Auf dem Weg zurück zur Geschichte
In ihrem Gespräch zum Buch »Liberalism Against Itself« diskutieren Daniel-Pascal Zorn und Samuel Moyn über historische Kontinuitäten und Brüche des Liberalismus im 19. und 20. Jahrhundert. Welche Zukunft hat der Liberalismus im 21. Jahrhundert noch?
Das folgende Gespräch fand am 18. Oktober 2024 statt, zwei Wochen vor der Präsidentschaftswahl in den USA.
I. Die Liquidierung von Hegels Vermächtnis
DANIEL-PASCAL ZORN: Sam, dein Buch beinhaltet eine Reihe von Portraits von Intellektuellen, die du unter dem Begriff »Cold War Liberalism« oder »Liberalismus des Kalten Krieges« gefasst hast. Interessant fand ich dabei, dass du nicht immer eine offensichtliche Wahl getroffen hast, was Deine Protagonisten angeht. Manche Positionen weisen voraus auf den späteren Neoliberalismus und manchmal auch in Richtung der US-amerikanischen Neokonservativen, die Ende der 1960er auf den Plan traten. Diese Verbindungen sind hochinteressant, du berührst sie aber nur am Rande. Wer von deinen Protagonisten hat den meisten Einfluss ausgeübt?
SAMUEL MOYN: Das ist eine schwierige Frage. Es ist nicht leicht für mich die verschiedenen Figuren in meinem Buch auseinanderzudividieren und ihren Einfluss zu messen. Wenn ich zwei auswählen müsste, dann würde ich sagen: Isaiah Berlin und Karl Popper. Aber auch dann ist es immer noch schwer, einen davon auszuwählen, denn ich bin überzeugt, dass wir von ihnen – und insbesondere von Berlin – ein libertäres Verständnis von Liberalismus geerbt haben. Ebenso bin ich überzeugt, dass wir ebenso ein antiprogressives Selbstverständnis des Liberalismus geerbt haben – dafür ist Popper verantwortlich.
Wenn ich einen aber auswählen müsste, dann würde ich sagen: Berlin ist am einflussreichsten. Es bleibt aber schwierig. Lionel Trilling etwa, die vielleicht unbekannteste Figur meiner Protagonisten, zumindest in Deutschland, würde ich immer noch als sehr einflussreich einstufen, weil ich auch denke, dass er der interessanteste ist. Ich nutze ihn, um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass es ein liberales »Selbst« gibt, das die »Cold War Liberals« verändert und transformiert haben. Das bietet auch eine Möglichkeit, all diese verschiedenen Figuren zusammenzubringen, weil Trilling all die Dinge glaubte, die auch Berlin und Popper glaubten, aber gewissermaßen vor ihnen.
Samuel Moyn
DANIEL-PASCAL ZORN: Ich finde interessant, dass du gerade diese drei – Berlin, Popper und Trilling – nennst. Berlin scheint mir offensichtlich, auch als Verfasser der Two Concepts of Freedom. Aus philosophischer Perspektive ist es unsinnig negative und positive Freiheit gegeneinanderzusetzen, wie Berlin es tut. Man kann leicht zeigen, welcher dieser Begriffe den anderen voraussetzen muss. Der scheinbare Gegensatz ist also eigentlich ein Voraussetzungsverhältnis. Auch die Betonung negativer Freiheit sowie der mit ihr verbundene Libertarismus ist aktuell in aller Munde und fleißig dabei, alles Mögliche zu verneinen – Staat, gesellschaftliche Solidarität, soziale und Umweltpolitik usw.
Karl Popper leuchtet ebenfalls ein. Auch als derjenige Philosoph, der die Geschichte – in Form einer Geschichtsphilosophie des Fortschritts – in Bausch und Bogen verdammt und als Maßstab für den Liberalismus kategorisch verneint hat. Er steht für eine neue Weise des Liberalismus, sich selbst zu sehen, unabhängig von der Geschichte und allein durch negative Freiheit bestimmt. Man kann bei Lionel Trilling dann die Konsequenz dieser Verbindung sehen: ein fast nihilistisches Selbstbild, zerstörerisch, sich selbst verneinend. Man sieht bei ihm förmlich Hegels »Furie des Verschwindens« oder »Furie der Zerstörung« am Werk, die Auswirkung des rein formalen Willens, der rein negativen Freiheit. Würdest du da zustimmen?
SAMUEL MOYN: Ich denke schon. Aber vielleicht noch einmal anders: Ich gestehe Trilling einige Subtilität zu und er hat, wie Berlin auch und anders als Shklar oder Talmon, die romantische Bewegung nicht im Ganzen abgelehnt und damit auch nicht das »Selbst«, das im Hintergrund von Hegels Phänomenologie steht. Berlin sieht das Romantische manchmal auch sehr positiv.
Berlin ist also nicht wie Popper oder schlimmer noch: Talmon. Aufgrund seiner radikalen Vergangenheit hat Berlin eine Sympathie für romantische Ideen, selbst als er sich mithilfe der Psychoanalyse gewissermaßen selbst diszipliniert hat. Auf eine Weise ist er derjenige, dem am bewusstesten ist, was der Liberalismus des Kalten Krieges aufgegeben hat. Daher ist auch seine Verteidigung dieser Transformation des progressiven in den defensiven Liberalismus so interessant. Trilling wiederum hat als Literaturkritiker einige seiner besten Werke über die Romantik verfasst. Und ich denke, das hat ihm in Sincerity and Authenticity erlaubt, eine Art anerkennendes Verständnis für Hegels Projekt und seine Phänomenologie aufzubringen.
DANIEL-PASCAL ZORN: Aber Trilling verneint ebenso wie Popper die Geschichte als Kriterium des Liberalismus. Für ihn ist die Geschichte vorbei. Was bleibt, ist der ewige Kampf des menschlichen Naturwesens gegen die Behauptung eines unabhängigen Selbst.
SAMUEL MOYN: Das stimmt. Trilling nimmt in den späten 1930ern vorweg, was Berlin und Popper später formulieren werden: dass die hegelsche Auffassung der Geschichte – und besonders die marxistische – die Menschheit ihrer Verantwortlichkeit beraubt. Das ist eine beliebte Argumentation unter den »Cold War Liberals«. Sie ist natürlich sachlich falsch in Bezug auf Hegel, aber unglaublich machtvoll und wirkt bis in die letzten Jahrzehnte hinein.
DANIEL-PASCAL ZORN: In diesem Zusammenhang fand ich interessant, dass Trilling damit auch vorwegnimmt, was man bei Kojève und später bei Fukuyama über das »Ende der Geschichte« findet. Die Geschichtsphilosophie des Liberalismus kehrt sich sozusagen um: es gibt nicht länger eine Zukunft, in die hinein die Veränderung der Gegenwart projiziert wird, sondern die Zukunft wird zur Ressource einer ewigen Gegenwart. Auf eine Weise bedeutet die Verabschiedung der Geschichte die Verabsolutierung der Gegenwart, mit weitreichenden Konsequenzen für zukünftige Entwürfe.
SAMUEL MOYN: Der Liberalismus des Kalten Krieges ist widersprüchlich. Es gibt von Trilling in Sincerity and Authenticity eine ausführliche Auseinandersetzung mit Rameaus Neffe von Diderot und Hegels Verweise darauf in dessen Phänomenologie des Geistes. Trilling steht auch Marcuse sehr kritisch gegenüber, aber er will dem Weg, den der deutsche Idealismus eröffnet, nicht vollständig den Rücken zuwenden. Zugleich liquidiert Trilling Hegels Vermächtnis so wie alle anderen »Cold War Liberals«. Ich denke, das liegt vor allem daran, dass er meinte, ein undiszipliniertes Selbst, das sich seiner eigenen eingeborenen Aggressivität und Tierhaftigkeit nicht bewusst ist – eine Auffassung, die Sigmund Freud aus seiner Sicht bewiesen hatte –, gefährlich für die Liberalen und das Überleben des Liberalismus ist. Am Ende bewegt sich auch Trilling in die Richtung eines missbräuchlichen Liberalismus des Kalten Krieges, der auf der pessimistischen Sicht auf das menschlich Böse begründet ist und nicht auf der optimistischen Perspektive menschlicher Emanzipation.
II. Kontinuitäten und Diskontinuitäten des Liberalismus
DANIEL-PASCAL ZORN: Das ist ein spannender Punkt, denn er zeigt, dass es eine Tendenz des Liberalismus gibt, Extreme auszubalancieren. Schon in den frühesten Texten zum Liberalismus zeigt sich diese. Etwa als die Deutschen den von Benjamin Constant übernommenen Entwurf »liberaler Ideen« diskutieren. Der für sie wichtigste Aspekt ist ein Diskurs der Balance, der gleichmäßigen Distanz von Extremen – seien sie autoritär oder revolutionär.
In deinem Buch hast du den »Cold War Liberalism« als Entwurf gegen ein progressives Verständnis von Liberalismus dargestellt, so wie es im 19. Jahrhundert aus deiner Sicht geprägt wurde. Ich habe mich gefragt, wie du vor diesem Hintergrund zu den historischen Erscheinungsweisen des Liberalismus stehst, die diesem progressiven, menschenfreundlichen Bild nicht entsprechen.
Im 19. Jahrhundert gab es den Manchester-Kapitalismus und die Vertreter des Manchester-Liberalismus, für die die Not der Arbeiter zumindest ein nötiges Durchgangsstadium des Fortschritts war, wenn sie überhaupt wahrgenommen wird. In den 1810er und 1820er Jahren sind die Liberalen allesamt Sozialreformer, die gegen das Ancien Regime aufstehen. Ihre Rhetorik würde man heute politisch links einordnen. Aber in den folgenden Jahrzehnten wird diese Rhetorik immer konservativer, sogar reaktionär. 1848 schreibt der Economist: »Wir können den armen Klassen nicht die Regierung anvertrauen.« Die Freiheit für alle, sie scheint nur noch für einige zu gelten. Der Altliberalismus, dem sich der progressive Liberalismus um Lassalle entgegenstellt, ist deutlich zu erkennen, nicht nur in der Polemik seiner Gegner.
Daniel-Pascal Zorn
Wie siehst du deine Auffassung eines positiven, progressiven Liberalismus vor dem Hintergrund dieser massiven Bewegung eines reaktionären, autoritären Liberalismus, der sich anhört wie der Liberalismus, den wir nach dem Zweiten Weltkrieg begegnen?
SAMUEL MOYN: Das ist eine schwierige Frage, denn die Wahrheit liegt auf beiden Seiten. Erstens gibt es natürlich auch Kontinuität und nicht nur Veränderung zwischen dem Liberalismus des 19. und dem des 20. Jahrhunderts. Ich schreibe das nicht explizit im ersten Kapitel, aber meine Absicht liegt darin, die Veränderung zu betonen und sie vielleicht auch ein kleines bisschen zu übertreiben, weil sie trotz alledem zählt. Natürlich könnte man eine plausible Darstellung eines ewigen Liberalismus des Kalten Krieges zeichnen, in der die Französische und nicht die Russische Revolution das Zentrum liberaler Selbstfindung bildet. Aber ich denke, das würde vieles vernachlässigen.
Meine etwas einseitige Darstellung der Veränderung dient auch der Richtigstellung einer allzu bequemen kontinuierlichen Sichtweise, die vieles ausblenden muss. Du hast es Balance der Extreme genannt – aus meiner Sicht ist die Französische Revolution die Quelle des Liberalismus und sein Ziel ist es, Möglichkeiten zu bewahren, das emanzipatorische Versprechen von Freiheit und Gleichheit. Die Französische Revolution ist kein Kompromiss mit dem alten Reich und seiner Wesensordnung. Es gibt das Versprechen neuer Institutionen, es gibt eine Furcht vor der Demokratie, auch in der Form des allgemeinen Wahlrechts. Das hat sich, soweit ich sehen kann, bis heute nicht verändert. Und dann interessiert mich in meinem Buch natürlich vor allem die Theorie, weniger die Praxis liberalen Denkens.
Man kann natürlich nicht leugnen, dass Liberalismus in der Praxis vor allem die Ideologie des Laissez faire und des Empire ist und in Deutschland oder Österreich dominiert der Nationalliberalismus, während der progressive Liberalismus schwach bleibt, vor allem dort, wo das Bestehen der alten Ordnungen gut sichtbar ist. Das ändert natürlich die Perspektive auf den Liberalismus des 19. Jh. In England und Frankreich gewinnt der Liberalismus einen anderen Charakter, weil er sich früher und umfassender durchsetzen konnte. Die progressiven Liberalen im 19. Jh. haben Vorstellungen, die sich stark vom Liberalismus des Kalten Krieges, wie ich ihn beschreibe, unterscheiden. Sie sind geprägt von Perfektionismus und Progressivismus –
DANIEL-PASCAL ZORN: Der Vorstellung, dass der Mensch sich im Fortschritt seiner besten Seinsweise annähert –
SAMUEL MOYN: Ja. Ich würde auch darauf bestehen, dass selbst dann, als die Nationalliberalen in deinem Land tun, was sie tun, die neuen Liberalen in England – und später die sogenannten »Progressiven« in den USA – die soziale Frage noch einmal stellen. Sie nehmen dabei viel von Marx auf, um den Liberalismus vor sich selbst zu retten. Selbst wenn man sich nur mit den Verteilungsfragen und dem Angriff auf den Laissez-faire-Liberalismus am Ende des 19. Jh. beschäftigt, sind Liberale keineswegs alle wie Herbert Spencer und Konsorten, sondern sind – sogar in einem bemerkenswerten Ausmaß – damit beschäftigt, den Liberalismus zu reformieren, um der marxianischen Herausforderung zu begegnen. In all diesen Hinsichten, denke ich, war der Liberalismus des 19. Jh. viel abenteuerlustiger und experimentierfreudiger und verdient es, mit Blick auf spätere Instanzen des Liberalismus gerettet und verteidigt zu werden.
III. Dilemmata und Auflösungsversuche
DANIEL-PASCAL ZORN: Um diese widersprüchliche Vielgestaltigkeit des Liberalismus zu erklären habe ich einen Vorschlag und mich interessiert, was du darüber denkst. Gehen wir von zwei Aspekten von Freiheit aus, der prinzipiellen Freiheit zu etwas – nicht nur einer vorgegebenen Wahlmöglichkeit, sondern der Freiheit, die wir immer schon voraussetzen – und dem negativen Aspekt derselben Freiheit: Eine Freiheit zu …, die immer zugleich auch eine Freiheit von … ist.
Die Hypothese lautet wie folgt: Es sind genau diese beiden Aspekte, die es dem Liberalismus erlauben, in Situationen, in denen er die Oberhand hat, Freiheit positiv, progressiv, perfektibilistisch zu denken. Sobald er aber in eine Krise gerät, kann der Liberalismus immer auf den negativen Aspekt zurückfallen und zu allem »Nein« sagen. »Wir sagen nein«, »Etiam si omnes, ego non« – all diese Formeln der Verweigerung und Selbstbeschränkung, der Ablehnung und des unversöhnlichen Kampfes gegen eine Alternative. Eine Art Jekyll-Hyde-Situation.
SAMUEL MOYN: Ich finde das sehr interessant und auch ansprechend. Aber ich denke, das spricht bloßen Begriffen zu viel historische Unausweichlichkeit zu oder versteht Begriffe falsch. Vielleicht, sagen wir, gehen wir von einer anderen Idee aus, etwa Wahlverwandtschaften. Und natürlich ist nicht zu leugnen, dass die Situation 1848 skandalös ist: Liberale beteiligen sich an der Revolution – und dann verraten sie diese. Aber dann gibt es andere Situationen, in denen sich Liberale ganz anders verhalten, und für mich als US-Amerikaner sind das die interessanten Fälle: Franklin Roosevelt ist kein »Cold War Liberal«. Stattdessen gehört er zu den »New Liberals« und besteht darauf, dass der Liberalismus neu erfunden werden und vor sich selbst bewahrt werden muss, um der Krise zu begegnen. Ohne diesen Beitrag gibt es nach dem Krieg keinen Wohlfahrtsstaat, der aber von Liberalen errichtet wird.
Auf der anderen Seite repräsentieren Isaiah Berlin und die anderen eine liberale Theorie, die eher reaktionär ist. Daher scheint es mir so, als würde es nicht am Begriff selbst liegen. Es ist eher eine Tendenz. Und dabei gibt es immer noch ziemlich verzwickte Probleme: Wie erklären wir die Neigung mancher Ideen und Bewegungen, die immer dieselben Fehler zu machen scheinen? Und sollten wir davon ausgehen, dass diese Fehler unausweichlich sind? Ich denke nicht.
DANIEL-PASCAL ZORN: Das leuchtet ein. Allerdings würde ich das, was du gesagt hast, noch einmal mit etwas mehr Empirie herausfordern. In der konservativen Kritik der frühen liberalen Bewegung findet man scharfsinnige und zutreffende Beobachtungen grundlegender Dilemmata, vor die sich der Liberalismus gestellt sieht. So schreibt etwa Bismarcks Gegenspieler Joseph von Radowitz, die Liberalen würden zwei Dinge zusammenbringen wollen, die nicht zusammengehen: »Die Gleichheit nach oben zu fordern; die Ungleichheit nach unten festzuhalten«. Würden sich die Liberalen jemals mit der Idee universeller Freiheit durchsetzen, würde sich ihre Machtbasis in einer Massendemokratie auflösen, über deren Ambitionen sie dann keinerlei Kontrolle mehr hätten. Das ist natürlich eine typisch konservativ-reaktionäre Kritik – und doch scheint sie mir präzise einen Grundwiderspruch des Liberalismus zu treffen.
Selbst wenn man die Polemik des Konservativen zugesteht: Gibt es dieses Dilemma nicht tatsächlich? Wir können es ja beschreiben, am Beispiel des Neoliberalismus, der einerseits einen Liberalismus für alle fordert und als Lösung für alles darstellt, sich aber andererseits vor allem für die Freiheit weniger einsetzt. Das ist auch der Punkt, den Patrick Deneen in seiner Diskussion mit Francis Fukuyama, Cornel West und Deirdre McCloskey zur Krise des Liberalismus gemacht hat – und dabei marxistischer klang als Cornel West. Deneen wies darauf hin, dass der Liberalismus zwei Dinge zur gleichen Zeit tut, die nicht zusammengehen: Er verspricht das eine und tut das andere. Jeder kann es sehen – wir können sehen, dass er das andere tut und die Leute, die er mit seinen Versprechen adressiert, können das auch sehen. Auch Deneen äußert eine typisch reaktionäre Kritik, stellt ein Problem heraus – was sonst?
Aber würdest du nicht sagen: Ja, da gibt es in der Tat ein Dilemma. Und wenn es sich aus dem Begriff der Freiheit ergibt, können wir auf Liberale verweisen, die das Richtige getan – oder es zumindest versucht – haben: nämlich das Problem zu lösen, anstatt es zu verleugnen. Aber könnten wir dann nicht sagen, dass es der Liberalismus selbst ist, der in einem Ungleichgewicht zu sich steht, der eine Tendenz hat, ein »Liberalism against itself« zu sein, wie der Titel deines Buches es formuliert.
SAMUEL MOYN: Ja, sicherlich. Das ist wiederholt passiert, 1848 und 1948 beweisen diese Tendenz oder zumindest diese Möglichkeit. Was ich, glaube ich, vermeiden will, ist eine Zentrierung auf den Begriff. Das ist möglicherweise das tiefste methodologische Bekenntnis meines Buches darüber, wie man die Geschichte des Liberalismus erforschen sollte. Traditionell wird dieser nämlich begrifflich erforscht, in der Weise, dass angenommen wird, dass er – implizit oder explizit – von einem Set von feststehenden Prämissen oder Voraussetzungen ausgeht. Ich dagegen gehe davon aus, dass die Tradition nicht so einheitlich ist, dass sie auch ein Gemisch sein kann, dass sie keine begriffliche Vorherbestimmung in sich trägt. Sie kann sich auch in etwas ganz anderes entwickeln. Deswegen sehe ich zum Beispiel zu einer bestimmten Zeit viel weniger Konflikte zwischen Liberalismus und Marxismus als andere Autoren.
Daher würde ich vorschlagen, dass es diese kriegerischen Tendenzen natürlich gibt, aber dass die schiere Tatsache, dass eine Minderheit versuchen kann, den Liberalismus vor sich selbst zu retten, eben auch beweist, dass das möglich ist. Und würde man so etwas häufiger tun, hätten wir einen anderen Liberalismus. Er wäre nicht die reine Lehre, »wahrer Liberalismus«, mit dem man endlich bei einer endlichen Anzahl von Prämissen ankommt, sondern einfach eine andere Form seiner selbst. Ich denke, dass Ideen teilweise erfahrungsgebunden sind und dass es in der ganzen Lebensspanne nur eines einzigen liberalen Denkers die Erfahrung von Entwicklung gibt. Quentin Skinner hat darauf hingewiesen, als er das kritisiert hat, was er die »Mythologie der Doktrinen« nennt: als würde man, wenn man auf den richtigen Denker, Thomas Hobbes etwa, verweist, auf eine unabänderliche Position verweisen, die sich in seinen verschiedenen Werken durchhält – was jedoch Unsinn ist.
Wenn das für nur einen Denker wahr ist, dann stimmt es erst recht für eine mehrhundertjährige theoretische Tradition. Und das bedeutet für uns, dass wir es als Forscher immer mit Auseinandersetzungen zu tun haben und nie mit festgestellten Positionen. Daher stimme ich dir darin zu, dass man natürlich die Neigung erklären muss, dass Liberale immer wieder denselben Fehler machen. Aber vielleicht liegt es nicht an diesen Liberalen, auf lange Sicht zu bestimmen, was Liberalismus ist. Vielleicht liegt es an denen, die ihn vor jenen Fehlern bewahren wollen.
IV. Die Zukunft des Liberalismus
DANIEL-PASCAL ZORN: Als Philosoph sehe ich deinen Punkt natürlich. Denn worum geht’s in der Philosophie, wenn es um Freiheit geht? Philosophie ist selbst eine freie Praxis, schon bei Platon: Philosophie ist die Praxis freier Menschen. Es gibt in der philosophischen Tradition eine große Diskussion über die Freiheit – als Selbstbestimmung bei Pico della Mirandola, als Möglichkeit bei Spinoza. In der Tat ist Spinoza einer der ersten wirklich liberalen Denker in diesem Sinne, der sagt: der Zweck des Staates ist die Freiheit. Das wird in der aktuellen Ideengeschichte meistens ignoriert, weil man John Locke zum Begründer des Liberalismus erkoren hat. Der Liberalismus liebt seine Engländer. Ich verstehe also gut, was du damit meinst, wenn du von dem Potenzial des Liberalismus sprichst.
Das ist auch der Kern von Hegels Argument: Es ist die Geschichte, die sich zur Weltgeschichte wandelt, sobald die Freiheit errungen ist. Die Weltgeschichte ist die Einheit von Freiheit und Menschsein, so fasst es Joachim Ritter zusammen. Freiheit ist dann aber keine bloße Idee, keine Theorie, sondern sie ist verwirklicht, praktisch gegeben, eben in der Französischen Revolution und mit ihr zur Aufgabe geworden. Hinter diesen Punkt können wir, so Hegel, nicht zurück.
Eben das stellt uns aber auch vor weitere Probleme. Denn die Gegenkräfte zur Freiheit, das Dogma, die Reduktion, sind immer noch da und versuchen, die Lücke zu schließen, die der Liberalismus eröffnet. Und dann gibt es den Liberalismus, der mit dieser Lücke, mit dieser Differenz experimentiert – und dabei auch manchmal über das Ziel hinausschießt. Und so handelt es sich um eine interessante Mischung aus der Wiederholung alter Fehler und dem Experimentieren mit dem Gedanken der Freiheit. Deswegen gelingt es nicht, den Liberalismus einfach zu etwas zu machen, das man rundheraus ablehnen kann.
Du hast gesagt, dass der Liberalismus sich zu etwas anderem entwickeln kann. Natürlich ist es gut, wenn er sich in eine progressivere Version seiner selbst entwickelt und in eine Version, die auch Hegel im Sinn hatte: Liberalismus, der wirklich eine Philosophie der Freiheit ist. Aber in deinem Buch beschreibst du Entwicklungen des Liberalismus – oder aus ihm heraus –, die in eine andere Richtung weisen, eben in Richtung Neoliberalismus und Neokonservativismus. Diese sind also auf eine Weise auch Formen des Liberalismus – und mich würde interessieren, wie du diese einordnen würdest, weil dein Buch darauf ja nur am Rande eingeht.
SAMUEL MOYN: Okay. Zunächst möchte ich einleitend etwas dazu sagen, was mein Buch zu einer Einheit macht. Deine Vorschläge erlauben mir, noch deutlicher herauszustellen, was mein Ziel ist: Es geht mir nicht einfach nur darum, den Liberalismus wiederzubeleben, sondern auch einem linken Hegelianismus in dieser Hinsicht methodologisch neues Leben einzuhauchen. Und ich denke einfach, dass das die Zukunft des Liberalismus sein kann. Es ist nicht wahrscheinlich, wenn man sich die ständigen Fehler ansieht, die Liberale machen. Aber es ist zumindest eine mögliche Zukunft für den Liberalismus und mein Buch ist der Versuch, dafür zu argumentieren, dass die Liberalen des 19. Jh. zumindest in der Theorie Hegels Projekt näher standen als die Liberalen des 20. Jh., ganz zu schweigen von den gegenwärtigen Liberalen.
Ich stimme zu, dass der Liberalismus des Kalten Krieges sich in der Folge nicht gebessert hat, mit Blick auf Neoliberalismus und Neokonservativismus, sondern eher verschlimmert. Was ich tun wollte, ist dafür zu argumentieren, dass der Liberalismus des Kalten Krieges sich von diesen anderen beiden unterscheidet, aber mit ihnen verwandt ist und eine Art Trittstein sein konnte auf dem Weg zu ihnen.
Ich führe das im Buch nicht aus, denn sogar im Fall von Gertrude Himmelfarb, die sich von einer »Cold War Liberal« in eine Neokonservative entwickelt, nenne ich nicht die Details dieser Entwicklung oder warum sie als repräsentativ gelten könnte. Aber ich vertrete schon die Ansicht, dass der Liberalismus des Kalten Krieges den Boden für seine beiden Nachfolger, den Neoliberalismus und den Neokonservativismus, bereitet. Ich finde auch, dass sie als liberale Bekenntnisse gesehen werden können, ebenso wie der Linkshegelianismus – und für den Augenblick haben sie den Kampf um die Definition des Liberalismus gewonnen.
Was ich damit sagen will, ist: wenn das wahr ist, dann teilweise auch wegen der Richtung, in die die »Cold War Liberals« den Liberalismus in den 1940ern mitgenommen haben. Die Prioritäten der »Cold War Liberals«, in ihrem Schreckgespenst des interventionistischen Staates und in ihrer Definition von Freiheit als Nichteinmischung, weisen eine viel größere Nähe zum Neoliberalismus auf als etwa die Theorien der frühen Liberalen im 19. Jh. zur damaligen Laissez-faire-Bewegung. Ich denke, dass »Cold War Liberals« wie Isaiah Berlin den Liberalen Argumente entzogen haben, die sich als hilfreich erwiesen hätten, als die Neoliberalen in den 1970ern die Diskurshoheit übernommen haben. Gerade weil die »Cold War Liberals« derart fixiert waren auf den totalitären Staat, haben sie nie daran gedacht, ihre sozialdemokratischen Überzeugungen gegen diese Übernahme zu verteidigen. Das müsste man natürlich im Detail ausführen.
DANIEL-PASCAL ZORN: Hast du vor, dies irgendwann zu tun?
SAMUEL MOYN: Nicht im Moment. Ich verstehe meine Bücher auch mehr als Gesprächsangebot. Ich habe nie versucht, eine abschließende Darstellung zu schreiben, am wenigsten zum Liberalismus des Kalten Krieges – das Buch ist ja die Zusammenfassung meiner Vorlesungen. Meine Hoffnung ist eher, dass das Buch etwas bewirkt, selbst wenn es überholt ist. Das ist es, wozu ich meine Leser einladen möchte: Ich hoffe, dass sie weiterfragen und mögliche und tatsächliche Verbindungen zwischen dem Liberalismus des Kalten Krieges und seinen Nachfolgern zu sehen beginnen. Ich denke, ich habe einige starke Punkte für diese Verbindungen in meinem Buch angeführt, um eine solche Auseinandersetzung zu rechtfertigen.
DANIEL-PASCAL ZORN: Würdest du also sagen, dass dein Buch für einige die Tür offenhält und für andere die Tür öffnet?
SAMUEL MOYN: Ich denke schon, ja. Ich hatte einige Besprechungen – wie Jessica White’s Besprechung in Radical Philosophy, die den Vorschlag machen, dass der Liberalismus des Kalten Krieges ganz einfach Neoliberalismus ist. Das finde ich falsch. Ich denke, dass es wichtig ist, den bestimmten Charakter dieser Erscheinungsform des Liberalismus zu respektieren, während man neue Diskussionen über ihre chronologischen und wesentlichen Verbindungen miteinander beginnt. Ich hoffe, dass das immer mehr der Fall sein wird. Die meisten, die sich für den Liberalismus des Kalten Krieges interessieren, wie Jan-Werner Müller, bestehen so sehr darauf, dass er nichts mit dem Neoliberalismus zu tun hat, dass ich den Eindruck habe, eine echte Herausforderung formuliert zu haben.
DANIEL-PASCAL ZORN: Deswegen habe ich das Dilemma und die Grundstruktur des Liberalismus zur Diskussion gestellt: Weil man dann beginnt, Liberalismus als oszillierendes, komplexes Phänomen zu begreifen, nicht als eine einmalig feststehende Ideologie, als etwas, das um den Begriff der Freiheit herum konstruiert ist. Und damit meine ich kein reduktionistisches Verständnis, sondern die Virtualität, die konkreten Möglichkeiten, die der Begriff der Freiheit zu rechtfertigen erlaubt. Die Funktionen dieser Möglichkeiten geben unterschiedliche Richtungen vor: Freiheit ist etwas, das man immer schon voraussetzt. Freiheit bedeutet, frei von etwas zu sein usw.
Der Gebrauch dieser Möglichkeiten bestimmt mit, welche Form des Liberalismus man vertritt. Wenn man den Begriff als eindeutig ansieht, dann wird auch die Form des Liberalismus eindeutig – bis zu dem Extrem, alle anderen Liberalismen auszuschließen, die nicht mit ihm übereinstimmen. Man ist mit diesem Begriff immer schon in einer polemischen Situation, in der man eindeutige Freiheitsbegriffe einsetzt, um das Problem dieser polemischen Situation zu lösen. Das wäre eine mögliche pragmatische Beschreibung wie Liberalismus in seinen verschiedenen Formen funktioniert.
Nicht jeder Liberale ist zu jeder Zeit derselbe. Manchmal sind Liberale so liberal, so frei in ihrem Verständnis von Liberalismus, dass der eine nicht dasselbe denkt wie der andere. Und manchmal gibt es Liberalismen, die alles, was nicht mit einem bestimmten Freiheitsbegriff übereinstimmt, aus sich ausschließen und verbannen – wie der Liberalismus des Kalten Krieges die Marxisten und die vielen Formen des Linksliberalismus. Eine paranoide Situation, ein Exzess der Negation: von Geschichte, von Alternativen, von Perfektibilität, von Fortschritt. Ein grimmiger und pessimistischer Liberalismus, immer umzingelt von Feinden. Aber im Neoliberalismus findet man wieder positive Entwürfe, ganze Gesellschaftstheorien und Anthropologien, die Erschließung neuer Konsumentengruppen mithilfe des Emanzipationsgedankens…
SAMUEL MOYN: Ja, das ist unglaublich ambitioniert.
DANIEL-PASCAL ZORN: Wenn man Hayek liest, bekommt man den Eindruck, dass hier einer die Gesellschaft von Grund auf neu denken will, jede soziale Relation neu bestimmen will – was selbst eine Art revolutionäres Programm ist, im Sinne einer positiven Entwicklung.
SAMUEL MOYN: Allerdings.
DANIEL-PASCAL ZORN: Mir kommt es so vor, dass viele Besprechungen deines Buches eher mit den eigenen politischen Überzeugungen ringen. Meines Erachtens hat das auch damit zu tun, dass es bis jetzt keine wirklich gut recherchierte Geschichte des Liberalismus gibt. Ist das nicht längst überfällig?
SAMUEL MOYN: Das sehe ich genauso. Einerseits befinden wir uns im goldenen Zeitalter der Historiographie des Liberalismus – allerdings ist die Vergleichsgröße, dass wir schlicht keine solche Geschichte haben. Was wir haben, sind ein paar frühe Versuche, aber keine vollentwickelte Darstellung. Das, was am nächsten herankommt – und das auch nur für den anglo-amerikanischen Bereich – ist Edmund Fawcetts Liberalism: The Life of an Idea (2014), der auch ein Buch über den Konservativismus geschrieben hat. Aber die Tatsache, dass es ein Journalist geschrieben hat, zeigt dem Philosophen oder Politischen Theoretiker, dass eine kritische Gesamtdarstellung noch aussteht.
V. Eine Krise des Liberalismus
DANIEL-PASCAL ZORN: Das ist auch im Einklang mit deiner Darstellung, dass der Liberalismus des Kalten Krieges sich von der Geschichte losgesagt hat. Wenn man sich von der Geschichte als kritischem Maßstab verabschiedet, hat man auch keine Möglichkeit mehr, die eigene Vergangenheit zu verstehen. Also muss man sie herstellen. Man projiziert gegenwärtige Vorstellungen auf die Vergangenheit und schafft sich so eine künstliche Geschichte. Locke wird zu einem Liberalen gemacht, zu einem Zeitpunkt, als der Liberalismus sich gegen die Autoritarismen des 20. Jahrhunderts auf die Demokratie beruft und die englische Freihandelsbewegung der Whigs als liberal eingemeindet werden kann. Was vorher als überwunden galt, dient nun zur Legitimation.
Diese Konstruktionen sind kontingent, sie wurzeln in ihrer eigenen historischen Zeit, ebenso wie die Autoritäten, die sie für sich vereinnahmen, Autoritäten wie Locke, Hobbes oder Kant. Sie treten als diese Konstruktionen an die Stelle der tatsächlichen Geschichte. Das ist für den Laien schwer zu durchschauen – und noch schwerer zu dekonstruieren.
Würdest du also sagen, dass wir uns insgesamt in einer Krise des Liberalismus mit sich selbst befinden? Panajotis Kondylis beschreibt in Konservativismus den politischen Streit der Linken, der Rechten und der Liberalen als einen Streit innerhalb des Liberalismus: Linke sind progressive Liberale, Rechte sind Altliberale, die ihre Interessen mit autoritären Vorstellungen durchsetzen wollen. Oder würdest du sagen, dass die »Cold War Liberals« sich tatsächlich gegen andere politische Richtungen abgrenzen?
SAMUEL MOYN: Das ist eine sehr interessante Frage, bei der ich noch zu keiner abschließenden Antwort gekommen bin. Ich möchte trotzdem versuchen, zumindest eine grobe Einschätzung zu geben. Ich habe viel Sympathie für die These, dass die Leute Krisen überbetonen und auch für das aktuell sehr geläufige Argument, die Krise sei innerhalb des Liberalismus zu verorten. Dafür spricht vieles. Und das gilt auch für Leute wie Patrick Deneen, vor allem für sein erstes Buch Why Liberalism Failed. Trotz des Titels scheint es ein viel liberaleres Buch zu sein als seine Leser realisiert haben oder sogar sein Autor realisiert hat.
Ich finde, an der These einer innerliberalen Krise ist viel Wahres und ich würde sagen, dass ich sehr wenige antiliberale Linke kenne, die nicht an irgendeiner Stelle davon überzeugt werden können, dass sie eigentlich versuchen, den Liberalismus vor sich selbst zu retten – wie ich, der offen sagt, was er zu tun versucht. Es gibt auch nicht mehr viele Linke, die darauf bestehen, dass der Liberalismus in seiner Gesamtheit abgeschafft werden muss. Vor diesem Hintergrund muss man aber auch die Erfahrung berücksichtigen, die wir in den 90ern und 00er Jahren gemacht haben: Es gab eine so restriktive und in sich harmonische Konzeption von Liberalismus, dass der Versuch, die liberale Debatte links und rechts zu öffnen äußerst schwer war, fast eine existenzielle Herausforderung für viele Liberale.
Eine Besprechung von Stephen Holmes in der London Review of Books beginnt mit der Erklärung, ich sei jemand, der den Liberalismus negiert. Der Autor reflektiert gar nicht darüber, was es bedeutet, mich als inakzeptabel hinzustellen, vor allem wenn ich explizit behaupte, innerhalb des Liberalismus zu argumentieren. Daher denke ich, dass es nützlich ist, eine Rhetorik der »Krise des Liberalismus« aufrechtzuerhalten. Sie kann genau solche existenziellen Situationen verdeutlichen, in denen eine bestimmte Auffassung von Liberalismus die Deutungshoheit beansprucht, den Liberalismus zu ihrem Eigentum erklärt, und anderen verbietet, Ansprüche darauf zu erheben. Wenn das stimmt, dann muss man wirklich zu einer großen Abstimmung über den Liberalismus ermutigen, auf eine Weise deutlicher als das Konservative wie etwa Deneen fordern.
VI. Mögliche Auswirkungen der US-Wahl auf den Liberalismus
DANIEL-PASCAL ZORN: Abschließend würde mich noch interessieren, was du zur US-Wahl sagst. Wie, denkst du, wird das Wahlergebnis die Zukunft des Liberalismus mitbestimmen?
SAMUEL MOYN: Als Donald Trump das erste Mal gewählt wurde, waren die Auswirkungen sehr groß, weil es so schockierend war. Es war auch der Auslöser für die anhaltende Diskussion zwischen Liberalen und den sogenannten Post-Liberalen. Allerdings denke ich nicht, dass Trumps Wiederwahl die Bedingungen dieser Diskussion maßgeblich verändern wird. Wenn Trump gewinnt, wird es in den Staaten um wenige Prozentpunkte gehen. Ich glaube nicht, dass er die Demokratie versenken wird. Er wird einige schlimme Dinge tun, aber ich glaube nicht, dass er so weit gehen wird.
Sollte Harris gewählt werden, gilt aber dasselbe: Wenn sie gewinnt, wird es auch bei ihr um wenige Prozentpunkte gehen, sodass die Demokraten keinen großen Sieg für sich reklamieren können – höchstens über Donald Trump. Aber ich denke nicht, dass die Demokraten eine Formel gefunden haben, um den Liberalismus zu retten. Daher hoffe ich, dass meine Argumente überzeugend bleiben, auch und gerade, wenn die Demokraten gewinnen sollten, denn sie müssen sich dann immer noch der anderen Hälfte des Landes stellen, die bezweifelt, dass sie ein ansprechendes Programm haben. Sollte Harris gewinnen, steht ihr Sieg auf keinen Fall auf sicheren Füßen. Wonach man tatsächlich streben sollte ist eine große Mehrheit. Das ist in dieser Wahl aber nicht wahrscheinlich, weil keine Seite prozentual eine sehr große Mehrheit auf sich vereinigen kann.
DANIEL-PASCAL ZORN: Es ist also eine Lose-Lose-Situation.
SAMUEL MOYN: Das – oder eine Stasis, ein Stillstand. Es verschiebt das Problem nur. Wir haben im Amerikanischen den Ausdruck »remaining in a rut«: Man steckt fest, hat sich festgefahren. Man gibt Gas, aber man bewegt sich nicht. Und ich denke, das ist die aktuelle Situation der US-Amerikaner.
DANIEL-PASCAL ZORN: Leute wie Peter Thiel oder Elon Musk werden sehr viel mehr Einfluss haben, wenn Trump gewinnt…
SAMUEL MOYN: Sicherlich. Ich leugne nicht, dass es Unterschiede geben wird. Sie werden nur nicht groß genug sein – in der einen oder anderen Richtung –, um die USA aus ihrer aktuellen Sackgasse herauszuhelfen.
DANIEL-PASCAL ZORN: Ich denke auch nicht, dass Thiel oder Musk daran ein besonders großes Interesse haben. Ihnen geht es ja gut damit so wie es ist.
SAMUEL MOYN: Ja, das sehe ich auch so. Beide sind Kandidaten der Stasis – was lustig ist, weil jeder von den beiden behauptet, der andere sei der Revolutionär.
DANIEL-PASCAL ZORN: Liberalismus ohne geschichtliche Raumvorstellung.
SAMUEL MOYN: Ja. Mein Lieblingskapitel ist dort, wo ich nicht nur Isaiah Berlin, sondern auch Tony Judt zitiere: »Die Geschichte ist jetzt bedeutungslos.« Nun, der Liberalismus des Kalten Krieges hat sie bedeutungslos gemacht. Die Liberalen haben diese geschichtslose Situation erzeugt – und wir müssen irgendwie den Weg zurück zur Geschichte finden.
DANIEL-PASCAL ZORN: Ein weiteres Dilemma: Auf der einen Seite hat man eine Gegenwart ohne eine Zukunft, die nicht eine Fortsetzung der Gegenwart wäre. Und auf der anderen Seite die alte bourgeoise Geschichtsphilosophie der Befreiung weniger im Namen der Befreiung aller. Das sind ziemlich unangenehme Aussichten.
SAMUEL MOYN: Allerdings.
DANIEL-PASCAL ZORN: Sam, ich danke dir für dieses Gespräch.