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Mit Lieferkettengesetzen zu mehr globaler Gerechtigkeit? Warum die EU jetzt nachlegen muss

Man stelle sich vor, die EU als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt würde wirksam dafür sorgen, Umweltzerstörungen und Menschenrechtsverletzungen in ihren Lieferketten zu verhindern – eine Vision, für die es sich einzutreten lohnt.

Brennende Fabriken, Kinderarbeit auf Plantagen, Ausbeutung im Bergbau, dazu entwaldete Landstriche und andere Formen von Umweltzerstörung: Seit Jahrzehnten weisen zivilgesellschaftliche Organisationen immer wieder auf die katastrophalen Zustände hin, die in den Liefer- und Wertschöpfungsketten einiger Unternehmen herrschen. Viele dieser Dinge geschehen am Beginn der weltweiten Lieferketten – doch ein Blick in deutsche Schlachthöfe oder auf südeuropäische Gemüsefelder zeigt: Unzureichende Arbeits-, Sozial- oder Umweltstandards sind beileibe kein alleiniges Problem des globalen Südens.

Dabei ist spätestens seit der Verabschiedung der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte im Jahr 2011 klar: Unternehmen stehen in der Pflicht, bei ihren Aktivitäten die Menschenrechte zu achten. Und zwar alle Unternehmen – unabhängig von ihrer Größe oder ihrer Branche. Doch die Umsetzung dieser menschenrechtsbezogenen Sorgfaltspflichten war in Deutschland bislang freiwillig. Nach dem Willen der großen Wirtschaftsverbände und der ihnen nahestehenden politischen Akteure hätte das auch noch lange so bleiben können – ungeachtet der äußerst dürftigen Ergebnisse dieses freiwilligen Ansatzes. 

Dem gegenüber standen und stehen die zahlreichen zivilgesellschaftlichen Akteure, die seit Jahren immer wieder das Offensichtliche wiederholen: Freiwillige Ansätze allein führen nicht dazu, dass Unternehmen ihren Sorgfaltspflichten nachkommen. Um ihre Kräfte zu bündeln und Schwung in den festgefahrenen politischen Prozess zu bringen, haben sich diese Akteure im September 2019 zusammengeschlossen und die Initiative Lieferkettengesetz gegründet. Das zu Beginn aus 64 Organisationen bestehende Bündnis ist schnell gewachsen und umfasst mittlerweile 128 Menschenrechts-, Entwicklungs- und Umweltorganisationen sowie Gewerkschaften und kirchliche Akteure. Zwei Jahre lang haben sie sich hinter gemeinsamen Forderungen vereint und gemeinsam für ein Lieferkettengesetz gestritten.

Menschenrechte in Lieferketten: Der Paradigmenwechsel ist gelungen

Ein Einsatz, der sich gelohnt hat: Am 11. Juni 2021 hat der Bundestag das „Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz“ beschlossen. Der Paradigmenwechsel ist damit gelungen: Erstmalig nimmt hierzulande ein Gesetz Unternehmen in die Pflicht, Verantwortung für Menschen und Umwelt entlang ihrer Lieferketten zu übernehmen – und schafft eine starke behördliche Kontrolle und Durchsetzung.

Für die Initiative Lieferkettengesetz ist das ein großer Erfolg – ein Erfolg, der zeigt, wie zivilgesellschaftliche Bündnisarbeit funktionieren kann. Denn die Initiative konnte deutlich machen: Die Frage nach Menschenrechten und Umweltschutz in den Lieferketten ist kein Nischenthema, das nur in Fachkreisen diskutiert wird. Sie ist ein Anliegen, das vielen Menschen unter den Nägeln brennt: Überall in Deutschland fanden und finden Aktionen und Veranstaltungen von Ehrenamtlichen statt. Eine repräsentative Umfrage hat gezeigt: Drei Viertel der Bevölkerung wollen ein Lieferkettengesetz. Mehr als 200.000 Menschen haben eine entsprechende Petition an die Bundeskanzlerin unterzeichnet. Und die Frage nach dem Lieferkettengesetz wurde in praktisch allen großen Medien ausführlich diskutiert.

Johannes Heeg

Johannes ist Sprecher der Initiative Lieferkettengesetz. Das zivilgesellschaftliche Bündnis aus 128 Organisationen umfasst Menschenrechts-, Entwicklungs- und Umweltorganisationen sowie Gewerkschaften und kirchliche Akteure.

»Eine repräsentative Umfrage hat gezeigt: Drei Viertel der Bevölkerung wollen ein Lieferkettengesetz. Mehr als 200.000 Menschen haben eine entsprechende Petition an die Bundeskanzlerin unterzeichnet.«

Ein entscheidender Faktor dabei: Der Initiative ist es stets gelungen, vereint aufzutreten, obwohl sie von Greenpeace über den DGB bis hin zu den Sternsingern ganz verschiedene Akteure umfasst. Das Bündnis hat dabei von der Vielfalt der Mitgliedsorganisationen profitiert, brachten sie doch alle unterschiedliche Perspektiven und vor allem Expertisen ein. Umgekehrt haben die Einzelorganisationen die Forderungen und die Kampagnenelemente dann wiederum dezentral in die Breite getragen. Jede Bündnisorganisation konnte dabei auf die jeweils eigene Stärke setzen – so haben im Rahmen der Initiative Lieferkettengesetz juristische Fachveranstaltungen ebenso stattgefunden wie öffentliche Protestaktionen, Social-Media-Offensiven ebenso wie regionale Informationsveranstaltungen, politische Hintergrundgespräche ebenso wie große Pressekonferenzen. 

Die Forderungen der Initiative Lieferkettengesetz waren dabei unmissverständlich und deutlich – und trotzdem anschlussfähig: Mit großer juristischer Expertise konnte das Bündnis zeigen: Was wir fordern, ist umsetzbar. Unterstützung kam dabei von Ökonominnen und Ökonomen ebenso wie von vielen Unternehmen, die sich in einem gemeinsamen Statement für eine gesetzliche Regelung von Sorgfaltspflichten aussprachen.

Schwachstellen im Lieferkettengesetz: Von Jahr zu Jahr größere Lücken

Unter diesen Gesichtspunkten hat die Initiative Lieferkettengesetz viel erreicht. Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch: Das „Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz“ (LkSG) ist an einigen Stellen enttäuschend schwach ausgefallen. Zur Erinnerung: Schon im Februar 2019 gelangte ein erster Entwurf des BMZ für ein damals noch „Wertschöpfungskettengesetz“ genanntes Vorhaben an die Öffentlichkeit. Im Juni 2020 wurden die Eckpunkte für ein „Sorgfaltspflichtengesetz“ bekannt, auf das sich BMZ und BMAS geeinigt hatten. Vergleicht man diese beiden Dokumente mit dem LkSG aus dem Jahr 2021, so wird deutlich: Von Jahr zu Jahr hat man sich weiter von den UN-Leitprinzipien entfernt, die eigentlich die Grundlage für ein Lieferkettengesetz bilden sollten. Das LkSG selber stuft die Sorgfaltspflichten unnötigerweise entlang der Lieferkette ab, führt keine umfassenden umweltbezogenen Sorgfaltspflichten ein und erfasst viel zu wenige Unternehmen. Besonders bitter: Das Gesetz enthält auch keine zivilrechtliche Haftungsregelung, mit der Betroffene von Menschenrechtsverletzungen vor deutschen Gerichten Schadensersatz von Unternehmen einfordern könnten. Der Zugang zu Recht und Gerechtigkeit bleibt für sie damit weiterhin voller Hürden.

Nächster Schritt: Europa – doch das Vorhaben ist umkämpft

Aus diesen Gründen darf und kann das deutsche LkSG höchstens ein erster Schritt sein. Um die Menschen in den Lieferketten wirklich wirksam vor Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung zu schützen und Gerechtigkeit für Betroffene zu schaffen, müssen zwingend weitere Schritte folgen. Ein solcher Schritt: Ein starkes, europaweites Lieferkettengesetz, das über das deutsche LkSG hinausgeht. In diesem Fall müsste die Bundesregierung das deutsche Gesetz entsprechend nachschärfen – und auch die anderen Mitgliedsstaaten müssten entsprechende Regelungen einführen.  

Der politische Prozess zum EU-Lieferkettengesetz ist bereits in vollem Gange: Schon im Frühjahr 2020 hat der EU-Justizkommissar Didier Reynders einen Entwurf für die „Sustainable Corporate Governance“-Richtlinie angekündigt, der weiterhin aussteht. Im März 2021 legte das EU-Parlament mit einem sogenannten Legislativbericht nach. Darin fordert es die EU-Kommission zu einer Regulierung auf, die in dieser Form deutlich über das deutsche LkSG hinausgehen würde: So sollen keine Abstufungen bei den Sorgfaltspflichten gelten, mehr Unternehmen erfasst, eine eigenständige umweltbezogene Sorgfaltspflicht geschaffen und eine zivilrechtliche Haftungsregelung eingeführt werden.

»Zum Teil sind es die gleichen Akteure, die bereits für die Verwässerung des deutschen Lieferkettengesetzes gesorgt haben und die nun auf EU-Ebene versuchen, das deutsche Lieferkettengesetz als Vorbild für ein EU-Gesetz darzustellen – um auf diese Weise seine Schwächen zu kopieren.«

Doch innerhalb der EU-Kommission gibt es starke Widerstände gegen eine ambitionierte Regelung, auch im europäischen Rat ist mit intensiven Auseinandersetzungen zu rechnen. Beide Institutionen sind einem starken Gegenwind seitens der Wirtschaftslobby ausgesetzt. Wie umkämpft das Vorhaben ist, zeigte sich zuletzt im Dezember 2021, als die EU-Kommission ihren Entwurf für das europäische Lieferkettengesetz erneut verschoben hat. Kurzfristig, ohne Angabe von Gründen und ohne sich klar zum weiteren Zeitplan zu äußern. Offenbar ist mit dem Entwurf nun im Februar oder März 2022 zu rechnen – doch auch dahinter stehen viele Fragezeichen.

Zum Teil sind es die gleichen Akteure, die bereits für die Verwässerung des deutschen Lieferkettengesetzes gesorgt haben und die nun auf EU-Ebene versuchen, das deutsche Lieferkettengesetz als Vorbild für ein EU-Gesetz darzustellen – um auf diese Weise seine Schwächen zu kopieren. Ganz in diesem Sinne hatte auch die CDU in ihr Wahlprogramm zur Bundestagswahl geschrieben, ein EU-Lieferkettengesetz solle „die Standards des deutschen Lieferkettensorgfaltsgesetzes im EU-Binnenmarkt europaweit durchsetzen, aber nicht verschärfen“. 

Wie ernst ist es der neuen Bundesregierung mit dem EU-Lieferkettengesetz?

Immerhin: SPD, Grüne und FDP bekennen sich in ihrem Koalitionsvertrag zu einem EU-Lieferkettengesetz „basierend auf den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte“. Das lässt hoffen, denn: Abstufungen der Sorgfaltspflichten entlang der Lieferkette sind in den UN-Leitprinzipien nicht vorgesehen, ganz im Gegenteil: Sorgfaltspflichten von Unternehmen betreffen deren gesamte Geschäftstätigkeit, also die Lieferkette von der Rohstoffgewinnung bis zur Entsorgung. Außerdem betonen die UN-Leitprinzipien das Recht von Betroffenen auf Wiedergutmachung, wenn sie Menschenrechtsverletzungen durch wirtschaftliche Akteure erlitten haben. Es liegt nun an der neuen Bundesregierung, der EU-Kommission klarzumachen: Menschenrechte und Umweltschutz dulden keinen weiteren Aufschub. 

Die Mission der Initiative Lieferkettengesetz ist deswegen noch nicht beendet: Der EU-Prozess bietet die große Chance, die Lücken im deutschen Gesetz zu schließen. Damit das gelingt, darf das LkSG nicht zur „Blaupause“ für eine europäische Regelung werden. Eine EU-Regulierung sollte vielmehr die besten und wirksamsten Elemente der bestehenden nationalen Gesetze und Gesetzentwürfe integrieren: So enthält der niederländische Entwurf für ein Lieferkettengesetz eine umfassende Definition von Wertschöpfungsketten. Das französische „Loi de Vigilance“ sieht eine zivilrechtliche Haftungsregelung vor. Und das deutsche Lieferkettengesetz zeigt, wie eine behördliche Durchsetzung wirksam geregelt sein kann. 

In der Zusammenführung dieser Elemente liegt eine gewaltige Chance: Man stelle sich vor, die EU als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt würde wirksam dafür sorgen, Umweltzerstörungen und Menschenrechtsverletzungen in ihren Lieferketten zu verhindern – eine Vision, für die es sich einzutreten lohnt. Die Initiative Lieferkettengesetz wird der neuen Bundesregierung deswegen genau auf die Finger schauen: Sie darf diese einmalige Chance nicht durch eine Blockadehaltung im Europäischen Rat verhindern. Als es um das deutsche Lieferkettengesetz ging, haben sich SPD und Grüne für strengere Regelungen stark gemacht. Im Koalitionsvertrag haben sie das mit Blick auf den EU-Prozess noch einmal bekräftigt. Sie haben nun die Gelegenheit zu zeigen, wie ernst es ihnen damit ist.