen Strich durch diese Rechnung gemacht. Wachsende Steuereinnahmen könnten ein Ausweg sein, allerdings wird das Wirtschaftswachstum auf absehbare Zeit nicht nur niedriger ausfallen, auch der Anteil der Steuereinnahmen, der an den Bund geht, hat sich stark reduziert. Zuletzt lag er bei nur noch 37,6 Prozent und damit unter dem Anteil der Länder. 

Das hat mehrere Gründe, von denen zwei strukturell sind. Erstens sind die reinen Bundessteuern überwiegend indirekte Steuern, die außerdem mengenmäßig erhoben werden. Die Steuersätze auf Benzin und Diesel liegen z.B. immer noch in der exakt gleichen Höhe wie 2003, nur kann auch der Staat mit 65 Cent heute weniger kaufen als damals. Insgesamt sind die reinen Bundessteuern seit 2003 auch nur um 11 Prozent gestiegen und damit real und als Anteil am BIP zurückgegangen (siehe Abbildung 2). In den letzten Jahren ist dies teilweise durch neu eingeführte Abgaben (CO2-Preis, LKW-Maut) kompensiert worden, die formal nicht als Steuern gelten. Dennoch kann man sehen, dass der Anteil der Steuern und Abgaben auf Energie in Deutschland in den letzten 20 Jahren deutlich rückläufig war. Mit der Abschaffung der EEG-Umlage und der Finanzierung dieser Kosten im Haushalt und dem Stromentlastungspaket für die Industrie setzt sich dieser Prozess fort. 5 Für die nächsten Jahre ist damit zu rechnen, dass die durch diese Maßnahmen entstehenden Mehrkosten durch steigende CO2-Preise ausgeglichen werden können. Ein steigender Finanzierungsbeitrag für andere Aufgaben wie der Transformation ist aus den Steuern und Abgaben auf Energie und Klimaschädigung aber nicht zu erwarten. Würden, wie durchaus wünschenswert und von allen Parteien versprochen, die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung in Form eines Klimagelds schließlich auch an die Bevölkerung ausgeschüttet, dann würde das Energiesystem den Haushalt sogar zunehmend belasten.

Zweitens wirkt sich der derzeitige Finanzföderalismus im Vielparteienstaat zum Nachteil des Bundes aus. Da es in Bundesrat und Bundestag nicht wie früher in einzelnen Jahren auch parteipolitisch gleiche Mehrheiten gibt, kommt es immer öfter vor, dass der Bund Aufgaben übernimmt, aber umgekehrt den Ländern bei den Finanzen Zugeständnisse macht, um damit im Bundesrat Mehrheiten für zustimmungspflichtige Gesetze oder Verfassungsänderungen zu erkaufen. Bei den Gemeinschaftssteuern ist eine Schlagseite zuungunsten des Bundes entstanden. Will eine Bundesregierung sie senken fordern die Länder für ihre Zustimmung eine finanzielle Kompensation. Sollen sie erhöht werden, kann die Opposition im Bundesrat dies ggfls. verhindern und daraus politisches Kapital schlagen. Ohnehin liegt der Bund auch im internationalen Vergleich hinten. Die Steuereinnahmen des Bundes liegen nur bei 11,2% des BIP. Der OECD-Durchschnitt liegt bei 20,6%. Selbst unter den föderal organisierten Staaten hat nur die Schweiz eine finanziell schwächere Bundesebene als Deutschland. 

Abbildung 2: Einnahmen aus Umweltsteuern und Abgaben im Verhältnis zum BIP. Berücksichtigt wurden Energiesteuer, Stromsteuer, Luftverkehrsteuer, Kfz-Steuer, nationaler CO2-Preis, EU-Emissionshandel, LKW-Maut, Haushaltszuschüsse zum EEG-Konto, Strompreiskompensation; Quellen: Bundesfinanzministerium, destatis, eigene Berechnungen.

Aktuelle Ausgaben des Bundes 

Werfen wir einen Blick auf die Ausgaben des Bundes. Wo ist mit zusätzlichen Belastungen zu rechnen und wo kann eingespart werden? Die größten Ausgabenpositionen sind Soziales und Verteidigung. Zusammen stehen sie für über die Hälfte aller Bundesausgaben. 

Für die Verteidigungsausgaben wurde das neue Sondervermögen Bundeswehr außerhalb der Schuldenbremse eingerichtet. Seine Mittel sind allerdings begrenzt und sollten in den kommenden Jahren vollständig verausgabt werden. Selbst mit den Mitteln des Sondervermögens wird das 2%-Ziel der Nato nicht ganz erreicht. Nimmt man aber nur die Ausgaben des Verteidigungshaushalts, belaufen diese sich auf nur 1,3% des BIP und fallen in der Finanzplanung der Bundesregierung relativ weiter ab. Nach Aufbrauchen der Mittel aus dem Sondervermögen werden jährlich über 40 Milliarden Euro zusätzlich benötigt, wenn das 2%-Ziel wirklich eingehalten werden soll. 

Der größte Block im Sozialhaushalt sind die Zuschüsse zur gesetzlichen Rentenversicherung. In den vergangenen 10 Jahren haben sich die Ausgaben für die Rentenversicherung dank der guten Beschäftigungslage günstig entwickelt. Der Anteil der Bundesmittel an die Rentenversicherung im Haushalt ist sogar gesunken. Anders in der Zukunft: Derzeit wird im Rentenversicherungsbericht davon ausgegangen, dass die Bundeszuschüsse von 2023 bis 2037 von 89 auf 147 Milliarden Euro ansteigen werden. Das ist kein dramatischer Anstieg, aber seine Zuwachsrate liegt mit durchschnittlich 3,6% über dem erwarteten Wachstum des BIPs und der Steuereinnahmen. Das liegt daran, dass die geburtenstarke Jahrgänge in den Ruhestand eintreten und die Beitragssätze in der Folge steigen. Ein Anstieg der Beitragssätze führt auch zu einem überproportionalen Anstieg der Bundeszuschüsse zur Rente. Hinzu kommt, dass – auch als Folge vergangener Rentenreformen – die gesetzliche Rente bei Vielen nicht mehr ausreicht und daher Mehrkosten bei der Grundsicherung im Alter entstehen.  

Neben der Rente geht es auch in den öffentlichen Debatten immer wieder um die Ausgaben für Arbeitslosigkeit. Sie weisen zwar starke krisenbedingte Schwankungen vor allem durch Kurzarbeit auf, sind aber seit Mitte der Nullerjahre von über 2 Prozent des BIP auf nur noch knapp 1 Prozent deutlich zurückgegangen (siehe Abbildung 3). Dies ist auf eine gute Beschäftigungsentwicklung zurückzuführen. Da das Existenzminimum verfassungsrechtlich garantiert ist, sollten bei der Leistungshöhe kaum Einsparungen möglich sein. Außerdem ist es schlüssig, dass sich ein gewisser Teil der Langzeitarbeitslosigkeit (aktuell 800.000 Bürgergeldempfängerinnen) als schwer abbaubar herausstellt. Allerdings ist die Mehrheit der Bürgergeldempfänger gar nicht arbeitslos. Von ca. 3,9 Millionen Erwerbsfähigen sind ca. 2,2 Millionen erwerbstätig. Das Bürgergeld ist also weniger eine Sozialleistung für Arbeitslose, sondern eine Hilfe für Menschen mit geringem Einkommen im Verhältnis zu ihrem Bedarf. 6 Um Arbeitsanreize zu erhöhen, wird über eine Absenkung der hohen Transferentzugsraten diskutiert. Zwischen 70 und 100 Prozent der Hinzuverdienste bekommen Empfängerinnen beim Bürgergeld abgezogen. Verbesserungen hier sind wünschenswert, aber aller Voraussicht nach auch teuer. Der Anspruch der bisherigen Aufstockerinnen würde steigen, aber auch die Einkommenshöhe bis zu der ein Anspruch besteht würde steigen und damit viele Bezieherinnen mittlerer Einkommen einen aufstockenden Anspruch erhalten. Es ist unwahrscheinlich, dass die zusätzliche Erwerbstätigkeit diese Kosten ausgleicht.

Abbildung 3: Quellen: Sozialbudget BMAS, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung

Der Bund hat keine sehr großen administrativen Aufwendungen. Beispielsweise hat er mit weniger als 10% Personalausgaben im Vergleich zu Ländern und Kommunen eine sehr geringe Personalquote. Ein großer Teil davon entfällt auf Bundeswehr, Bundespolizei und Zoll. Weitere nennenswerte Ausgaben im Bundeshaushalt betreffen beispielsweise Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur oder aber andere Ausgaben, die als wachstumsfördernd gelten, wie etwa die Forschung.  Auch die politische Debatte um die aktuell noch sehr moderaten geplanten Kürzungen für den Haushalt 2024 zeigen, dass bei Vielen der Eindruck besteht, man könnte relevante Summen einsparen ohne, dass die Bürgerinnen und Bürger das ganz direkt spüren. Dieser Eindruck ist falsch, was sich schon daran zeigt, dass diese Einsparungen zwar oft gefordert, aber nie konkretisiert und quantifiziert werden.  

Die einzige Ausgabenposition, die den Haushalt in den kommenden Jahren wieder nennenswert entlasten könnte, sind die Zinsausgaben. Durch eine ökonomisch falsche Verbuchung von Agien und Disagien sind die Zinsausgaben sehr rasch auf fast 40 Milliarden Euro gestiegen. 7 Vgl. https://www.dezernatzukunft.org/wie-schlimm-ist-die-zinsrampe/  Dieser Effekt ist ein Einmaleffekt. Zusätzlich zeigt auch die inverse Zinsstruktur von Bundesanleihen, dass die Finanzmärkte sinkende Zinsen erwarten. Dafür aber wird es erstmals zu Belastungen durch eine verpflichtende Schuldentilgung kommen. Die Notlagenkredite aus der Pandemie müssen ab dem Jahr 2028 getilgt werden. Nach derzeitiger Prognose des Bundesfinanzministeriums, beläuft sich dieser Betrag auf ca. 11,6 Mrd. Euro ab 2028 und 17,4 Milliarden Euro ab 2031. 8 Die erforderlichen Tilgungen werden sich aufgrund der geringeren Kreditaufnahme durch das Urteil des Verfassungsgerichts nur leicht reduzieren. Im Falle erneuter Notlagen würden sie weiter steigen.  Verrechnet man diese Tilgung mit der strukturellen Kreditaufnahme von 0,35%, ergibt sich das Erfordernis eines nahezu strukturell ausgeglichenen Haushalts in den frühen 2030er Jahren. Es ergibt sich für plausible Zinssätze sogar bis weit in die 2050er Jahre eine höhere Belastung des Bundeshaushalts, als wenn auf eine Tilgung verzichtet würde und nur die Zinsen zu finanzieren wären. Deutschland plant also gerade für die Zeit mit Austerität, in der auch die Transformation zur Klimaneutralität erfolgen muss. 

Politische Veränderungen sind eine Frage der Zeit

Theoretisch ließen sich alle vorhandenen Finanzbedarfe über Steuererhöhungen finanzieren. Es wäre ökonomisch aber unklug, auf eine teilweise Kreditfinanzierung zu verzichten, da eine alleinige Steuerfinanzierung mit geringerem Wachstum einhergehen würde. Hinzu kommt, dass ein nennenswerter Teil der zusätzlichen Bedarfe auf Investitionen entfällt, deren Nutzen auch erst späteren Generationen zugutekommt. 

Vor allem aber ist der Verzicht auf eine Kreditfinanzierung politisch unrealistisch. Die Mitte-Rechtsparteien CDU/CSU und FDP haben in den letzten Jahren immer wieder eine absolute Absage an Steuererhöhungen formuliert und sogar Steuersenkungen durchgesetzt. Sie versprechen gegenwärtig auch weitere Steuersenkungen für die Gutverdiener und Unternehmen. Der Solidaritätszuschlag soll auch für die obersten 10 Prozent der Einkommensbezieher und die Kapitalgesellschaften entfallen. Das ist insofern interessant, als dies die einzige Bundesteuer ist, die mit 12 Mrd. ein relevantes Volumen hat, und der gleichzeitig ein sehr dynamisches Wachstum von 20 Prozent von 2023 bis 2028 vorausgesagt wird. Alle anderen Bundessteuern sollen im gleichen Zeitraum nur um etwa 5 Prozent wachsen.  9 Vgl. letzte Steuerschätzung aus dem Oktober 2023 https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Steuern/Steuerschaetzungen_und_Steuereinnahmen/Steuerschaetzung/2023-10-26-ergebnisse-165-sitzung-steuerschaetzung.html Sowohl CDU/CSU als auch die FDP versprachen in ihren Wahlprogrammen zur letzten Bundestagswahl Unternehmenssteuersenkungen. Allein die angestrebte Senkung der Körperschaftsteuer um 5 Prozentpunkte würde zu Steuerausfällen von 15 Mrd. Euro jährlich führen. 10 Die Hälfte davon würde auf den Bund und die andere Hälfte auf die Länder entfallen. Überträgt man die Steuersenkung auf Personenunternehmen, dann würden die Steuerausfälle noch deutlicher steigen.

Gleichzeitig haben FDP und CDU/CDU sich in einer irrationalen Ablehnung von Staatsverschuldung verrannt. Wenn sowohl Steuererhöhungen als auch Kreditaufnahme zum politischen Tabu erklärt werden, würde das bedeuten, viele der skizierten zukünftigen Herausforderungen nicht anzugehen und gleichzeitig immer schmerzhaftere und unpopulärere Einschnitte im Sozialen vorzunehmen. Dies haben natürlich auch die Strateginnen der Parteien erkannt, aber sie scheuen sich noch vor den Konsequenzen. In gewisser Weise ist man Opfer der eigenen Propaganda geworden, wie man derzeit insbesondere an der FDP beobachten kann. Man hat Wählerinnen jahrelang eingeredet, dass Staatsverschuldung ein schlimmes Übel sei, und ist nun in Gefahr aus dem Bundestag auszuscheiden, wenn man einen realistischeren Weg beschreitet. Auf der politischen Rechten gibt es in dieser Frage das Phänomen des „Wer sich zuerst bewegt, hat verloren“. Solange ein Friedrich Merz (CDU) zur unveränderten Schuldenbremse steht, kann ein Christian Lindner (FDP) keine andere Position einnehmen, ohne Gefahr zu laufen, bei Wahlen abgestraft zu werden.

Gerade für die CDU/CSU ist es mittelfristig nicht sinnvoll, bei ihrer Position zu bleiben. Sie spricht Wählerinnen aus allen ökonomischen Klassen an und müsste in schwierigen Zeiten auch Entscheidungen treffen, die Teile ihrer eigenen Wählerschaft ablehnt. Die Wirtschaft und die Industrie sind für die CDU traditionell besonders wichtig und dort hat man sich schon weitgehend von der Schuldenbremse gelöst. Das wird sich noch verstärken, umso negativer die Wirtschaft von der Haushaltsdisziplin betroffen ist. Die CDU hat sich auch in der bundesdeutschen Geschichte in Krisensituationen immer wieder für eine große Kreditfinanzierung, statt für massive Steuererhöhungen oder Sozialkürzungen entschieden. In der Regierungszeit Helmut Kohls etwa, haben sich die Schulden des Bundes mehr als verdreifacht. Allerdings scheint die derzeitige Führung der CDU durch ihr Bestehen auf die Schuldenbremse zuerst ein Scheitern der Ampelkoalition herbeiführen zu wollen, um danach eine programmatische Wende einzuleiten. 

Abschließend lässt sich festhalten, dass das Festhalten an einer unveränderten Schuldenbremse eine politisch unrealistische Lösung ist. Die Schuldenbremse ist eine zeitinkonsistente Regel. Das meint, dass die politischen Kosten für die Einhaltung der Regel absehbar so groß werden, dass es – auch für diejenigen Politiker, die heute noch beinahe täglich Treueschwüre auf die Schuldenbremse leisten – lohnender ist die Regel zu umgehen oder zu ändern, als daran festzuhalten. In den 2010er Jahren ist dieser Fall nur deshalb nicht eingetreten, weil die ökonomischen Bedingungen so gut waren, dass die Schuldenbremse anstrengungslos eingehalten werden konnte.

Erste Risse im Fundament sind sichtbar

Die Änderung der Schuldenbremse ist noch Zukunftsmusik, doch es gibt schon heute relativ eindeutige Anzeichen, dass sich die politische Stimmung in Deutschland verändert hat. Heute fordert niemand mehr die sogenannte „schwarze Null“, auch in den Unionsparteien nicht mehr. Einige CDU-Ministerpräsidenten haben sich sogar schon für eine Änderung der Schuldenbremse ausgesprochen bzw. sich offen dafür gezeigt. Darunter Kai Wegner, der regierende Bürgermeister in Berlin. Außerdem haben Union und FDP einer Verfassungsänderung bereits zugestimmt. Als beide das Sondervermögen für die Bundeswehr im Bundestag mit den Grünen und der SPD beschlossen, sah dieses eine Ausnahme von der Schuldenbremse vor, nach welcher die Kreditaufnahme keine Tilgung mehr erfordert. Damit haben sich die beiden Parteien von einem zentralen Grundprinzip der Schuldenbremse, dass alle nicht-regulären Kreditaufnahmen zu tilgen sind, bereits verabschiedet.

Doch auch auf europäischer Ebene hat sich mittlerweile einiges getan. So sind die Schuldenregeln des  EU-Stabilitätspakts von den EU-Finanzministern im Dezember 2023 gelockert worden. Das strukturell zulässige Defizit wurde hierbei auf 1,5% festgelegt und liegt damit deutlich höher als das der deutschen Schuldenbremse (0,35%). Derweil gilt der noch striktere EU-Fiskalpakt mittlerweile nur noch auf dem Papier, obwohl er formal noch immer gültig ist. Zahlreiche Länder verstoßen dagegen, doch auch in Deutschland besteht niemand mehr auf seine Durchsetzung. 

Offen ist, welche Reform kommt

Während aus heutiger Sicht klar scheint, dass es zu politischen Änderungen kommen wird, ist schwer vorherzusagen, wie genau diese aussehen werden. Mit seinem Urteil vom 15. November hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass es den Weg einer informellen Lockerung nicht erlauben wird. Formale Änderungen der Schuldenbremse scheinen daher mittelfristig unumgänglich. Dennoch gibt es im heute gültigen Grundgesetz auch Möglichkeiten zur Anpassung. So kann die konjunkturell zulässige Verschuldung durch Regierungshandeln mittels einer anderen Berechnungsmethode bei der Konjunkturkomponente ausgeweitet werden. Ebenso könnte der Staat einen größeren Teil seiner Investitionen in Investitionsgesellschaften auslagern. Wahrscheinlich ist außerdem, dass man die Tilgung weiter verschiebt und/oder streckt. 

Implizit hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil vom 15. November auch entschieden, dass die Klimakrise keine Notlage im Sinne der Schuldenbremse ist. Zugleich ließ es damit die Frage offen, wie Aufgaben bewältigt werden sollen, die zwar vorhersehbar sind, aber ständig vernachlässigt werden. Ungewollt scheinen die Richterinnen mit ihrem Urteil den Weg für ein Sondervermögen für Klimaschutz und Transformation geebnet zu haben. Ein anderer Weg wäre, die generelle Orientierung an einer Nettoinvestitionsregel, wie sie zuletzt der wissenschaftliche Beirat des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz vorgeschlagen hat. Ebenso möglich wäre eine Reform der Strukturkomponente, um eine höhere strukturelle Neuverschuldung zuzulassen. Nach Vorbild des reformierten Europäischen Stabilitätspakts, könnten dies die dort erlaubten 1,5% des BIP sein, die unter realistischen Wachstumserwartungen auch gut zu einer Schuldenquote von 60% passen würden. Ausgeschlossen hingegen scheint eine komplette Abschaffung der Schuldenbremse, weil dieser Schritt für die hartnäckigen Befürworterinnen der Schuldenbremse nicht begründbar wäre. Man muss gesichtswahrend argumentieren können, warum man die Schuldenbremse „modernisiert“ und „an die Bedingungen der Zeit anpasst“, um nicht an politischer Glaubwürdigkeit zu verlieren.

Egal, für welchen Weg die Politik sich entscheidet, man sollte die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Bei der Einführung der Schuldenbremse konzentrierte man sich ausschließlich auf die Frage der Verschuldung. Die ebenso drängende Frage einer immer dysfunktionaleren Finanzverfassung wurde nicht geklärt und ist deshalb umso akuter. Um finanzpolitisch handlungsfähig zu bleiben, muss nun eine rechtssichere Lösung her, die auch vor dem Bundesverfassungsgericht bestehen kann. Noch ist Zeit, um diese Lösung politisch herbeizuführen. Es spricht jedoch einiges dafür, sich nicht zu viel Zeit zu lassen. Bei einer weiteren Zersplitterung des Parteiensystems könnte die Lage sich nämlich zusätzlich verschärfen. In der Vergangenheit hat Deutschland seine Probleme mit Änderungen des Grundgesetzes gelöst, die es in jeder Legislaturperiode gab. Heute muss aber beachtet werden, dass die erforderlichen Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat in Zukunft durch den Aufstieg von populistischen Kräften möglicherweise nicht mehr realistisch sind. Daher sollte die Finanzverfassung in Deutschland eine möglichst umfassende Reform erfahren, die die langfristige Handlungsfähigkeit aller staatlichen Ebenen nicht nur bei Krediten, sondern auch bei Steuern und Ausgaben sicherstellt. Andernfalls könnten Situationen entstehen, in denen populistische Parteien ein nicht unerhebliches Erpressungspotential erhalten, welches sie für die Schädigung des Ansehens der Demokratie nutzen könnten.