War Hannah Arendt eine liberale Denkerin? – 1. Teil

Im ersten Teil seines Essays zeigt Peter Trawny, wie Hannah Arendts Analyse der Massengesellschaft zur Diagnose eines modernen Menschen führt, der auf sein bloßes Leben reduziert und zum funktionierenden Animal laborans wird. So entsteht ein ungewohnter Blick auf eine Moderne, die Freiheit beschwört, aber das Leben selbst zum höchsten Gut erhebt – und damit die Politik ihrer eigentlichen Aufgabe beraubt.

Der Ausgangspunkt beinahe aller Bücher, Aufsätze und Vorträge Hannah Arendts ist die Erfahrung der totalen Herrschaft. Ihr erstes Hauptwerk »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« (1955) ist die zentrale Quelle ihrer späteren Gedanken. 1 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. Piper: München und Zürich 1986. Eine Relektüre des Buches würde deutlich machen, dass der Typus des banalen Bürokraten auch dann schon in diesem Text anwesend ist (als »Typus« des »Spießers«, ebd, 721f.), wenn sie noch vom »radikal« und nicht »banal Bösen« spricht.  Im dritten Teil dieses monumentalen Textes zum Verständnis des Totalitarismus praktiziert sie, was später in »Vita activa« (1960) und »Über die Revolution« (1963) ebenfalls angewendet wird: Gesellschaftsanalyse als Vorbereitung einer Theorie des Politischen, die von den Resultaten der Analyse auszugehen hat. Wo totale Herrschaft eine Konsequenz der »Massengesellschaft« des frühen 20. Jahrhunderts ist, muss die Theorie des Politischen beinahe normativ gegensteuern. Ohne Soziologie — in welcher Form auch immer — ist für Arendt eine solche Theorie nicht zu haben.

Die Erfahrung der totalen Herrschaft impliziert allerdings noch mehr und anderes als nur den Impuls zur Gesellschaftsanalyse. Arendts Analyse des Sozialen kommt nirgendwo ohne geistes- oder ideengeschichtliche Voraussetzungen aus, die sie zuweilen unvermittelt in ihre Analysen einfließen lässt. 2 So heißt es im Kapitel „Totale Organisation“ in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, in dem sie sich verschiedenen „Organisationsformen totalitärer Bewegungen“ (ebd., 766) zuwendet, plötzlich: „Was diese Menschen [die dem Führerprinzip Ergebenen] wirklich miteinander verbindet und was weit über den engstirnigen Fanatismus jeder einzelnen Ideologie hinausgeht, ist die Überzeugung von der Allmacht des Menschen. Den moralischen Nihilismus des ‚Alles ist erlaubt‘ haben sie durch den sehr viel radikaleren Nihilismus eines ‚Alles ist möglich‘ erst seine wirkliche Grundlage gegeben.“ (ebd., 811) „Fanatismus“ ist eine wesentliche Kategorie der nationalsozialistischen Weltanschauung, wie sie von Hitler in „Mein Kampf“ entwickelt wird. Als würde die Analyse des totalitären Herrschaftsapparates von der Lektüre einer Nietzsche-Vorlesung ihres ersten Lehrers Heidegger unterbrochen… „Allmacht des Menschen“ und „Nihilismus“ sind keine soziologischen Kategorien.  Daraus entsteht ein seltsames Gemisch anscheinend historischer Betrachtungen und geschichtsphilosophischer Behauptungen, das zuletzt eine konsensuelle Auslegung des Arendt’schen Denkens be- oder sogar verhindert. Die Arendt-Rezeption war und ist ein sehr heterogener Kontext, in dem unter anderem ein öffentliches Bild der Denkerin mitläuft, das bestimmte Aspekte ihres Philosophierens zu ignorieren scheint. 3 Die von Thomas Meyer geleiteten Neuausgaben der Werke Hannah Arendts bei Piper scheinen den Vorsatz zu verfolgen, sie als mainstreamtaugliche, unumstrittene „Denkerin der Stunde“ (Richard J. Bernstein) zu erweisen.

Einer dieser weniger beachteten Aspekte taucht in folgender Bemerkung aus »Vita activa« auf: »Daß sich das Animal laborans in der modernen Gesellschaft mit so durchschlagender Konsequenz hat zur Geltung bringen können, dankt es nicht zuletzt dem, was man gemeinhin die Verweltlichung oder Säkularisierung nennt, also den modernen Glaubensverlust, jedenfalls sofern dieser ein Leben nach dem Tode oder zumindest eines jenseitigen Lebens betraf.« 4 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. Piper: München und Zürich 1994, 312.  Arendts Gesellschaftsanalyse wird von einem Säkularisierungsbegriff mitgetragen, den sie aus Max Weber’schen Quellen bezieht. Ihr Judentum spielt dabei keine Rolle. 5 Die Frage nach dem Judentum bei Arendt ist eine so besondere, dass deren Beantwortung noch aussteht. Dass sie sich irgendwo auf so etwas wie eine „Totalität einer jüdischen Existenz“ (Gershom Scholem: Juden und Deutsche. In Ders.: Judaica 2. Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main 1970, 26) bezogen hätte, wage ich auszuschließen.

Peter Trawny

Peter Trawny, geboren 1964 in Gelsenkirchen, außerplanmäßiger Professor an der Bergischen Universität Wuppertal, Leiter des Martin Heidegger Institutes, Mitherausgeber der Martin Heidegger Gesamtausgabe, Autor von in 18 Sprachen übersetzten Texten, beschäftigt sich gerade mit der jüdischen Religion und Kabbala, außerdem mit der Philosophie der Philosophie.

Das moderne Mensch als bloße Funktion der Gesellschaft

Die Gesellschaftsanalyse von »Vita activa« kommt zu dem Schluss, dass der Mensch als »Animal laborans«, als Mensch, der seine ultima ratio im Arbeiten erkennt, die beiden anderen erläuterten Tätigkeiten, das Herstellen und Handeln, gesellschaftlich marginalisiert. Das arbeitende Tier lebt einzig und allein um des nackten Lebens willen. Es hat den von Arendt nicht selten angerufenen Nihilismus soweit internalisiert, dass es dem Leben keinen anderen Sinn mehr abzugewinnen vermag als den, unbedingt gelebt zu werden.

Das Bedeutungsfeld des »Lebens«-Begriffs, der in den 60er-Jahren Arendts Gesellschaftsanalyse trägt, wird in den »Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft« noch von einem eigentümlich schillernden Verständnis der »Welt« besetzt. 6 Was ist „Weltlosigkeit“ (Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. A.a.O., 679)? Nicht, dass man sich als Heidegger- und Rilke-Leser nichts darunter vorstellen könnte. „Weltlosigkeit“ ist in dieser Hinsicht dann dasselbe wie das, was Arendt später „Verweltlichung“ bzw. „Säkularisierung“ nennen wird.  Dennoch gibt es eine frühere Passage aus einer Rezension von 1946, die eine bestimmte, vielleicht hyperbolische Deutung ermöglicht. In dem Text mit der deutschen Überschrift »Das Bild der Hölle« spricht sie davon, dass in den »Todesfabriken«, also in den Vernichtungslagern, »Männer und Frauen, Kinder und Erwachsene, Jungen und Mädchen« »auf den kleinsten gemeinsamen Nenner organischen Lebens zurückgeführt« 7 Hannah Arendt: Das Bild der Hölle. In: Dies: Nach Auschwitz. Essays & Kommentare 1. Hrsg. von Eike Geisel und Klaus Bittermann. Edition Tiamat: Berlin 1989, 59. worden seien. Im späteren Monumentalwerk über den Antisemitismus, den Imperialismus und die totale Herrschaft hatte sie erklärt, dass die Konzentrations- und Vernichtungslager so etwas seien wie die »Laboratorien« 8 Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. A.a.O., 907. des Totalitarismus. Das dort vollzogene »Experiment« war demnach die Reduktion des Menschen auf sein »organisches Leben«.

Noch früher, nämlich in einem ihrer zionistischen Texte aus dem Jahre 1942, hatte sie eine Formulierung verwendet, die sie 20 Jahre später in »Über die Revolution« modifiziert wieder aufnehmen konnte. Der dem Veröffentlichungsmedium – der Zeitschrift »Aufbau« – geschuldete Ton der Bemerkung muss berücksichtigt werden:

Es war einmal eine glückliche Zeit, als Menschen wählen konnten: Lieber tot als Sklav’, lieber stehend sterben als auf den Knien leben. Und es war einmal eine verruchte Zeit, als schwachsinnig gewordene Intellektuelle erklärten, das Leben sei der Güter höchstes. Gekommen ist heute die furchtbare Zeit, in der jeden Tag bewiesen wird, daß der Tod seine Schreckensherrschaft genau dann beginnt, wenn das Leben das höchste Gut geworden ist; daß der, der es vorzieht, auf den Knien zu leben, auf den Knien stirbt; […].

Hannah Arendt: „Keinen Kaddisch wird man sagen“. In: Dies.: Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher. Beiträge für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung „Aufbau“ 1941-1945. Piper: München 2000, 71.

In ihrer späteren Studie zur politischen Bedeutung der Revolution spricht sie davon, es sei »politisch jedenfalls die verderblichste Lehre der Moderne, daß das Leben der Güter höchstes und daß der Lebensprozeß der Gesellschaft Zweck und Ende aller Politik sei«. 9 Hannah Arendt: Über die Revolution. Piper: München und Zürich 1965, 79. Was meint Arendt damit? Und was daran ist das Resultat einer Gesellschaftsanalyse?

Arendt zitiert Schillers »Braut von Messina«, wo es am Ende heißt: »Dies Eine fühl‘ ich und erkenn‘ es klar: / Das Leben ist der Güter höchstes nicht, / Der Übel größtes aber ist die Schuld.« Dem vorausgegangen war der Mord des Don Cesar an Don Manuel, die beide um ihre allerdings unerreichbare Schwester Beatrice warben. Don Cesar vermag mit dieser Schuld nicht weiterzuleben und tötet sich selbst. Das bloße Leben ist »der Güter höchstes nicht«. Don Cesar bettelt nicht kniend um Vergebung, weil er den Tod um jeden Preis vermeiden will. 

In »Vita activa« schreibt sie diese offenbar aus der Totalitarismus-Analyse stammende Beobachtung in ihre Interpretation der Säkularisierung ein. Arendt betont dort, dass es das Christentum sei, das das Leben zum »höchsten Gut« erklärt habe. Das liege daran, dass der Glaube an die Auferstehung schon im »irdischen Leben« 10 Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. A.a.O., 308f. ansetze, dass das »ewige Leben« in sich eine unendliche Wertsteigerung des Lebens überhaupt sei. Dafür spreche, so Arendt, die christliche Verdammung nicht des Mordes, sondern des Selbstmordes.

Dieses christliche Lebensverständnis wurde aber von der Säkularisierung immer mehr angenagt, bis sich ein Leben etablierte, dem keinerlei religiöse Bedeutung mehr innewohnte. Das Leben war nun insofern zum »höchsten Gut« geworden, als es von aller Ewigkeit entkleidet als nackt, als entblößt, auf die reine Lebendigkeit reduziert verstanden wurde. Jetzt konnte sich die für Arendt verhängnisvolle Ansicht breitmachen, »daß der Lebensprozeß der Gesellschaft Zweck und Ende aller Politik« sei. Die Gesellschaft hatte sich zum einzig relevanten Lebensraum des modernen Menschen entwickelt. Das Leben wurde ganz in ihren Dienst gestellt.

Am Ende dieser Entwicklung stehe das Animal laborans und eine »allumfassende Funktionalisierung der modernen Gesellschaft«. 11 Hannah Arendt: Tradition und die Neuzeit. In: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hrsg. von Ursula Ludz. München und Zürich 1994, 52. Es wäre über das hier Dargestellte hinaus ebenso möglich, zwischen dieser Auffassung der „allumfassenden Funktionalisierung der modernen Gesellschaft“, der „Bürokratie“ und der „Banalität des Bösen“ in persona Adolf Eichmanns Zusammenhänge zu erläutern. Die lateinische Herkunft des Wortes functio verweist auf den Kontext der Arbeit. 12 Die functio ist die Verrichtung eines schwierigen geistigen oder körperlichen Werkes oder Amtes (labor est functio quaedam vel animi vel corporis gravioris operis et muneris, Cicero, Gespräche in Tusculum, 2, 35). Etwas, das funktioniert, ermöglicht den ungestörten und daher effizienten Ablauf eines Produktionsprozesses. Abläufe dieser Art sind dem Menschen notwendigerweise bereits aus prähistorischer Zeit vertraut. Die von Marx beschriebene Arbeitsteilung, die Differenzierung der Arbeitswelt, kann nur das Ziel haben, diese Prozesswelt immer effizienter zu gestalten, sie demnach zu funktionalisieren.

Arendt scheint sich bei der Verwendung des Adjektivs »allumfassend« (totalitär?) etwas Besonderes gedacht zu haben. Denn die Funktionalisierung der Gesellschaft schlage sich ebenso im »Denkansatz der Sozialwissenschaften« nieder, die »Bestimmung von Ideologie und Religion als funktional äquivalent« 13 Die functio ist die Verrichtung eines schwierigen geistigen oder körperlichen Werkes oder Amtes (labor est functio quaedam vel animi vel corporis gravioris operis et muneris, Cicero, Gespräche in Tusculum, 2, 35). und nicht, ich füge hinzu, als substantiell unterschieden zu betrachten. Die »entsubstantialisierende Funktionalisierung unserer Kategorien« sei aber »kein isoliertes Phänomen, das sich in irgendeinem Elfenbeinturm wissenschaftlichen Denkens« abspiele, sondern gehöre zur »Funktionalisierung unserer Gesellschaft«, in der der »moderne Mensch zunehmend eine bloße Funktion« 14 Ebd., 317.  geworden sei.

»Entsubstantialisierende Funktionalisierung« finde statt, wenn man »Ideologie und Religion“ allein als Funktionen der Gesellschaft betrachte. Das gilt natürlich auch für die Kunst, die Philosophie, die Literatur, den Tourismus etc. Ohne Zweifel hat der Begriff einen Hässlichkeitspreis verdient. In der Sache allerdings trifft er den Nagel auf den Kopf: Von der Gesellschaft aus betrachtet, sprechen wir jenen verschiedenen Tätigkeiten keinen verschiedenen Rang mehr zu. Demzufolge vermag zum Beispiel der Begriff des Philosophen in der Wissenschaft keine singuläre Besonderheit mehr auszubilden. Man hat zu funktionieren.

Arendts Analyse der »modernen Gesellschaft« versteht womöglich die Analyse der totalen Herrschaft sehr genau und nachgerade unmittelbar als Ausgangsidee. Nicht, dass sie die Lager als Resultat einer modernen Gesellschaftsform, nämlich der totalitären aufgefasst hat, sondern dass die Lager bereits von vornherein ihre Gesellschaftsanalyse präformiert haben. In der modernen Gesellschaft geht es jedoch nur noch um das Leben als solches. 15 Das ist es natürlich, was Giorgio Agamben ebenso bei Arendt gefunden und für sein biopolitisches „Homo sacer“-Projekt fruchtbar gemacht hat. Der Begriff „Biopolitik“ trifft bei Arendt allerdings nicht zu, weil sie das Biologische per se für antipolitisch hält. Das Biologische bleibt bei ihr ein Element des Sozialen.  Abgeschwächter ließe sich sagen, dass die moderne Gesellschaft eine vollkommen sinnlos gewordene Lebensform propagiert: das Leben um des Lebens willen.

Der Sinn des Politischen: Freiheit

Arendts Theorie des Politischen nimmt aus dem weiten Feld solcher Gesellschaftsbetrachtungen ihre Motivation sowie ihren exakten Anfang. Es ließe sich geradezu sagen, dass das, was Arendt unter Politik versteht, im Grunde nichts anderes erreichen soll als eine Verhinderung einer solchen, von ihr irgendwie als real behaupteten, Gesellschaft. Der aus dem Nachlass veröffentlichte durchaus noch frühe Satz: „Der Sinn von Politik ist Freiheit“ 16 Hannah Arendt: Was ist Politik? Hrsg. von Ursula Ludz. München und Zürich 1993, 28. Der Text stammt aus dem Jahre 1950.  gibt die eindeutige Richtung an.

Das schafft allerdings einen Arendt gewiss bewussten Widerspruch, nämlich den einer in sich geschlossenen Gesellschaft  17 „Das Leben der Gesellschaft wird faktisch nicht von der Freiheit, sondern von der Notwendigkeit beherrscht […].“ Ebd., 75.  im Verhältnis zu einer Politik, die sich einzig und allein als eine Befreiung zur Freiheit versteht. Es kann nur darum gehen, die Funktionalisierung der Gesellschaft aufzuhalten. Der Unterschied von Befreiung und Freiheit stammt von Arendt selbst.

Arendt fand sich vor die Aufgabe gestellt, jenem Widerspruch zumindest auf theoretischer Ebene mit einem Lösungsvorschlag zu begegnen. Und es ist kein Wunder, dass sie ihn in dem politischen Modell der Neuzeit und Moderne, in der »Revolution«, gefunden hat. Die Unterbrechung jenes in sich selbst kreisenden Lebensprozesses von Einverleibung, Verdauung und Ausscheidung bei sich wiederholender Einverleibung des Ausgeschiedenen (Recycling) konnte nur von einem Ereignis stammen, und dieses Ereignis war für Arendt die Revolution, eher die amerikanische als die französische.

In »Über die Revolution« erklärt Arendt, dass es »vor den beiden großen Revolutionen am Ende des achtzehnten Jahrhunderts« keinen »eigentlichen Revolutionsbegriff« gegeben habe: »Denn dieser ist unlösbar der Vorstellung verhaftet, daß sich innerhalb der weltlichen Geschichte etwas ganz und gar Neues ereignet, daß eine neue Geschichte anhebt.« 18 Arendt: Über die Revolution. A.a.O., 33.  Und: »Daß die Idee der Freiheit und die Erfahrung eines Neuanfangs miteinander verkoppelt sind in dem Ereignis selbst, ist für ein Verständnis der modernen Revolutionen entscheidend.« 19 Ebd., 34.

Die Freiheit im Politischen liegt für Arendt demnach darin, einen Anfang zu stiften. Diesen Anfang versteht sie großbedeutend als »neue Geschichte«. Das mag für die beiden in jenem Buch von Arendt berücksichtigten Revolutionen gelten. Sie haben historisch gesehen zwei Gesellschaften so tief erschüttert und verändert 20 Arendt selbst hat allerdings die Einschränkung  gesehen, dass die nach Nordamerika verschleppten Afrikaner davon ausgenommen blieben , dass noch heute einleuchtet, wie eine zum Totalitären tendierende Gesellschaft — für Arendt die Gefahr, in der die moderne Gesellschaft schwebt — könne einzig und allein durch einen tiefgreifenden Wandel, durch eine Revolution, gerettet werden.

Vor diesem Panorama wird Arendts »Pathos des Neubeginns« 21 Ebd., 41. in einer durchaus christlichen Betonung der »Natalität« 22 Arendt: Vita activa. A.a.O., 167.  verständlicher. In »Vita activa« will sie in der »Erschaffung des Menschen als eines Jemands« eine »Erschaffung der Freiheit« 23 Ebd., 166.  erkennen. Das kann nur insofern in ihre Theorie des Politischen transferiert werden, als das Handeln auch und gerade in der Revolution stets von konkreten »Jemands« übernommen werden muss. 24 In diesem Kontext wäre einmal Arendts sich durchaus differenzierende Darstellung von Lenin von den „Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft“ zum Revolutionsbuch zu berücksichtigen.  Das Problem manifestiert sich allerdings in der Aporie, dass ich als Anfänger einer neuen politischen Wirklichkeit, sagen wir des »Rätesystems«, gleichsam schon angefangen, will sagen, mich aus den Kontexten des von der Gesellschaft aufgegebenen Lebens befreit haben muss. 25 Die Unversöhnlichkeit des sozialen und politischen Bereichs bei Arendt ist vielfach erkannt und kritisiert worden. M.E. zeigt aber die Entwicklung der modernen Gesellschaft, inwiefern Arendts störrische Differenzierung zutreffend gewesen ist.  

In dem unter der Überschrift »Die Freiheit, frei zu sein« veröffentlichten Vortrag aus dem Kontext von »Über die Revolution« attestiert sie den amerikanischen und französischen Revolutionären eine »Freiheit von Not — die Freiheit, frei zu sein«. 26 Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein. dtv: München 2018, 29. Den sicher schönen, m.E. aber irreführenden Titel hat Thomas Meyer, der das Nachwort verfasst hat, von Jerome Kohn übernommen.  Das sei »ein Privileg von ein paar wenigen« gewesen. Sollte diese Bemerkung mehr als nur eine historische sein, die daran erinnert, dass die Akteure der amerikanischen und französischen Revolution, wenn nicht einer Aristokratie, so doch einem sehr wohlhabenden Bürgertum angehörten, die — lax gesagt — Zeit hatten, neu anzufangen, dann muss sie den genauen Punkt markieren, an dem sich das Animal laborans aus der Kette seiner Funktionalisierungen zu befreien vermag. Das müsste der Punkt sein, an dem ihm aufginge, dass es Wichtigeres als das bloße Leben gibt. Doch was sollte das von Arendt im ausgerufenem Reich des Nihilismus noch sein?  Wofür lohnt es sich, auf die Barrikaden zu gehen? Wie realistisch ist es noch, von der »Revolution« zu reden?

»Liberalismus«

Den Begriff des »Liberalismus« hat Arendt meines Wissens, wenn überhaupt, nur selten verwendet. Im Buch über die Revolution bemerkt sie einmal beiläufig, dass der »an Gegensätzen orientierte Begriffsapparat — die Rechte und die Linke, reaktionär und fortschrittlich, konservativ und liberal, und wie sie sonst noch heißen mögen« 27 Arendt: Über die Revolution. A.a.O., 287.  — eine historische Folge der Revolutionen sei. Sie ist Philosophin genug, diese Terminologie nicht zu verwenden.

Ich aber, der ich kein Philosoph bin, jedenfalls keiner wie Hannah Arendt, kann mich nicht immer ganz dieser Begriffe erwehren und muss sie dann zuweilen verwenden, möglicherweise um etwas Banales oder auch nur eine Erkenntnis zu formulieren. Ich nehme daher an, der moderne Liberalismus manifestiere sich in der einzigen Idee, dass ich immer soweit frei bin, mein Glück zu verfolgen, wie ich die Freiheit des Anderen, sein Glück zu verfolgen, nicht einschränke und vice versa. Dann wird deutlich, dass Arendt — obwohl die sogenannten Founding Fathers der amerikanischen Revolution zu den Gründungsfiguren des Liberalismus gehören — keine liberale Denkerin ist.

Die Founding Fathers nämlich hatten in der Präambel der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung »Life, Liberty and of happiness« als vom »Creator« gegebene »unalienable Rights« des Menschen bezeichnet; drei Begriffe, die in ihrem Zusammenhang den Horizont des Liberalismus abstecken. Arendt hat die Formulierung als ein großes Unglück betrachtet, denn ihre Konsequenz »war eine allgemeine Überzeugung, daß die Freiheit in dem freien Spiel von Privatinteressen bestünde und die Bürgerrechte in dem Recht auf rücksichtslose Verfolgung des Eigennutzes«. 28 Ebd., 174.  Privatinteressen und Eigennutz haben in Arendts Augen aber nichts mit dem Politischen, dafür alles mit der Gesellschaft und ihrer Verengung des Lebens auf die Arbeit zu tun.

Arendts Denken lässt den Liberalismus als ein Abfallprodukt der Revolutionen hinter sich. Die »Idee der Freiheit« verweist sozusagen prinzipiell auf die »Erfahrung eines Neuanfangs«. Daher können wir von Hannah Arendt im Grunde nur lernen, dass die moderne Gesellschaft, wie sie sie auffasst und darstellt, einzig und allein durch eine Revolution verändert oder – besser noch – verwandelt werden könnte. Noch in ihrem vielleicht letzten wichtigeren theoretischen Text zur Politik, in »Macht und Gewalt« von 1969, in dem sie ihr eigenes Verständnis von »Macht« als diskursive Potenz einer zum Handeln bereiten Gruppe präsentiert, heißt es:

Je mehr die Bürokratisierung des öffentlichen Lebens zunimmt, desto stärker wird die Versuchung, einfach zuzuschlagen [also Gewalt, nicht Macht zu verwenden]. Denn in einer voll entwickelten Bürokratie gibt es, wenn man Verantwortung verlangt oder auch Reformen, nur den Niemand. Und mit dem Niemand kann man nicht rechnen, ihn kann man nicht beeinflussen oder überzeugen, auf ihn keinen Druck oder Macht ausüben.

Hannah Arendt: Macht und Gewalt. München und Zürich 1970, 80.

Den Zusammenhang zwischen einer sich funktionalisierenden Gesellschaft und ihrer Bürokratisierung zu erweisen, wäre ein Leichtes. Ich erinnere an jenen Grundgedanken des Liberalismus, wonach der Sinn der Politik darin liegen soll, mich mein wie auch immer geartetes privates Glück verfolgen zu lassen. Ich werde diesen Gedanken in einem zweiten Teil ausarbeiten. In diesem zweiten Teil wird zu zeigen sein, dass diejenige Gesellschaft, die dem Subjekt signalisiert, dass er alles private Glück der Welt erlangen kann, wenn er sich nur »allumfassend« den institutionalisierten Verfahrensmodellen der Gesellschaft unterwirft, eine Gesellschaft von Funktion und Bürokratie ist. Wenn man dann einen Schritt weiterdenkt, wäre es möglich, eine Koinzidenz von totaler Herrschaft und Liberalismus zu denken.