War Hannah Arendt eine liberale Denkerin? – 2. Teil
Im zweiten Teil seines Essays zeigt Peter Trawny, wie eine postsäkulare, liberal-demokratische Gesellschaft in eine neue Form unsichtbarer Herrschaft kippen kann – nicht durch Terror, sondern durch die Totalisierung des Privaten und die Entleerung des Politischen.
Die Geschichte der Säkularisierung hat ihr Ende erreicht. Bereits für Hannah Arendt war die totale Herrschaft ein deutliches Zeichen dafür. Dem »moralischen Nihilismus des ›Alles ist erlaubt‹« habe man »durch den sehr viel radikaleren Nihilismus eines ›Alles ist möglich‹ erst seine wirkliche Grundlage gegeben«. 1 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. Piper: München und Zürich 1986, 811. Für Arendt ist erst dann alles erlaubt, wenn alles möglich ist. Das hätten die Vernichtungslager, diese »Laboratorien« der totalen Herrschaft, erwiesen.
Die politische Theorie heute muss — jedenfalls im Westen — von einer »postsäkularen Gesellschaft« 2 Jürgen Habermas: Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2001, 13. ausgehen. Sicher kann in der Theorie noch von einer politischen Theologie oder einer theologischen Politik gesprochen werden; es gibt aber keine Gründe mehr, sie für einen Schlüssel zum Verständnis der westlichen spätmodernen Gesellschaft zu halten. Dagegen kann darüber nachgedacht werden, welche Konsequenzen die totale Säkularisierung der Gesellschaft hin zu einem »postsäkularen« Zustand mit sich bringt.
Die Geschichte des Nihilismus verläuft über viele Stationen, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Sondersituation des Westens, des »Abendlandes«, wie er einmal genannt wurde, von einer sehr spezifischen historischen Ereigniskonstellation abhängt. Der erste Einschnitt mag der Beginn der Neuzeit sein, als in Europa an verschiedenen Stellen sich die Macht der sich in Bewegung setzenden Naturwissenschaft meldete. Er wurde flankiert von einer Reformation, die den Glauben individualisierte und damit einer Gewissensprüfung aus Vernunft aussetzte, der er standzuhalten hatte. Diese ersten, zu Beginn durchaus noch zaghaften Schritte der Rationalisierung wurden durch die Französische Revolution beschleunigt. Dass sie sich ereignete, als die Aufklärung in Namen wie Voltaire und Kant sich manifestierte, ist bedeutend. Der Siegeszug der Industriellen Revolution mit einer nun durchschlagenden Effektivität neuer Technologien auch in der Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert bereitete die Katastrophe vor. Der Erste Weltkrieg und seine Fortsetzung im Zweiten samt des Techno-Genozids an den Juden taten ein Übriges.
Peter Trawny
Das Ergebnis einer solchen singulären Geschichte ist eine Gesellschaft, die, wie Arendt erläutert, ihre Grundlage auf die alleinige Distribution von Lebensqualitäten im Sinne eines totalisierten »pursuit of happiness«, eines alles beherrschenden privaten Glücksstrebens, reduziert. Würde man, anders als Arendt, die englischsprachige politische Theorie der letzten drei Jahrhunderte in Betracht ziehen, könnte man von einem Siegeszug des Liberalismus sprechen, der uns in der »postsäkularen Gesellschaft« seine aktuelle Gestalt zeigt. 3 Vgl. Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Suhrkamp: Berlin 2017. Ich werde mich auf dieses Buch im Folgenden häufiger beziehen. Vorerst sei gesagt, dass Reckwitz in diesem Werk keinen einzigen bedeutenderen Philosophen des 20. Jahrhunderts zitiert (jede Referenz auf Heidegger, Arendt oder auch Adorno fehlt) und sich in seinen Forschungen vielfach auf englischsprachige Literatur bezieht; was allerdings in der heutigen Wissenschaftswelt usus ist. Eine solche Gesellschaft ist nach Arendt von einem vollkommenen Schwund des Politischen geprägt. Denn selbst wenn sich dieser Liberalismus demokratisch definiert und realisiert, sich demnach als »politisch« betrachtet, bleibt es dennoch möglich, dass sich die Motive einer solchen demokratischen Gesellschaft einzig und allein im totalisierten pursuit of happiness versammeln. Dieses Streben nach Glück bewegt sich für Arendt im Bereich des Unpolitischen, in einer pseudopolitischen Verabsolutierung des Privaten. In der Tat: Alles, was den aktuellen Liberalismus vordringlich zu interessieren scheint – die Stärkung diskriminierter Minderheiten in Gender-Fragen, in Herkunftsdifferenzen, in Inklusions/Exklusions-Entscheidungen – dient nach Arendt dem eigentlich ins Private gehörenden Glücksanspruch einer jeweils sich betroffen fühlenden Person.
Indem aber nach Arendt mit dem Politischen das wegzubrechen droht, was sie als seinen Sinn betrachtet, nämlich »Freiheit«, 4 Hannah Arendt: Was ist Politik? Hrsg. von Ursula Ludz. München und Zürich 1993, 28: „Der Sinn von Politik ist Freiheit.“ entsteht eine auf den ersten Blick paradoxe Lage: Die »postsäkulare« Totalisierung des pursuit of happiness, die sich in einem aufgeklärten, demokratischen Liberalismus zu verwirklichen scheint, fördert nicht, sondern zerstört politische Freiheit im Sinne eines gemeinsamen Anfangenkönnens (vgl. den 1. Teil dieses Versuchs). Damit zeigt sich am Horizont eine zunächst scheinbar absurde Möglichkeit, nämlich dass eine liberal-demokratische Gesellschaft in jene Konsequenz der Politikvernichtung umschlägt, vor der Arendt zeit ihres Lebens warnte: in die totale Herrschaft. Anders gesagt: das Leben in einer liberal-demokratischen Gesellschaft kann zu einer totalen Herrschaft werden.
Um diese These weiter zu verfolgen, muss allerdings ein mögliches Missverständnis direkt ausgeschlossen werden. Arendt hat beschrieben, inwiefern die totale Herrschaft in der Institution der Vernichtungslager gleichsam zu sich selbst kommt. »Terror« sei das »eigentliche Wesen der totalitären Herrschaft«. 5 Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. A.a.O., 954. Selbst wenn man, wie ich es im ersten Teil dieser Überlegungen getan habe, darauf verweist, dass Arendts Gesellschaftsanalyse nur insofern zur Deutung der Vernichtungslager fortschreitet, als sie diese in Wahrheit implizit für jene Analyse voraussetzt, ist mehr als selbstverständlich, dass eine spätmoderne Identität von Liberalismus und totaler Herrschaft nicht in der Institutionalisierung von Vernichtungslagern bestehen wird. Das bedeutet aber nicht, dass das Lager als solches unmöglich sein muss. Dazu später.
Der totale Liberalismus des pursuit of happiness
Es ist natürlich die Frage, worin die Herrschaft eines totalen entpolitisierten Liberalismus bestehen soll, insofern Terror, Verfolgung und Vernichtung schon allein deshalb nicht zu seinen Eigenschaften gehören können, als sie den totalen pursuit of happiness 6 Ich verstehe Reckwitz’ »Gesellschaft der Singularitäten« als die Beschreibung eines totalisierten pursuit of happiness. verunmöglichen würden. Um eben diese Frage zu beantworten, muss erst einmal geklärt werden, wie eine totale Herrschaft nach Arendt aussehen könnte, die auf ihre deutlich »bösen« Eigenschaften wie Terror und Vernichtung verzichtet hat.
Zu Beginn von »Vita activa« macht Arendt darauf aufmerksam, dass es zum Fortschritt der modernen Gesellschaft gehörte, »das monarchische Prinzip der Ein-Herrschaft« in der neuzeitlichen Reinform des Absolutismus hinter sich gelassen zu haben. Das sei so weit gegangen, dass »in der Gesellschaft gerade niemand herrscht oder regiert«. 7 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. Piper: München und Zürich 1994, 41. Arendt denkt dabei nicht an eine faktische Anarchie, an ein reales Fehlen eines Regimes, sondern an einen totalisierten sozialen Konsens, der die Frage nach dem Regieren auf die nach der bloßen besten Organisation reduziert: »Wir kennen das Phänomen der Herrschaft dieses Niemands nur zu gut von der ›sozialsten‹ aller Staatsformen, nämlich der Bürokratie […].« 8 Ebd. Diese »Herrschaft des Niemands« sei »so wenig Nicht-Herrschaft, daß sie sich unter gewissen Umständen sogar als eine der grausamsten und tyrannischsten Herrschaftsformen entpuppen« könne.
Kein Zweifel, dass Arendt bei jenen »gewissen Umständen« an ihre Erfahrung der totalen Herrschaft, an den »bürokratischen« Charakter der Massenvernichtung denkt. Ist damit die Möglichkeit, die totale Herrschaft eines vollkommen entpolitisierten Liberalismus zu denken, vom Tisch? Durchaus nicht. Denn die Entpolitisierung im Sinne eines sich totalisierenden pursuit of happiness des Subjekts, das sein Leben vor allem als eine Steigerung und Intensivierung von Lebensqualität versteht, überlässt die gesamte Organisation eines solchen Lebens einer scheinbar unauffälligen Herrschaft technologischer, wissenschaftlicher und in ihrer Exekutive letztlich bürokratischer Prinzipien.
Wenn Arendt daran erinnert, dass Herrschen oder Regieren ehemals eine sichtbare Institution wie einen Tyrannen oder auch nur absolutistischen Monarchen voraussetzte, dessen Entscheidungen sichtbare und spürbare Konsequenzen für die Beherrschten und Regierten zur Folge hatten, so dass man im Übrigen sich sogar im sichtbaren politischen Widerstand als Repräsentant der Freiheit bewähren konnte, 9 Arendt: Elemente und Ursprünge der totalen Herrschaft. A.a.O., 953: „Die Friedhofsruhe, die nach klassischer Theorie die Tyrannis über das Land legt — und die in Wahrheit auch immer die Stille war, welche dem Entstehen eines neuen Anfangs günstig sein konnte —, bleibt dem totalitär regierten Land so verwehrt wie Ruhe überhaupt.“ dann hat die Auflösung dieser Präsenz des Herrschers nicht die Konsequenz, dass nicht mehr geherrscht oder regiert wird. Im Gegenteil schafft gerade das Verschwinden von sichtbarer Herrschaft im öffentlichen Raum die Möglichkeit einer Herrschaft im Verborgenen.
Wohlgemerkt: Im totalen Liberalismus des pursuit of happiness kann sich diese verborgene Herrschaft im Regelfall nicht als brüske Verhinderung, sondern notwendig lediglich als Organisation dieses Glücksstrebens entfalten. Es ist daher zu fragen, inwiefern eine solche Niemandsherrschaft der Organisation überhaupt zu einem Problem werden kann, wenn sie tatsächlich als unsichtbare instrumentelle Rationalität den scheinbar singulären 10 Reckwitz’ Verständnis der Singularität läuft darauf hinaus, dass Tesla Inc. sehr genau weiß, wie Ingenieure und vor allem Designer die persönlichen Erwartungen der Verbraucher an einem spätmodernen Automobil zu befriedigen vermögen. Gegen eine „mystifizierende Haltung gegenüber Besonderheiten“ zum Beispiel in Kunst oder Religion führt Reckwitz die „Aufklärungsfunktion“ (12) der Soziologie ins Felde. Man könnte sagen, dass sich sein wissenschaftliches Projekt in die „Gesellschaft der Singularitäten“ selbst einschreibt, um es theoretisch zu legitimieren. Dass damit dem Begriff der „Singularität“ Gewalt angetan wird, weil man die logisch zu deutende Singularität der Kreuzigung Jesu (im mindestens dreifachen Sinne als religiöses, historisches und persönliches Ereignis) oder der Schoa zu einer „Mystifikation“ erklärt, ist deutlich. Glücksintentionen zur Erfüllung verhilft. Was wäre gegen eine »›machine à gouverner‹«, 11 Vgl. Norbert Wiener: Mensch und Menschmaschine. Hrsg. von Peter Trawny. Klostermann Verlag: Frankfurt am Main 2022, 193f. die sich ganz in die Abwesenheit zurückzöge, eigentlich einzuwenden?
Die unsichtbare Steuerung des Glücksstrebens
Bevor ich diese Frage zu beantworten versuche, muss ein weiteres mögliches Missverständnis ausgeräumt werden. Der Begriff der Niemandsherrschaft ist nicht wörtlich zu nehmen. Die »postsäkulare Gesellschaft« des Westens, die sich als total-liberale Demokratie des pursuit of happiness versteht, ist eine der staatlichen Institutionen im geregelten Kontext eines im Grunde immer noch gut funktionierenden Parteienwesens. Es gibt funktionierende Regierungen, die zur Verteidigung und Sicherung von Staat und Gesellschaft über Polizei und Militär verfügen.
Im Zuge des totalen Liberalismus in seinem unendlichen Diversitätspotential wird aber dieser ganze Apparat der Macht nicht mehr als Kontroll- oder Disziplinierungsinstanz wahrgenommen und erfahren. In der »postsäkularen Gesellschaft« wollen alle dasselbe, nämlich sich einem scheinbar frei gewählten Glücksstreben zuwenden. Das gilt im Prinzip auch für die vermeintlichen Machthaber. In der entpolitisierten Demokratie des Lebensglücks und des Glückslebens strebt prinzipiell auch die Bundeskanzlerin oder Bundeskanzler so, wie ich strebe. Dass das Politische auf ein ganz anderes Register von Ideen und Möglichkeiten verweisen könnte, ist gänzlich in Vergessenheit geraten.
Die Covid-19-Pandemie zwischen 2020 und 2023 hat allerdings selbst den westlichen Gesellschaften gezeigt, dass die durch moderne Technologien gewährleistete unsichtbare Organisation der Gesellschaft effektiv in Erscheinung treten kann, wenn ihr Zustand, der in nichts anderem besteht, als ihren Mitgliedern den pursuit of happiness in Quantität und Qualität zu ermöglichen, bedroht wird. Dann wird die normalerweise unsichtbare Steuerung der Gesellschaft sichtbar und belegt ihre im Grunde permanente Funktionalität im Hintergrund des Sozialen. Die sonst unthematische Niemandsherrschaft, könnte man auch sagen, wurde gleichsam thematisch.
Die Dialektik dieses Thematischwerdens lag in dem Gedanken, dass die Pandemie die Funktionalität der Glücksorganisation gefährdete. Zu Beginn wusste niemand, wie gefährlich das Virus war. Ein Massensterben hätte jedoch die Logistik, die für die Organisation der spätmodernen Gesellschaft notwendig ist, zum Zusammenbruch gebracht. Dass diese Möglichkeit zumindest in der paranoischen Struktur der Gesellschaft am Horizont erschien, belegen die sogenannten Hamsterkäufe, die für eine gewisse Zeit zu Engpässen in der Versorgung mit bestimmten Lebensmitteln führte. Ein Zusammenbruch der Möglichkeit, weiterhin an den pursuit of happiness zu glauben und ihn zu realisieren, musste auf jeden Fall verhindert werden. Dass dazu demokratische Deliberationsprozesse kurzfristig suspendiert wurden, bestätigt die intrinsische Dialektik von Herrschaft und Glück. Um später noch glücklich werden zu können, muss es möglich sein, das einbrechende Unglück mit der mittelfristigen Suspension des Glücksstrebens zu verhindern.
Die strengere Steuerung der Gesellschaft hat letztlich eine Katastrophe verhindert und der große Zuspruch, der die Ausführung der Maßnahmen begleitet hat, bestätigt diese auch in letzter Konsequenz. Und doch hat sich gezeigt, dass der totale Liberalismus mit seinen demokratischen Regierungen notwendig auf einer unsichtbaren Niemandsherrschaft aufruht.
Das chinesische Modell
Das reinste Beispiel eines durchgeregelten 12 Einen „regulativen Liberalismus“ (441) hält auch Reckwitz für möglich. Dabei denkt er eher an eine stärkere Regulierung des Sozialen und Kulturellen, demnach an eine Zurückschneidung eines womöglich zu aggressiven Liberalismus, eine zu ungeregelten und das heißt dann auch tendenziell rücksichtslosen Glücksstrebens in allen Bereichen. Den größten Feind dafür seiht er im „antiliberalen Rechtspopulismus“ (ebd.). Philosophisch betrachtet liegen die Probleme woanders. totalen Liberalismus repräsentiert vielleicht die aktuelle chinesische Gesellschaft. Wahrscheinlich aufgerüttelt und sicher erschüttert vom Massaker im Umfeld des Tiananmen im Jahre 1989 hat die Volksrepublik China die schon von Deng Xiaoping eingeführte Öffnung der Ökonomie für privatwirtschaftliche Projekte so sehr dynamisiert, dass dadurch eine ökonomische Entwicklung angestoßen wurde, die in den letzten dreißig bis vierzig Jahren weltweit einzigartig gewesen ist. In wohl keinem anderen Land der Welt haben Subjekte so sehr, so deutlich vom Wirtschaftswachstum profitiert wie in China.
Dieser Profit wurde allerdings von Anfang an von einem Gedanken begleitet, der Ähnlichkeiten mit jener Dialektik hat, die in der Zeit der Pandemie auch in westlichen Gesellschaften sichtbar wurde: Das Glücksstreben des Liberalismus kann temporär suspendiert werden, wenn es von einer wie auch immer zu fassenden Gefahr bedroht wird. Diese Suspendierungsmöglichkeit ist eine permanente. In China wird der soziale Aufstieg an die Notwendigkeit einer radikalen Entpolitisierung geknüpft. Der Grund dafür liegt in dem rationalen Szenario, dass politische Unruhe(n) den weiteren sozialen Aufstieg nur verzögern oder gar verhindern. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass eine klar zu vernehmende Übereinstimmung mit der Entpolitisierung auch belohnt wird.
Dafür setzt die Kommunistische Partei alle möglichen unsichtbaren Kontroll- und Organisationsmittel ein. Sogar das Lager scheint dieser Gesellschaft wieder ein mögliches Mittel geworden zu sein, um die Entpolitisierung des pursuit of happiness, das heißt des Liberalismus, aufrechtzuerhalten. Und dass solche Maßnahmen in der chinesischen Gesellschaft keine sichtbaren Effekte haben, natürlich auch deshalb, weil die Kommunistische Partei über Mittel verfügt, sie frühzeitig im Keim zu ersticken, bezeugt ihren Erfolg. Es wäre ein völliges Missverständnis, zu meinen, die Entpolitisierung des pursuit of happiness würde als eine Tyrannis oder Despotie erfahren und betrachtet. Je mehr Zuspruch die Ermöglichung des pursuit of happiness von der chinesischen Bevölkerung verlangt, um so unsichtbarer und spurloser bleibt die Niemandsherrschaft im Hintergrund.
Es ist möglich, diesen Liberalismus als einen regulierten oder regulativen zu betrachten. Denn die Eingriffe der Partei in die Marktwirtschaft sind allgemein bekannt und führen wie zum Beispiel in der effektiven Verbreitung des E-Autos zu großen Erfolgen. Man kann cum grano salis diesbezüglich wirklich vom Triumph der Singularitäten sprechen, wenn man bedenkt, welchen Reichtum von Modellen die chinesischen Autohersteller den Verbrauchern anzubieten vermögen. 13 Vgl. The Chinese Pursuit of Happiness. Anxieties, Hopes, and Moral Tensions in Everyday Life. Edited by Becky Yang and Richard Madsen. University of California Press 2019.
Die Totalisierung des Privaten
Der totale Liberalismus fordert die Entpolitisierung seiner dynamischen Systeme 14 Ähnlich auch Reckwitz: „Politische Planungsfantasien einer durchgreifenden Steuerung sozialer und kultureller Prozesse, wie sie die industrielle Moderne prägten, prallen an der Gesellschaft der Singularitäten ab. Ihre elementare Dynamik bezieht diese nicht aus der Politik — die höchstens indirekt beeinflusst, aber nicht dirigiert —, sondern aus dem hyperkulturellen Dreieck, das die Ökonomie der Singularitäten, die Kulturmaschine der digitalen Technologien und der singularistische Lebenssteil der neuen Mittelkasse bilden.“ (442) Arendt hätte das Substantiv „Planungsfantasie“ von vornherein nicht mit dem Adjektiv „politisch“ verbinden können. bei Stärkung seines technologisch-logistischen Apparats der unsichtbaren Steuerung. Diese Steuerung betrifft im Normalfall lediglich das Möglichkeitsfeld des pursuit of happiness, den die Ausrufung des Ausnahmezustands unmittelbar unterbrechen kann. Das Subjekt des totalen Liberalismus ist demnach potentiell schizophren. Wie es einerseits nur sein persönliches Glück als Lebensorientierung kennt und kennen darf, so weiß es zugleich, dass es einen technologisch-bürokratischen Apparat gibt, dessen Regeln, denen er sich immer schon unterworfen hat, unantastbar sind. In dieser Form könnte eine Synthese von totaler Herrschaft und Liberalismus womöglich gedacht werden. Dass in diesem Punkt die westlichen postsäkularen Gesellschaften etwas mit der chinesischen Gesellschaft teilen, liegt auf der Hand.
Am Schluss dieser Überlegungen scheint beinahe entfallen zu sein, warum Hannah Arendt einen solchen totalen Liberalismus höchstwahrscheinlich für eine schwächere Form der totalen Herrschaft gehalten hätte, wenn sie in ihm nicht vielleicht sogar in seiner Unsichtbarkeit und damit scheinbaren Alternativlosigkeit noch Schlimmeres gesehen hätte. Denn die totale Herrschaft in ihren bekannten Formen präsentierte ihre Gewalt und ihr Unrecht ganz offen, konstituierte damit prinzipiell eine Innen/Außen-Unterscheidung, die, selbst wenn totale Herrschaft die ganze Welt zu beherrschen versuchte, ein Jenseits brauchte, um Weltherrschaft zu beanspruchen. Dieses Jenseits gibt es in der totalen Entpolitisierung einer Welt des pursuit of happiness nicht mehr.
Arendt, die auf die Singularität der »Freiheit«, ja vielleicht sogar der »Revolution« im Sinne eines Anfangs, setzte, teilte nicht ansatzweise die »allgemeine Überzeugung, daß die Freiheit in dem freien Spiel von Privatinteressen bestünde und die Bürgerrechte in dem Recht auf rücksichtslose Verfolgung des Eigennutzes«. 15 Die Totalisierung des Privaten — und was ist der Liberalismus anderes als das? — war ihr nicht nur suspekt, sondern wie die totale Herrschaft eine Vernichtung des Politischen.
Es wäre aber ganz falsch, diese Auffassung als eine rein theoretische zu verstehen. Natürlich kann gefragt werden, was gegen einen totalen Liberalismus denn nun noch einzuwenden wäre, wenn er wirklich das potentiell größte Glück für die Meisten in der Gesellschaft zu ermöglichen in der Lage ist? Die Entpolitisierung einer solchen Welt würde doch kein Opfer bedeuten, wenn ihre Politisierung unmittelbar zu einer Beeinträchtigung jenes Glücks führen würde. Wer strebt denn nicht nach seinem Glück?
Ein solches Streben dient auch dann noch ausschließlich dem Leben, wenn es um das bloße Überleben nicht mehr geht. In der »postsäkularen Gesellschaft« bleibt etwas anderes als das eigene Leben für die Bestimmungen seiner Werte und Ziele kaum mehr übrig. Und wenn auch das eigene Leben nicht identisch ist mit der von Arendt beschriebenen Korrumpierbarkeit eines um sich selbst kämpfenden Lebens in Lagern, so bleibt doch wahr, dass die Verabsolutierung des eigenen Lebens das Leben als höchstes Gut deklariert. Ein solches Leben negiert die Möglichkeiten, die sich von der Freiheit her eröffnen.
Anders gesagt: »Handelnd und sprechend offenbaren die Menschen jeweils, wer sie sind, zeigen aktiv die personale Einzigartigkeit ihres Wesens, treten gleichsam auf die Bühne der Welt, auf der sie vorher so nicht sichtbar waren […].« 16 Ein solches Handeln und Sprechen ist politisch, weil es die Frage, um was es im Leben geht, nicht schon immer beantwortet hat. Wie ich mit Dir leben möchte, ist mit Dir zu besprechen. Würdest Du nicht einzigartig sein, wäre ein solches Gespräch überflüssig. Mag sogar sein, dass Handeln und Sprechen uns zuweilen unglücklich machen. Wer noch einmal anzufangen versucht, begehrt etwas Einzigartiges, von dem der Liberalismus keine Ahnung hat.