CDU, Fotograf: Peter Bouserath, CC BY-SA 3.0 DE, via Wikimedia Commons
Volksparteiendämmerung: Die Christdemokratie
Die Christdemokratie steckt in einer strukturellen Krise: Fabio Wolkenstein erklärt in seinem Beitrag, was die Christdemokratie in der Nachkriegszeit stark machte – und warum dieses Erfolgsmodell heute brüchig geworden ist. Ein Blick auf Aufstieg, Krise und Zukunft der Christdemokratie in Deutschland.
Es gilt längst als Gemeinplatz: Die ehemals mächtigen und selbstbewussten Volksparteien stecken in einer tiefgreifenden Krise – allen voran die Christdemokratie . Tagespolitische Turbulenzen wie etwa die »Koalitionskrise« nach der geplatzten Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin oder der CDU-interne Konflikt um das Rentenpaket müssen aus dieser Perspektive auch als Symptom einer allgemeinen »Erschöpfung« der deutschen Christdemokratie und des Konservatismus insgesamt verstanden werden: eines inhaltlichen Substanzverlusts, der die Unionsparteien orientierungslos erscheinen lässt und es ihnen außerdem erschwert, entschieden auf den immer erfolgreicheren Rechtsnationalismus der AfD zu reagieren. 1 Thomas Biebricher, Geistig-moralische Wende. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus, Berlin 2018. Wie kam es dazu, und wie kann es weitergehen?
Die Tragweite dieser Frage wird deutlich, wenn man sich im historischen Rückblick die zentrale Rolle gemäßigt-konservativer Parteien bei der Stabilisierung demokratischer Systeme vor Augen führt. Sei es im Großbritannien des späten 19. Jahrhunderts oder im Westeuropa der Nachkriegszeit: Demokratien festigten sich in der transatlantischen Welt dort, wo konservative Kräfte die radikale, antidemokratische Rechte einhegen und zugleich ein attraktives politisches Angebot für breite Wählerschichten formulieren konnten. 2 Daniel Ziblatt, Conservative Parties and the Birth of Democracy, Cambridge 2017. Ein Konservatismus ohne klaren demokratischen Kompass ebnet hingegen häufig den Weg in die Autokratie. Dies galt früher wie heute, wie das Beispiel Ungarns eindrücklich zeigt: Dort hat die ehemals gemäßigt-konservative Fidesz-Partei in einem beispiellosen Prozess der Selbstradikalisierung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ausgehöhlt. 3 Fabio Wolkenstein, Die dunkle Seite der Christdemokratie. Geschichte einer autoritären Versuchung, München 2022. Die US-amerikanischen Republikaner gehen unter Donald Trump einen ähnlichen Weg.
Zwar steht Deutschlands liberale Demokratie nicht am Rande eines Zusammenbruchs, wie es manche alarmistische Diagnose suggeriert. Doch auch ohne apokalyptische Aussichten bleibt ein gemäßigter Konservatismus ein entscheidender Baustein liberaler Demokratien. Idealerweise fungiert er nicht nur als Schutzwall gegen seine antidemokratische Varianten, sondern auch als pragmatischer Problemlöser mit spezifischen Stärken, etwa in Wirtschaftsfragen. Man muss insofern nicht selbst Konservativer oder Christdemokrat sein, um über die benannte Krise des gemäßigten Konservatismus in Sorge zu sein.
Christdemokratische Bewährungsjahre
Die Nachkriegsjahrzehnte waren die Blütezeit der Christdemokratie. In Deutschland, Österreich, Italien, Belgien, Luxemburg und den Niederlanden prägten christdemokratische Parteien Politik und Gesellschaft – bis zum Aufstieg des Gaullismus auch in Frankreich. Ihr Erfolgsmodell beruhte auf breiten Interessenskoalitionen. In der CDU etwa fanden christlich-soziale »Herz-Jesu-Sozialisten«, wirtschaftsnahe Industrielle, Bauern und liberalkonservative Protestanten unter dem gemeinsamen Nenner des »C« zusammen. Zugleich integrierten die Christdemokraten ehemalige Nationalsozialisten und andere Gegner der Weimarer Demokratie in das neue demokratische System.
Dass diese heterogenen Koalitionen Bestand hatten, lag an drei Faktoren. Erstens waren autoritäre Konservatismen nach 1945 weitgehend diskreditiert. Zweitens schweißte der Kommunismus als gemeinsamer Gegner die unterschiedlichen Lager zusammen (nicht zufällig waren die Wahlplakate der CDU in den späten 1940er- und 1950er-Jahren voller antikommunistischer Slogans und Motive). Drittens profitierten die Christdemokraten als Regierungspartei vom wirtschaftlichen Aufschwung. Die von ihnen beschrittenen politischen Pfade waren offensichtlich erfolgreich, sodass viele inhaltliche Differenzen entschärft wurden.
Fabio Wolkenstein
Programmatisch ruhte die Nachkriegschristdemokratie – neben ihrem ausgeprägten Antikommunismus – auf drei Grundpfeilern: der Sozialen Marktwirtschaft, dem Familialismus und der Europäischen Integration. 4 Fabio Wolkenstein, »From Social to Neoliberal Capitalism: Programmatic Adaptation and the Passage to Post-Christian Democracy«, in The Routledge Handbook of Christian Democracy, hrsg. v. Rosario Forlenza/Udo Zolleis, London, i.E. Die Soziale Marktwirtschaft, eine Idee mit sowohl protestantischen als auch katholischen Genealogien, verband wirtschaftliche Wettbewerbsorientierung mit sozialstaatlicher Absicherung. 5 Kees van Kersbergen, Social Capitalism: A Study of Christian Democracy and the Welfare State, London 1995. Der prononciert konservative Familialismus betrachtete die (patriarchale) Kernfamilie als schutzbedürftige Keimzelle der Gesellschaft. Die Europäische Integration, die von Anbeginn eine klare christdemokratische Handschrift trägt, sollte Frieden sichern und stellte auch ein geopolitisches Gegenmodell zur Sowjetunion und mitunter sogar zu den USA dar. 6 Ronald J. Granieri, The Ambivalent Alliance. Konrad Adenauer, the CDU/CSU, and the West, 1949-1966, New York 2003.
Über diese drei Paradigmen wurde durchaus rege debattiert: Wirtschaftsliberale Protestanten stritten mit wohlfahrtsstaatlich orientierten Christlich-Sozialen über das Wesen der Sozialen Marktwirtschaft; die sogenannten »Gaullisten« wollten Europa zu einer dritten geopolitischen Macht machen, während die »Atlantiker« eine starke militärische und kulturelle Bindung Europas an die USA bevorzugten. Doch trotz aller Kontroversen hielt das christdemokratische Zentrum, auch als in den 1960er-Jahren ein gesellschaftlicher Wertewandel in der transatlantischen Welt einzusetzen begann: »Postmaterialistische« Anliegen wie Selbstverwirklichung, Teilhabe, Gleichstellung und Ökologiegewannen für viele Wähler gegenüber traditionell konservativen »materialistischen« Prioritäten wie Wirtschaftswachstum, Recht und Ordnung oder eine starke Landesverteidigung an Bedeutung. Dies stellte konservative Parteien allerorts vor neue Herausforderungen. 7 Tim Bale/Cristóbal Rovira Kaltwasser (Hrsg.), Riding the Populist Wave. Europe’s Mainstream Right in Crisis, Cambridge 2021. Sie mussten Wählern mit vorwiegend »postmaterialistischen« Präferenzen ein elektorales Angebot machen, ohne dabei konservativere Wähler mit traditionelleren Einstellungen zu verprellen. Diese Herausforderungen konnten die Unionsparteien erstaunlich lange meistern; sie absorbierten sogar Impulse der Studentenbewegung. 8 Anna von der Goltz, The Other ‘68ers: Student Protest & Christian Democracy in West Germany, Oxford 2021. Die Programmatik wurde moderner, ohne den Kern völlig preiszugeben. 9 Fabio Wolkenstein, »Between ‚Progressive Realism’ and Conservative Internationalism: The Transformation of Austrian and West German Christian Democracy in the 1970s«, in Conservatism, Christian Democracy, and the Dynamics of Political Transformation in North-West Europe, 1945-90, hrsg. v. Gary Love/Christian Egander Skov, Manchester 2025, S. 215-234. Konservativere Wähler fanden in Franz Josef Strauß oder Alfred Dregger weiterhin starke politische Vertreter.
Dennoch hat sich das konservativste Wählersegment langsam von der Christdemokratie entfremdet und rechten Alternativen zugewendet – die Person Alexander Gauland steht symbolisch für diese Entwicklung. Spätestens mit Angela Merkels Flüchtlingspolitik schien ihre ehemalige politische Heimat für sie verloren, da zu links und »sozialdemokratisiert«. Dass die Flüchtlingspolitik in dieser Selbsterzählung zum zentralen Maßstab für den konservativen Charakter der Unionsparteien verabsolutiert wird, sagt einiges aus. Schließlich könnte man Merkels Entscheidungen auch als authentisch christliche Antwort auf eine humanitäre Krise betrachten.
Konservative Fliehkräfte
Es ist wahrlich bemerkenswert, wie lange CDU und CSU rechts der Mitte konkurrenzlos blieben. In zahlreichen anderen europäischen Ländern erstarkten »neurechte« bzw. »rechtspopulistische« Parteien wie der Front National oder die FPÖ schon in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren. 10 Vgl. Thomas Biebricher, Mitte/Rechts. Die internationale Krise des Konservatismus, Berlin, 2023. Inzwischen ist die AfD jedoch fest etabliert und dominiert die Debatte in Politikfeldern, von denen viele einst zum Kernrepertoire der Christdemokratie zählten – etwa bei Wertefragen und der Europäischen Integration. Beim Reizthema Migration, wo die AfD mit immer radikaleren Forderungen vorprescht, erscheinen die Unionsparteien reaktiv und planlos. Die punktuell verschärfte Rhetorik bei Migrations- und Integrationsfragen wirkt getrieben und unbeholfen (Stichwort »Stadtbild«). Ob damit AfD-Wähler (und diejenigen, die es bald werden könnten) überzeugt werden können, ist fraglich.
Nun könnte man einwenden, die gelegentliche Appropriation einer an den »Rechtspopulismus« der AfD erinnernden Sprache sei lediglich Ausdruck des der Christdemokratie eigenen Pragmatismus; um ihrem Anspruch als Volksparteien gerecht zu werden, müssen sie schließlich dynamisch auf Veränderungen in der öffentlichen Meinung reagieren. Aktuell bedeutet das, auf der Welle der negativen Stimmung gegenüber Einwanderung und Multikulturalismus mitzureiten. Das ist jedoch nicht so einfach, da die AfD in diesen Fragen die absolute Themenführerschaft hat und die eigene Wählerschaft keineswegs vereint hinter einer restriktiveren Migrations- und Integrationspolitik steht. 11 Vgl. Simon T. Franzmann/Heiko Giebler/Thomas Poguntke, »It’s no longer the economy, stupid! Issue yield at the 2017 German federal election«, in: West European Politics 43/3 (2020), S. 610-638. Eine Alternative wäre, sich aktiv und nicht reaktiv zu positionieren, also nicht die AfD zu kopieren, sondern selbst einen neuen Weg vorzuzeichnen. Dies ist bei einer so emotionalisierten und moralisierten Debatte freilich keine leichte Aufgabe.
Das Gleiche gilt auch für die neuen »Kulturkampfthemen« wie »Wokeness«, Gendern sowie Fragen der Sexualität und Identität. Diese sind für die Christdemokraten besonders schwierig zu meistern. Erstens verunmöglicht die mediale Aufmerksamkeitslogik hier schlichtweg jede Besonnenheit. Nur eindeutige Pro- oder Kontrapositionen scheinen in der Öffentlichkeit Gehör zu finden, was wiederum der AfD (und zum Teil dem BSW) auf der einen und den Grünen auf der anderen Seite zugutekommt. Für die Christdemokraten ist es schwer, sich in einem solch ambiguitätsarmen Raum zu bewegen. Das liegt – zweitens – daran, dass der bereits erwähnte liberalisierende Wertewandel auch christdemokratische Parteien verändert hat und es für sie somit schwieriger wird, sogenannte »traditionelle« Wertvorstellungen zu vertreten um besonders konservative Wählersegmente zufriedenzustellen. Warum sollten Christdemokraten etwa homosexuelle Ehen ablehnen, wenn selbst der eigene Fraktionschef diese Realität lebt? Ja, es gibt inzwischen ein breites Spektrum an »wertliberalen« Positionen, die auch Parteien des gemäßigten Konservatismus glaubhaft vertreten können. Dazu müssen sie weder im emphatischen Sinne »woke« noch plakativ »anti-woke« sein.
Die vielleicht größte Herausforderung ist jedoch, dass die Union als Verteidigerin eines Status quo gilt, dessen offensichtliche Probleme – wirtschaftliche Stagnation, Ungleichheit, Infrastrukturverfall und Überbürokratisierung – sie wesentlich mitverantwortet. Die AfD hat hingegen das Momentum des Angreifers und kann Erneuerung versprechen. Wer in dieser Lage keine klare Sprache und Agenda findet, die nicht wie von der AfD diktiert daherkommt, verspielt langfristig auch den letzten Vertrauensvorschuss gemäßigt-konservativer Wähler. Doch in welche Richtung sollte sich die deutsche Christdemokratie künftig orientieren?
Konservative Revolution oder Koalitionsbildung als Prinzip: Christdemokratische Zukünfte.
Eine mögliche Antwort könnte lauten, dass der Zeitgeist christdemokratischen Parteien unweigerlich eine Reorientierung nach rechts abverlangt. Traditionell-konservative Leitbilder – von der patriarchalen Kernfamilie über das selbstbewusste und »wehrhafte« Christentum bis hin zur nationalstaatlichen Autarkie – erleben weltweit eine bemerkenswerte Renaissance. Vieles davon könnte unter Berufung auf die konservativen Wurzeln der Christdemokratie – nicht zuletzt den Familialismus und die Idee des christlichen Abendlandes, die eng mit dem Projekt der Europäischen Integration verflochten war – wieder in die Leitlinien der Unionsparteien einfließen. Damit wäre natürlich auch der Weg für eine Zusammenarbeit mit der AfD geebnet. Für Vertreter des konservativen CDU-Flügels wie den Historiker Andreas Rödder ist die »Brandmauer« ohnehin ein »eiserner Käfig«, den es zu durchbrechen gilt. 12 Mark Siemons, »Der Flirt mit der Disruption«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Mai 2025, verfügbar online unter https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/andreas-roedder-und-die-zukunft-des-konservatismus-110465707.html (Zugriff am 6. Dezember 2025).
Dass mit dem Abtragen der Brandmauer noch nicht das Ende der Demokratie eingeläutet wäre, zeigen Beispiele aus anderen europäischen Ländern, denen in Deutschland für gewöhnlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Auch Österreichs Demokratie hat mehrere Regierungskoalitionen von Christdemokraten und »Rechtspopulisten« überstanden. Die entscheidende Frage ist, ob durch eine stärkere Akzentuierung des konservativen Profils und eine Öffnung zur AfD nicht zugleich andere Teile des christdemokratischen Wählerbündnisses verloren gingen – und wenn ja, an wen. Schließlich gibt es nach wie vor eine breite und heterogene Klientel, die die Christdemokratie in erster Linie als Kraft der bürgerlich-demokratischen Mitte begreift – was in einer ersten Minimaldefinition bedeutet, dass sie aus Prinzip Äquidistanz zu den Extrempolen wahrt. Für diese Gruppe wäre eine »konservative Revolution« innerhalb der Partei sowie eine Öffnung gegenüber der AfD gewiss ein Affront. Noch ist die AfD in der Mehrheitsgesellschaft nicht salonfähig – was sich jedoch auch bald ändern könnte.
Der legitime Ruf nach einer klareren programmatischen Linie muss jedoch nicht durch ideologische Vereindeutigung beantwortet werden. Die christdemokratischen Volksparteien haben eine pluralistisch-zentristische DNA; sie definieren sich nicht nur über eine bestimmte programmatische Achse – weder über ein konservatives Traditionsnarrativ noch über eine rein wirtschaftsliberale Agenda. In Anlehnung an einen Gedanken Carl Schmitts kann, ja muss die Christdemokratie eine »complexio oppositorum«, ein Komplex von Gegensätzen, sein – und aus deren Integration politische Stärke gewinnen. 13 Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, Stuttgart 1923. So war es bereits in der Nachkriegszeit. Ein Korrespondent einer französischen Zeitung bemerkte damals mit einer Mischung aus Faszination und Verwunderung über die deutschen Christdemokraten:
Diese Partei ist in Berlin sozialistisch und radikal, in Köln klerikal und konservativ, in Hamburg kapitalistisch und reaktionär und in München konterrevolutionär und partikularistisch.
Zit. n. Christoph Kleßmann, Die Doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte, 1945-1955, Bonn, 1991, S. 143.
Dementsprechend müsste die programmatische Erneuerung der Christdemokratie weiterhin als Projekt der Koalitionsbildung in der politischen Mitte gedacht werden. Diese »Mitte« ist zunächst keine objektive Größe, sondern ein regulatives Ideal: Sie beschreibt das, was durch die Integration unterschiedlicher Forderungen und Positionen entstehen soll. Extrempositionen und Alleingänge einzelner Gruppen sind damit ausgeschlossen. Gleichzeitig gibt es natürlich reale gesellschaftliche Milieus, die man plausibel als »Mitte« bezeichnen kann – sei es im rein ökonomischen Sinne als Bezieher durchschnittlicher Einkommen oder hinsichtlich ihrer politischen Präferenzen (in der Politikwissenschaft bezieht man sich gern auf die Figur des »Medianwählers«). 14 Vgl. Frances McCall Rosenbluth/Ian Shapiro, Responsible Parties. Saving Democracy From Itself, New Haven 2018. Diese Milieus sind nicht deckungsgleich mit den Wählern und Funktionären der Unionsparteien; für die deutsche Christdemokratie ist es jedoch überlebenswichtig, sie weitherhin erreichen zu können. Dies kann gelingen durch die Stärkung industrieller Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft, Investitionen in öffentliche Infrastruktur und eine Familienpolitik, die zeitgenössischen Lebensrealitäten gerecht wird (also: Kitas statt tradwives). Nur die Verbesserung der Lebensumstände konsolidiert und reproduziert jene Milieus der »Mitte«, die die Christdemokratie letztlich elektoral tragen. Mit einem Einschwenken auf rechte Kulturkampfthemen könnte man zwar kurzfristig so manchen Wähler mobilisieren, strukturelle Probleme, die breite Bevölkerungsschichten betreffen, wären damit aber nicht gelöst.
Diese Überlegungen zu möglichen programmatischen Pfaden der Christdemokratie dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass derzeit praktische Herausforderungen die intellektuellen überlagern. So notwendig der viel beschworene »Wertekompass« ist, den die CDU mit ihrem neuen Grundsatzprogramm gerade erst neu zu verschriftlichen bemüht war: In den kommenden Jahren wird sich die deutsche Christdemokratie als Kanzlerpartei weniger an ihren Worten als an ihren Taten und deren Ergebnissen messen lassen müssen: daran, ob es ihr gelingt, die Wirtschaft zu beleben, die Infrastruktur zu modernisieren, eine robuste europäische Verteidigungsarchitektur mitzugestalten, etc. In dieser Hinsicht besteht tatsächlich eine Parallele zur Gründungszeit der Christdemokratie nach 1945: Damals gelang es ihr, eine breite Koalition der Mitte zu formen, weil sie Stabilität und Wohlstand schaffte – und angesichts der Bedrohung durch die imperiale, totalitäre Sowjetunion auch die Verteidigungsfrage klar beantwortete. Programmdebatten, die in der CDU ohnehin erst in den 1970er Jahren an Fahrt gewannen, waren damals zweitrangig gegenüber realen politischen Erfolgen.
Solche historischen Analogien sollten gleichwohl nicht überstrapaziert werden. 2025 ist nicht 1945 (und übrigens auch nicht 1933). Doch leben wir unbestreitbar in einer Zeit, in der die traditionelleren Sorgen um Wohlstand und Sicherheit, auf die die Christdemokratie in der Nachkriegsära so wirkungsvoll antworten konnte, wieder mindestens ebenso virulent sind wie die »postmaterialistischen« Anliegen zu Teilhabe und Selbstverwirklichung. Die Stärke einer Volkspartei sollte darin bestehen, all diese Anliegen zu verbinden und integrieren zu können – und je nach Problemdruck bestimmte Prioritäten zu setzen, etwa Wirtschaftswachstum und Verteidigung. Die Christdemokraten müssen sich jedoch dieser Stärke bewusst sein, statt sich davon unter Druck setzen zu lassen, dass sie nicht nur ein oder zwei markige Themen haben, mit denen sie der AfD die öffentliche Aufmerksamkeit strittig machen können.
Letztendlich könnte man also argumentieren, dass es im Kern auch um die Frage geht, ob die Unionsparteien in ihrem Selbstverständnis weiterhin Volksparteien der Mitte bleiben wollen – oder ob sie ihr Profil für ganz andere Koalitionen akzentuieren möchten. Auch »MAGA« ist schließlich eine erfolgreiche konservative Koalition, jedoch sicherlich keine Koalition der Mitte, sondern eine Koalition neurechter, evangelikaler Kräfte. Wenn die Union sich selbst treu bleiben will, sollte sie sich auch unter dem Druck der AfD nicht von ihrem Anspruch entfernen, für deutlich mehr zu stehen als das allerkonservativste Milieu im bürgerlichen Lager. In jedem Fall muss sie politische Ergebnisse liefern, statt nur einen offensichlich bröckelnden Ist-Zustand zu verwalten. Adenauers berühmter Slogan »Keine Experimente« trug die CDU 1957 noch zum Wahlsieg. Mit diesem Geist werden die Christdemokraten nicht so bald wieder Mehrheiten mobilisieren können.