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Exportieren oder Stagnieren? Das deutsche Wachstumsmodell in der Krise 

So fragwürdig die amerikanische Zollpolitik auch erscheinen mag, die Vorwürfe der Trump-Regierung gegenüber der Bundesrepublik haben einen wahren Kern: Jahrzehntelang basierte das deutsche Wachstumsmodell darauf, die Binnennachfrage zu bremsen und der Exportindustrie Handelsvorteile zu verschaffen. Damit könnte nun Schluss sein.

»Jahrzehntelang wurde unser Land geplündert, gebrandschatzt, vergewaltigt und ausgeplündert, von nahen und fernen Nationen, von Freunden und Feinden gleichermaßen«, wütete US-Präsident Trump bei der Verkündung seiner Zoll-Pläne Anfang April. Etwas nüchterner wurde in den zeitgleich veröffentlichten Grundzügen einer »America First« Handelspolitik ausgeführt: »unsere Handelspartner verfolgen eine intentionale Politik der Konsumreduzierung« um »unfaire Handelsvorteile gegenüber den Vereinigten Staaten zu erlangen«. 1 Wer sich für den konzeptionellen Unterbau dieses politischen Projektes interessiert, kann sich die Anleitung zur Restrukturierung des Welthandelssystems anschauen. Stephen Miran macht eine dauerhafte Überbewertung des Dollars und die damit einhergehende geringe Konkurrenzfähigkeit US-amerikanischer Exporte als Hauptwurzel internationaler Ungleichgewichte aus.

Wie unzählige seit dem Frühjahr erschienene Kommentare belegen, lässt sich trefflich über den Sinn der aktuellen US-Außenhandelspolitik streiten. Dieser Beitrag richtet den Blick hingegen nach innen. Trumps Vorstöße haben auch in Deutschland Währungsfragen und Leistungsbilanzungleichgewichte ins politische Rampenlicht gerückt. Wenn die amerikanischen Zoll-Eskapaden auch inkonsistent und unterkomplex erscheinen mögen, lohnt es sich doch, die Herausforderung anzunehmen und darüber nachzudenken, was es eigentlich mit dem Vorwurf einer gezielten Unterbewertungspolitik auf sich hat und wie das mit den turbulenten Fahrwassern zusammenhängt, in denen sich die deutsche Wirtschaft derzeit befindet. Die amerikanischen Vorwürfe sind nämlich nicht ganz unbegründet. 

Ohne Nachfrage kein Wachstum

Dazu muss man zunächst grundsätzlich über Wirtschaftswachstum nachdenken: Kapitalistische Gesellschaften drängen auf Wachstum – wirtschaftliches Wachstum entschärft Verteilungskämpfe, eröffnet Verbesserungsperspektiven und stabilisiert damit letztlich soziale Ordnungen. Damit eine Volkswirtschaft wachsen kann, bedarf es bestimmter Rahmenbedingungen. Das wird unter Schlagwörtern wie »Angebotspolitik« und »Standortverbesserung« seit Jahrzehnten immer wieder vehement eingefordert. Allerdings müssen wirtschaftliche Erzeugnisse auch in ausreichendem Maße Abnehmer:innen finden. Während viele dominante Erklärungsansätze die wirtschaftliche Entwicklung vornehmlich durch angebotsseitige Produktivitätssteigerungen bestimmt sehen, wird dieser Aspekt in nachfrageseitigen Betrachtungen eingehend problematisiert. Ein zentraler Bezugspunkt ist hier die »postkeynesianische« Wirtschaftswissenschaft, die aufzeigt, dass die Nachfrage langfristig die Wirtschaftsleistung beeinflusst und daher nicht nur im Hinblick auf kurzfristige Abweichungen von einem angebotsdefinierten Gleichgewicht betrachtet werden darf. Nachfragemangel ist somit ein fundamentales Problem. 

In den rund dreißig Jahren zwischen dem Zweiten Weltkrieg und den Wirtschaftskrisen der 1970er Jahre bestand in westlichen Industrieländern oftmals eine Art Gleichklang zwischen Fortschritten der Massenproduktion, Lohnentwicklungen und Konsumsteigerungen. Die Arbeitenden sorgten so im Prinzip selbst für die Nachfrage nach den Produkten, die sie herstellten. Die sogenannte »Regulationsschule« hat dafür den Begriff des »Fordismus« geprägt. In den darauffolgenden Jahrzehnten brach dieser Gleichklang allerdings zunehmend auseinander. Geringere Wachstumsraten sorgten für intensivere Verteilungskämpfe, aus denen Lohnempfänger:innen selten als Sieger:innen hervorgingen. Gleichzeitig wuchs die Einkommensungleichheit. Das bremste die Nachfrageentwicklung zusätzlich, da Lohnsteigerungen in höheren Einkommensgruppen den Konsum tendenziell weniger anschieben als Steigerungen in niedrigen Einkommensgruppen. Gelingt es nicht, diese und ähnlich gelagerte Nachfrageerosionen auszugleichen und konstant ein angemessenes Niveau der Gesamtnachfrage zu erzeugen, droht andauernder wirtschaftlicher Stillstand, die »säkulare Stagnation«. 

Mischa Stratenwerth

Mischa Stratenwerth ist Politikwissenschaftler und forscht zu politökonomischen Fragestellungen. Er ist Postdoc und Koordinator des Doktorandenprogramms am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung.

Die politökonomische Wachstumsmodellforschung befasst sich in vergleichender Perspektive mit den verschiedenen Wegen, auf denen unterschiedliche Volkswirtschaften es im »postfordistischen« Zeitalter geschafft oder versäumt haben, den Wegfall lohngestützter Nachfrage zu kompensieren. 2 Eine frei zugängliche, englischsprachige Einführung findet sich hier: https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/10242589221149512 Ihre Analyse beginnt damit, die jeweils treibenden Dimensionen der Nachfrage zu identifizieren. Dabei kristallisieren sich besonders zwei Pole heraus: exportgetriebene Wachstumsmodelle, in denen die Ausweitung der Auslandsnachfrage dominiert, und konsumgetriebene Modelle, deren Expansion hauptsächlich auf der Verschuldung privater Haushalte beruht. Die USA sind emblematisch für letztere Konfiguration. Deutschland ist, wenig überraschend, das Paradebeispiel für ein exportgetriebenes Wachstumsmodell.

Deutschlands exportlastiges Wachstumsmodell 

Die herausragende Rolle, die Exporte in der deutschen Volkswirtschaft einnehmen, wurde oft besprochen und lässt sich mit verschiedensten Kennzahlen belegen. So konnte etwa gezeigt werden, dass rund 85% des Wirtschaftswachstums zwischen 1995 und 2007 im Zusammenhang mit ausländischer Nachfrage standen. 3 Der Wert stammt aus dieser Studie, deren Autoren das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in seine verwendungsseitigen Bestandteile zerlegen. Entgegen der herkömmlichen Herangehensweise bereinigen sie allederings alle Komponenten um ihre jeweiligen Importanteile, anstatt die Exportzahlen um den Wert aller Importe zu verringern Ein international außergewöhnlich hoher Wert, speziell für eine Volkswirtschaft von Deutschlands Größe. In der Dekade nach der Finanzkrise (2009–2018) waren Exporte mit einem Anteil von 59% weiterhin ein kräftiger, wenn auch nicht mehr überdominanter Wachstumstreiber. Waren es in den Jahren vor der Finanzkrise vor allem die Euroländer, die zunehmend deutsche Produkte importierten, stütze danach besonders die Nachfrage aus dem Rest der Welt die deutschen Exportabsätze und den wirtschaftlichen Wiederaufschwung. 

Gegen Ende der 2010er Jahre gab es erste Zeichen, dass Exporte als Wachstumsmotor in den Hintergrund rücken könnten. 2016, -18, und -19 waren schwache Jahre für den Export. Gleichzeitig zeigten inländische BIP-Komponenten vorsichtige Aufwärtstrends und deuteten somit eine dezente Neugewichtung des deutschen Wachstumsmodells an. Für die Jahre nach dem Covid-Schock suggerieren die absoluten Exportzahlen keine unmittelbare Renaissance des exportgetriebenen Wachstumsmodells – einmal davon abgesehen, dass die deutsche Wirtschaft seit zwei Jahren schrumpft. 

Während der andauernden exportlastigen Phase des deutschen Wachstumsmodells wuchsen Deutschlands Außenhandels- und Leistungsbilanzüberschüsse auf beachtliche Größe an. In den frühen 2000er Jahren kletterte die Leistungsbilanz rasch auf über 4% des BIP. Mitte der 2010er Jahre wurden konstant um die 8% erreicht. Hatte Deutschland auch den Titel des Exportweltmeisters an China abgetreten, konnte man sich doch als Leistungsbilanzüberschussweltmeister brüsten. In den Folgejahren sanken die Bilanzüberschüsse wieder, blieben aber bis zuletzt auf einem hohen Niveau. 

Schwache Währung, starker Export 

Ein wichtiges Element für nachhaltigen Exporterfolg ist die Fähigkeit, dauerhaft niedrige Preise anbieten zu können. Natürlich gibt es Nischen, in denen die Nachfrage nach hochqualitativen und einzigartigen Produkten einigermaßen unabhängig vom Preis bleibt. Dennoch legen viele Analysen nahe, dass Preisveränderungen eine spürbare Wirkung auf die Nachfrage nach deutschen Ausfuhren hatten – auch wenn über das Ausmaß der »Preiselastizität« fachlich weiterhin kontrovers diskutiert wird.  

Exportpreise lassen sich unter anderem dadurch senken oder stabil halten, dass Kostensteigerungen im Inland begrenzt werden. Das geschieht auf Unternehmensebene, betrifft jedoch die Gesamtwirtschaft und wird durch politische Entscheidungen maßgeblich beeinflusst. Makroökonomisch betrachtet bedeutet dies, dass die inländische Inflation langsamer steigt als jene im Ausland. Wichtige Stellschrauben sind in diesem Zusammenhang beispielsweise eine zurückhaltende Fiskalpolitik und eine restriktive Lohnentwicklung. Diese auch als »interne Abwertung« bezeichnete Art, die preisliche Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, geht mit empfindlichen Einschränkungen der Binnennachfrage einher und wirkt zugleich dämpfend auf die Importe. Zwischen der Steigerung von Exporten und der Steigerung von inländischer Nachfrage und Importen besteht also ein gewisser Zielkonflikt. 

Diese Konstellation begünstigt die Entstehung von Leistungsbilanzüberschüssen. In einem flexiblen Wechselkurssystem, in dem sich Währungen stetig über Marktmechanismen anpassen, würde man allerdings erwarten, dass solche Überschüsse eine erhöhte Nachfrage nach der heimischen Währung befeuern und diese damit aufwerten. Das würde Exporte verteuern, Importe verbilligen und somit mittelfristig zu einem Wiederausgleich der Bilanzen führen. Daher muss diesem Automatismus künstlich ein Riegel vorgeschoben werden, wenn Exporte langfristig von internen Abwertungen profitieren sollen. 

Damit sind wir zurück beim amerikanischen Vorwurf der forcierten Unterbewertung. In historischer Betrachtung lässt sich tatsächlich beobachten, dass es (West-)Deutschland immer wieder gelungen ist, Währungsaufwertungen zu verhindern beziehungsweise zu verzögern. Möglich war das vor allem deshalb, weil sich Deutschland oft in Währungssystemen bewegte, in denen Wechselkurse politisch vereinbart waren. Trotzdem kam es in Systemen wie Bretton-Woods oder dem Europäischen Währungssystem früher oder später zu Anpassungen. Der Wendepunkt in dieser Hinsicht war schließlich der Eintritt in die Europäische Währungsunion. Wechselkurse zwischen den Mitgliedsstaaten entfielen vollständig. Nationale Inflationsunterschiede übersetzten sich fortan direkt in preisliche Vor- oder Nachteile. Zugleich haben die höheren Inflationsraten in anderen Mitgliedsländern und die gemeinschaftliche Geldpolitik dazu beigetragen, den Aufwertungsdruck gegenüber Drittstaaten abzumildern, den eine eigenständige deutsche Währung sonst vermutlich erfahren hätte. 

Es ist nicht ganz einfach, die Auswirkungen dieser Entwicklung quantitativ greifbar zu machen. Nominale Wechselkurse geben nur den Umtauschwert zwischen zwei Währungen an. Sie sagen allerdings nichts darüber aus, ob eine Währung über- oder unterbewertet ist. Ein gängiger Ansatz ist es daher, »reale« Wechselkurse zu berechnen, die beispielsweise die Entwicklung der Verbraucherpreisindizes oder der Lohnstückosten in den jeweiligen Ländern miteinbeziehen. Auch sie liefern keinen Maßstab für einen »fairen« Kurs. Sie erlauben aber, Veränderungen der preislichen Wettbewerbsfähigkeit im Zeitverlauf sichtbar zu machen. Die untenstehenden Grafiken zeigen den Verlauf Deutschlands realer Wechselkurse im Verhältnis zu denen der USA sowie zu einer Gruppe aus 49 Handelspartnern. Ein fallender Indexwert signalisiert einen Zugewinn an Wettbewerbsfähigkeit.

Der umfassende Index zeigt deutlich, wie stark sich Deutschlands Wettbewerbsposition seit 1995 verbessert hat. Auffällig ist, dass dieser Trend in den frühen 2010er-Jahren ausläuft, sich in Bezug auf die Lohnstückkosten sogar umkehrt. In Bezug auf Deutschland gilt der Euro trotzdem weiterhin als unterbewertet. 4 Z.B. laut des External Balance Assessment Prozedere des Internationalen Währungsfonds.

Die bilateralen Kurse mit den USA spiegeln diesen Verlauf nicht vollständig wider. In den 2000er-Jahren etwa verlor Deutschland trotz minimaler heimischer Preissteigerungen durch die Abwertung des US-Dollars an preislicher Konkurrenzfähigkeit. Dafür ist seit Mitte der 2010er-Jahre tatsächlich eine spürbare Verbesserung der deutschen Position gegenüber den USA zu beobachten. Bemerkenswert ist, dass die jüngsten amerikanischen Beschwerden jedoch in eine Phase fallen, in der Deutschland bereits aufgehört hat, seine preisliche Wettbewerbsposition systematisch auszubauen – auch wenn hohe Leistungsbilanzüberschüsse gegenüber den USA fortbestehen. 

Unterbewertung als deutsches Geschäftsmodell? 

Das deutsche Exportmodell beruhte in der Vergangenheit also nicht unwesentlich auf Rahmenbedingungen, die dauerhaft niedrige reale Wechselkurse ermöglichten, den Exportsektor strukturell begünstigten und gleichzeitig die Binnennachfrage schwächten. In der Forschung zu nationalen Wachstumsmodellen hat sich hierfür der Begriff des Unterbewertungsregimes gefunden. In einem solchen Regime wirken Strukturen, Institutionen, kollektive Verhaltensmuster und wirtschaftspolitischen Leitbildern auf eine Weise zusammen, die bei Zielkonflikten tendenziell den Interessen des Exportsektors Vorrang einräumen. 5 Dieses verständliche Diskussionspapier beschreibt das anhand zentraler Politikfelder.

Herzstück des deutschen Modells war die außergewöhnliche Lohnzurückhaltung. Aber auch eine restriktive Fiskalpolitik sowie die traditionell konservative Ausgestaltung der deutschen Kredit- und Wohnungsbaupolitik trugen dazu bei, Anstiege des inländischen Preisniveaus zu begrenzen. Hinzu kam lange die einhegende Geldpolitik der Bundesbank. Diese setzte sich unter der Ägide der Europäischen Zentralbank (EZB) nur noch bedingt fort. Gleichwohl spielte die EZB eine zentrale Rolle bei der Stabilisierung der Währungsunion, die ihrerseits eine fundamentale Voraussetzung für den anhaltenden deutschen Exporterfolg darstellt. 

All dem lag keine ausformulierte Unterbewertungsstrategie zu Grunde. Auch ohne ein explizites neo-merkantilistisches »Geschäftsmodell« ergab sich ein Politikmix, der Unterbewertung strukturell begünstigte. Das bedeutet aber nicht, dass der deutsche Exportfokus und die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse außerhalb politischer Verantwortung und Einflusskraft gelegen haben. Die beschriebenen Muster sind weder zwangsläufig noch unveränderlich. Aber sie verfestigen sich durch historische Pfadabhängigkeiten, das wechselseitige Ineinandergreifen verschiedener institutioneller Elemente und die enge Verflechtung des Wachstumsmodells mit politischen und wirtschaftlichen Macht- und Interessenstrukturen. So wurden etwa die außergewöhnlich geringen Lohnzuwächse durch eine Reihe tiefgreifender Veränderungen im Bereich der Arbeitsbeziehungen gestützt. Seit der Wiedervereinigung geriet die ohnehin konsensorientierte deutsche Arbeitnehmerschaft durch die Flexibilisierung und Dezentralisierung von Tarifverhandlungen, die Erosion von Allgemeinverbindlicherklärungen sowie das rasche Anwachsen des Niedriglohnsektors zusätzlich unter Druck. Ideologisch flankiert wurde dies vom Aufstieg der »beschäftigungsorientierten« Lohnpolitik, die darauf hofft, mittels Lohnverzichts die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen zu steigern und dadurch Arbeitsplätze zu sichern. 

Deutschlands Fiskalpolitik gibt weitere Beispiele für langfristig wirksame Prägungen, die nicht in erster Linie mit dem Exportmodell in Verbindung gebracht wurden, aber dennoch konsistent die Unterbewertungsdynamik bedingten. Dazu gehörten die investitionshemmenden Strukturen des Fiskalföderalismus ebenso wie strenge Budgetregeln. Über die Zeit etablierte sich zunehmend ein sachzwangunabhängiges Sparparadigma, das Schuldenvermeidung zur Tugend erhob und fiskalische Disziplin mit den vermeintlichen Wachstumsversprechen »expansiver Konsolidierung« verknüpft. Ausgeglichene Haushalte wurden auf diese Weise zeitweise zum Zeichen wirtschaftspolitischer Kompetenz. 

Die Forschung hebt außerdem die reziproke Beziehung zwischen dem Wachstumsmodell eines Landes und den Interessen dominanter Wirtschaftsbereiche hervor. Ist das Exportmodell einigermaßen erfolgreich, profitieren exportstarke Sektoren im besonderen Maße. Gleichzeitig steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ihre wirtschaftspolitischen Präferenzen und Bedürfnisse im besonderen Maße in die Überlegungen politischer Entscheidungsträger einfließen. Der politische Einfluss der deutschen Automobilbranche ist hierfür das offensichtlichste Beispiel. 

Darüber hinaus besteht in Deutschland ein weithin geteilter Glaube an den gesamtgesellschaftlichen Nutzen exportorientierten Wachstums. Andreas Nölke hat solche Tendenzen und die damit verbundenen diskursiven Praktiken unter dem Begriff Exportismus 6 Nölke, A. (2021). Exportismus: die deutsche Droge. Westend Verlag GmbH. zusammengefasst: Eine positive Handelsbilanz wird als zentraler Indikator für wirtschaftlichen Erfolg angesehen, während Importe und Binnennachfrage als wichtige wirtschaftliche Dimensionen vernachlässigt werden. Die gute Exportleistung erhält zugleich eine moralische Dimension: Überschüsse werden zu verdienten Errungenschaften, die durch pflichtbewusstes Erledigen der notwendigen »Hausaufgaben« erreicht werden. Der Imperativ internationaler Wettbewerbsfähigkeit beherrscht auf diese Weise die deutsche Wirtschaftspolitik, verschleiert negative Nebeneffekte und verengt staatliche Handlungsoptionen. 

Diese und weitere Faktoren verstetigen das makroökonomische Regime über Politikfelder hinweg. Die strukturelle Machtasymmetrie in der Interessenpolitik, die diskursive Vorherrschaft der Sparlogik und Kostenkonkurrenz sowie die ideologische Überhöhung des Exporterfolgs haben eine politische Landschaft geprägt, in der zwischen den einflussreichen Parteien kaum über die grundlegende Ausrichtung der Wirtschaftspolitik gestritten wird. In Konsequenz verlagert sich der politische Wettbewerb auf begrenzte Verteilungsfragen.

Schattenseiten des Exporterfolgs 

So unumstritten der deutsche Exportsektor als Quelle von Beschäftigung und Wachstum erscheint, so weitreichend sind die Probleme, die mit dem exportgetriebenen Wachstumsmodell verbunden sind. Zunächst einmal springt die starke Abhängigkeit von äußeren Umständen wie dem internationalen Freihandel und der Stabilität globaler Märkte ins Auge. Das könnte gerade bei der jetzigen weltpolitischen Lage zum Verhängnis werden. 

Überdies hat das deutsche Unterbewertungsregime wesentlich zu makroökonomischen Ungleichgewichten innerhalb der Eurozone beigetragen. Auseinanderlaufende Lohnstückkosten und Inflationsraten unter den Mitgliedstaaten führten dazu, dass die EZB-Politik und der Euro-Kurs für keine der beteiligten Ökonomien passgenau waren. Deutschland profitierte nicht selten von dieser Konstellation, untergrub damit jedoch kontinuierlich die Stabilität der Währungsunion.  

Das gesamtwirtschaftliche Wachstum blieb trotz florierender Exporte eher schwach. Die teils stagnierende Binnennachfrage war, wie beschrieben, kein unabhängiger Trend, sondern strukturell mit dem Exportfokus verknüpft. Die verhaltene Lohnentwicklung drückte auf den Konsum, während eine unterbewertete Währung für verhältnismäßig hohe Importpreise sorgte. Viele deutsche Verbraucher gehörten also nicht unbedingt zu den Gewinnern des Exportmodells.  

Hinzu kommt, dass durch die chronische fiskalische Sparsamkeit nicht nur die öffentliche Hand als Nachfragemotor ausfiel, sondern auch massive Investitionsdefiziten entstanden sind – etwa in der Infrastruktur, im Bildungssektor oder bei der Digitalisierung. Auch private Investitionen blieben verhalten, und das, obwohl die Renditen deutscher Kapitalanlagen im Ausland enttäuschten

Kosten und Erträge des Modells waren im Inland außerdem ungleich verteilt. Die Hauptlast der Lohnzurückhaltung trugen beispielsweise Beschäftigte außerhalb der exportstarken Industriebranchen. Auch auf Unternehmensseite wurde vor allem das verarbeitende Gewerbe gestärkt, während binnenorientiertere Sektoren wie das Bauwesen oder wissensintensive Dienstleistungen hinter ihren Potenzialen zurückblieben. 

Während Deutschland international um die Exportweltmeisterschaft spielt, gab es national also etliche Verlierer. Diese Verlierer sind allerdings im Hinblick auf das Exportmodell normalerweise bemerkenswert still geblieben. Trotzdem stellt sich die Frage, ob die Tage des Exportmodells bereits gezählt sind.

Alte Muster, neue Welt – Zeitenwende in der Exportnation?

Sogar für deutsche Verhältnisse war das außerordentlich exportzentrierte Wachstum zwischen 1995 und 2015 historisch betrachtet eine Ausnahmekonstellation. Schon in der letzten Dekade zeichnete sich eine gewisse »Normalisierung« des Wachstumsprofils ab. Teils weil der Exportmotor stotterte, teils weil die inländische Nachfrage dank leicht steigender Löhne und Investitionen nicht länger stagnierte. Während der Exportzuwachs nachließ, gewann der Binnenmarkt leicht an Bedeutung. Die Krisendynamiken der Pandemie und des russischen Angriffskrieges zeitigen ähnlich Effekte. Andauernde und zukünftige geopolitische und handelspolitische Verwerfungen dürften diesen Trend zumindest im Hinblick auf Exporte weiter verstärken. 

Die aufgezeigten Probleme des exportgetriebenen Wachstumsmodells legen nahe, dass eine Neugewichtung zugunsten der Binnennachfrage grundsätzlich begrüßenswert wäre. Doch dieser Schluss darf nicht den Blick darauf verstellen, dass ein solcher Wandel sich nicht reibungslos vollzieht, insbesondere wenn der Bruch mit dem bisherigen Modell abrupt erfolgt. Mutmaßlich günstigere Zeitfenster für ein deutliches proaktives Rebalancing wurden versäumt. Es ist nicht damit zu rechnen, dass binnenwirtschaftliche Triebkräfte entstandene Lücken auf Anhieb füllen können. Und selbst wenn ein gesamtwirtschaftlicher Aufschwung gelingen sollte, ist zu erwarten, dass zahlreiche exportverbundene Unternehmen und Haushalte die Kosten der Anpassung zu tragen haben werden. 

Die Versuchung, sich erneut an das überkommene Exportmodell zu klammern, ist deswegen groß. Der Mehrwert der dargelegten politökonomischen Perspektive liegt unter anderem darin, zu verdeutlichen, wie tief verankert die institutionellen, politischen und ideologischen Beharrungskräfte des alten Modells in Politik und Gesellschaft sind und wie sehr die Exportorientierung auch ohne einen merkantilistischen Masterplan durch sämtliche wirtschaftspolitische Dimensionen hindurchwirkt. In der Vergangenheit haben wachstumsschwache Phasen in Deutschland stets reflexartige Forderungen nach einer kostenseitigen Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit nach sich gezogen. Auch heute mehren sich wieder die Anzeichen für dieses Muster und wir werden wahrscheinlich einmal mehr das gesamte Spektrum der »Standort-Debatte« durchleben. Die Tarifverhandlungsergebnisse in Zeiten sprunghafter Inflation waren zum Beispiel schon wieder von einer bemerkenswerten Lohnzurückhaltung gekennzeichnet.  

Jan-Ottmar Hesse kommt in seinem Buch »Exportweltmeister. Geschichte einer deutschen Obsession« (2023) zu dem Schluss, dass die deutsche Exportobsession in den vergangenen 150 Jahren noch immer einen Weg gefunden habe, sich tatsächlich auch in materieller Exportstärke zu manifestieren. Dennoch erscheint es äußerst fraglich, ob auch diesmal wieder ein substanzieller Wachstumsimpuls vom Außenhandel ausgehen kann. Zwar lässt sich nicht ausschließen, dass sich neue innovative Strategien entwickeln, aber die alten Rezepte sind wenig vielversprechend. Denn die Welt, in der das bisherige Modell erfolgreich war, existiert nicht mehr. Die Währungsgemeinschaft, in der sich zuletzt viele Länder gleichzeitig gezwungen sahen, ähnliche Strategien zu verfolgen, bietet Deutschland nicht mehr die einstigen Vorteile. Selbst wenn es gelänge, reale Wechselkurse zu drücken, ist zweifelhaft, ob dies noch in gleichem Maße wie früher zu zusätzlicher Exportnachfrage führt. Angesichts wachsender handelspolitischer Barrieren und schrumpfendem technologischen Vorsprung, deutet nicht viel darauf hin, dass internationale Absatzmärkte in den nächsten Jahren wieder einen außerordentlichen Hunger nach deutschen Exporten entwickeln. Die positive Wirkung einer Neuauflage der internen Abwertung dürfte sehr begrenzt ausfallen. 

Ein erneutes »Doubling Down« auf angebotsseitige Kostensenkungsstrategien und die Hoffnung auf exportgetriebenes Wachstum sollte also möglichst verhindert werden. Das Schließen der erheblichen Investitionslücken kann maßgeblich dazu beitragen, ein alleiniges volkswirtschaftliches Rebalancing über die Schwächung der Exportleistung zu vermeiden. Das Sondervermögen für öffentliche Investitionen geht daher in die richtige Richtung, auch wenn die Ausgaben immer noch hinter den Bedarfen zurückbleiben. Ebenso bedeutsam wäre das Ausbleiben lohnverzichtbasierter und arbeitsmarktliberalisierender Therapierungsversuche für den vermeintlich rückfälligen »kranken Mann Europas«. Entscheidend wird sein, ein breit aufgestelltes inländisches Nachfragereservoir zu entwickeln – nicht zuletzt, um nach Jahrzehnten der Exportdominanz nicht in eine neue Abhängigkeit von Wachstumsimpulsen aus der Rüstungswirtschaft zu geraten. Bisher ist unklar, ob die Politik der Bundesregierung dazu beitragen wird.