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Aus der Notlage in die Normallage und wieder zurück?

In ihrem Beitrag legen Max Krahé und Philippa Sigl-Glöckner dar, warum das Urteil vom Bundesverfassungsgericht zum Nachtragshaushalt in Richtung wiederholter Notlagen weist, und erklären, warum gleichzeitig der Weg aus der Notlage zurück in die Normallage so schwierig ist.

Am Mittwoch, den 15. November 2023, um 10 Uhr verkündete das Bundesverfassungsgericht, dass das zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 mit dem Grundgesetz unvereinbar und deshalb nichtig sei. Die 60 Milliarden Euro, die die Bundesregierung damals in den Klima- und Transformationsfonds (KTF) übertragen hatte, dürften somit nicht ausgegeben werden. 

Das Urteil hat die Bundesregierung zu einem ungünstigen Zeitpunkt getroffen: Für den 16.11.23 war die Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses anberaumt, die finale Sitzung für die Klärung des Bundeshaushalts für das Jahr 2024. Nun hatte das Bundesverfassungsgericht einen Tag vorher einen großen Krater in diesem Haushalt hinterlassen. Schließlich sollten zentrale Koalitionsvorhaben, von Gebäudesanierung über Intel bis zu Bahninvestitionen, aus dem besagten KTF finanziert werden. 

Doch wie genau hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt und worum ging es in dem Verfahren? Um diese beiden Fragen zu beantworten, müssen wir einen Blick zurück in den Herbst 2021 werfen. Nach den Bundestagswahlen standen die drei Ampel-Parteien vor der Herausforderung, ihre Prioritäten unter einen Hut zu bringen. Die Grünen bestanden in den Koalitionsverhandlungen auf angemessene Ausgaben für den Klimaschutz; die Sozialdemokraten wiederum darauf, Klimaschutz nicht gegen Soziales auszuspielen; die Liberalen schlossen ihrerseits Steuererhöhungen aus. Eine größere Reform der Schuldenbremse stand damals nicht im Raum.

Doch wie sollten zusätzliche Ausgaben ohne Steuererhöhungen finanziert werden? Die Quadratur dieses Kreises wurde mittels ungenutzter Kredite aus der Coronazeit versucht. Die Bundesregierung hatte in der Pandemie eine Notlage ausgerufen und damit das Kreditlimit der Schuldenbremse suspendiert. Von den Notlagekrediten waren zum Ende des Jahres 2021, also zum Zeitpunkt der Koalitionsverhandlungen, noch eine Menge übrig. Man entschied sich, von diesen 60 Milliarden in den KTF – damals noch Energie- und Klimafonds (EKF) – zu überführen. Zudem änderte die Bundesregierung ihre Buchhaltungsregeln und beschloss, dass ein Kredit als aufgenommen galt, wenn man ihn in den KTF verschoben hatte. Damit konnten Ausgaben in künftigen Jahren, in denen die Suspension der Schuldenbremse wieder aufgehoben war, trotzdem über Staatsanleihen finanziert werden.

Max Krahé

Max Krahé ist politischer Theoretiker und Ökonom. Er forscht zu Ideengeschichte, Arbeitsteilung und der Beziehung zwischen Demokratie und Kapitalismus. Max ist Postdoc am Institut für Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen sowie Mitgründer und Forschungsdirektor des Dezernats Zukunft, einem deutschen Think Tank für Makrofinanzen.

Gegen dieses Vorgehen legte die Bundestagsfraktion der Union Klage ein und das Gericht gab den Klägern in drei Punkten recht: Die Bundesregierung hatte nicht präzise genug erklärt, wieso die Verwendung der Kredite der Notlagenbekämpfung diente. Die Änderung der Buchungsregeln, die einem erlaubt, Kredite als ausgegeben zu verbuchen, wenn man sie ins Sparschwein steckt, war nicht zulässig. Und die Bundesregierung hätte den zweiten Nachtragshaushalt 2021 nicht im Jahr 2022 verabschieden dürfen.

Auswirkungen des Urteils

Die Auswirkungen dieses Urteils sind komplex. Für den Moment möchten wir drei konkrete Konsequenzen angeben. Es fehlen zunächst einmal 60 Milliarden im KTF. Diese waren allerdings nicht alle zur Ausgabe im Jahr 2024 veranschlagt. Sie sollten über einen Zeitraum von 2024 bis circa 2027 gestreckt werden. Für 2024 schätzen wir, dass es eine Lücke von circa 10 bis 20 Milliarden Euro gibt, die man nun schließen muss. 

Zweitens betrifft das Urteil eine weitere Spardose der Bundesregierung: den Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF). Dieser war zwar nicht direkter Gegenstand des Verfahrens. Seine jetzige Finanzierungsstruktur ist im Lichte des Urteils aber wahrscheinlich ebenfalls unzulässig, wie Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck bereits am Montag erklärte. Der WSF hat 2023 die Strom- und Gaspreisbremse finanziert und hätte nächstes Jahr neben der Stabilisierung der Netzentgelte (in Höhe von 5,5 Milliarden Euro) gut 6 Milliarden Euro für die Verlängerung der Strom- und Gaspreisbremsen bis in den Frühling 2024 sowie knapp 3 Milliarden Euro für Härtefallregelungen 1 Davon 2 Milliarden für Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen; siehe S. 109, Einzelplan 60 im Haushaltsentwurf 2024.  finanzieren sollen. Diese stehen jetzt ebenfalls in Frage.

Darüber hinaus hat das Urteil Implikationen für die Länderhaushalte. Zum einen haben einige Länder die gleichen Buchungsregeln wie die Bundesregierung angewandt. Zum anderen hat sich das Gericht im Urteil kritisch zu allgemeinen Klimanotlagen geäußert (siehe zum Beispiel Randnummer 108 & 109 im Urteil). Manche Länder haben Sondervermögen für die Transformation aufgelegt. Nun ist die Frage, ob deren Begründungen spezifisch genug sind, um dem kritischen Blick von Gerichten standzuhalten. 

Über diese drei konkreten Konsequenzen hinaus hat das Urteil eine vielleicht noch größere Bedeutung: Zugespitzt konnten KTF, WSF und die Sondervermögen der Länder als der deutsche Versuch verstanden werden, trotz der hiesigen verfassungsrechtlichen Hürden so etwas wie den US-amerikanischen Inflation Reduction Act zu bauen: ein überjähriges Vehikel, dass die Dekarbonisierung  und industrielle Umstrukturierung der Wirtschaft langfristig unterstützt.

Dieser Versuch droht nun zu scheitern: von der Förderung für Wasserstoffnetze — auch im Kontext der sogenannten Important Projects of Common European Interest —, über Gelder für den Ausbau von Elektromobilität und Ladeinfrastruktur, bis hin zu Klimaschutzverträgen, die zum Beispiel der Stahlindustrie helfen sollten, um ihre Anlagen umzurüsten, fehlt es nun an einer langfristigen Finanzierung dieser Maßnahmen. Für die deutsche Industrie ist dies eine Nervenprobe, wie viel Unsicherheit für sie bewältigbar ist. Denn selbst wenn der Haushalt 2024 geklärt ist, dürfte darüber hinaus erstmal unklar bleiben, wie es strukturell weitergeht.

Wie könnte es nach dem Urteil weitergehen?

Momentan wird allerlei diskutiert, wie man mit den kurz- bis langfristigen Auswirkungen des Urteils umgehen kann. Im Raum stehen unter anderem ein neues Klima-Sondervermögen im Grundgesetz; ein höherer CO2-Preis anstelle von Subventionen (ein höherer CO2-Preis ist grundsätzlich sinnvoll, aber es bleibt unklar, ob er eine Antwort auf die Herausforderungen des Urteils darstellen würde); 2 Der CO2-Preis für Industrie und Energie bildet sich im Rahmen des Europäischen Emissionshandels (ETS). Direkte Kontrolle hat die Bundesregierung aber nur über die CO2-Bepreisung für Gebäude und Verkehr. Damit fehlt einerseits der Hebel, um insbesondere die Dekarbonisierung der Industrie voranzutreiben, um die es im KTF vor allem geht. Andererseits wäre im Gebäude- und Verkehrsbereich ein besonders hoher CO2-Preis notwendig, um die benötigte Lenkungswirkung zu erzielen. Dieser Preis träfe aber auch die Verbraucher und Verbraucherinnen, die sich die notwendigen Maßnahmen (zum Beispiel den Heizungstausch oder das neue E-Auto) nicht leisten können, und die gleichzeitig aufgrund der angespannten Haushaltslage mit weniger öffentlicher Unterstützung zu rechnen hätten. Mehr dazu in diesem Thread von Felix Heilmann. Ausgabenkürzungen bei Sozialleistungen oder SubventionenSteuererhöhungen, beziehungsweise sonstige Mehreinnahmen; und natürlich Reformen der Schuldenbremse, im Grundgesetz oder einfachgesetzlich.

Liest man das Urteil genau, zeigt aber auch das Bundesverfassungsgericht einen klaren Ausweg auf. So könne die Notlage auch wiederholt beschlossen werden, insofern Krisen länger andauerten. Deswegen hätte man in den Jahren nach Corona auch nicht auf die Kreditermächtigungen aus 2021 zurückgreifen müssen (Randnummer 212 im Urteil). Dazu müsse sich die Notlagenverschuldung auch nicht auf die Beseitigung der „unmittelbaren Folgen“ beschränken; eine „randscharfe Abgrenzung zwischen unmittelbaren und mittelbaren Krisenfolgen dürfte überdies praktisch nicht durchführbar sein“, so das Gericht (Rn 136). Als Beispiele für Notlagen, die auch über Jahre andauern können, werden die deutsche Einheit oder die weltweite Wirtschaftskrise in Folge der Finanz- und Bankenkrise genannt (Rn 136). 

Philippa Sigl-Glöckner

Philippa Sigl-Glöckner ist Ökonomin und Gründerin des Think Tanks Dezernat Zukunft, der sich auf Geld-, Finanz-, und Wirtschaftspolitik fokussiert. Zuvor war sie u. a. im Bundesfinanzministerium, als Beraterin des liberianischen Finanzministers und bei der Weltbank tätig. Ihr aktueller Arbeitsschwerpunkt liegt auf der deutschen Fiskalpolitik, den europäische Fiskalregeln und der Finanzierung der Dekarbonisierung.

Damit wird der Zeitraum für mögliche Anwendungen  der Notlage recht breit gefasst: Wie Blanchard und Summers zeigen, können kurzfristige Wirtschaftskrisen über 15 Jahre lang zu höherer Arbeitslosigkeit und anderen sogenannten Hystereseeffekten führen. Auch besitzt der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Maßnahmen und der Höhe der Kredite Einschätzungsspielraum (Rn 137). Im Gegensatz zur Europäischen Zentralbank, die das Bundesverfassungsgericht dazu verdonnert hat, die Verhältnismäßigkeit (Angemessenheit) ihrer Staatsanleihekäufe zu prüfen, müsse der deutsche Gesetzgeber das im Falle der Notlage nicht (Rn 144). Er müsse auch nicht vorher andere Mittel und Wege ausschöpfen, um eine Kreditaufnahme zu vermeiden, zum Beispiel Einsparungen prüfen oder Rücklagen auflösen (Rn 146). Wie genau er seine kreditfinanzierte Krisenabwehrmaßnahmen ausgestaltet, bleibt ihm überlassen.

Das Gericht betont also ausdrücklich die Einschätzungs- und Beurteilungsspielräume in Bezug auf jährlich neu deklarierte Notlagen. Eine Carte Blanche stellt das Gericht aber nicht aus: Ob ein Ereignis vorliege, das eine Notlage rechtfertige, sieht es als „vollumfänglich verfassungsrechtlich überprüfbar an“ (Rn 148). Nicht jede wirtschaftliche Krisensituation sei dabei gleich eine Notlage, manches könne man auch Konjunkturschwankungen zuschlagen (Rn 153). Man darf diesbezüglich gespannt bleiben, wie das Gericht diese Unterscheidung vollumfänglich verfassungsrechtlich überprüfbar machen möchte.

Auch bekommt die Notlage ein gleitendes Ablaufdatum um den Hals gehängt. Je länger sie andauert und je mehr Kredite man aufgenommen hat, desto besser muss der Gesetzgeber sich erklären (Rn 151). Dazu muss zwar die finanzielle Beeinträchtigung des Staats „erheblich“ sein. Ab wann es so weit ist, muss jedoch der Gesetzgeber einschätzen (Rn 122). Wie immer zählt dabei, dass die Ausführungen des Gesetzgebers auch nachvollziehbar sind, was im ökonomisch-juristischen Zwitterland alles und nichts bedeuten kann. Die Notlage bietet also womöglich mehr Spielraum als bislang angenommen — solange sie jährlich ausgerufen und schlüssig begründet wird.

Von der Notlage zurück zur Normallage?

Wiederholte Notlagen zeigen also einen Ausweg aus der heute schwierigen Situation auf. Doch wie sieht der Weg aus der Notlage zurück in die Normallage aus? Dieser ist heute besonders steinig. Die aktuelle Methodik zur Berechnung des Produktionspotenzials führt dazu, dass das Potenzial in Krisen dauerhaft sinkt, ganz gleich, ob es wirklich ausgeschöpft wurde oder nicht. Wir schrieben zu diesem Thema bereits 2021:  3 Schuster et al. 2021, S. 31

Die Schätzung des Produktionspotenzials auf Basis vergangener Trends führt dazu, dass das Potenzial nach der [die Notlage auslösende] Krise signifikant unter dem Vorkrisenniveau liegt — unabhängig davon, ob die ökonomischen Schäden wirklich langfristiger Natur sind oder nicht […] Eine Fiskalpolitik, die sofort nach der unmittelbaren Krise nicht mehr von der Ausnahmeregelung Gebrauch macht, ist also in besonderem Maße eingeschränkt; und das obwohl mit großer Wahrscheinlichkeit weiterhin erhöhte Bedarfe bestehen und eine übermäßig restriktive Fiskalpolitik Gefahr läuft die Erholung der Wirtschaft abzuwürgen.

Wie Abbildung 1 zeigt, ist das geschätzte Produktionspotenzial im Rahmen der letzten Jahre tatsächlich signifikant nach unten revidiert worden. Während die Herbstprojektion 2019 und auch die Jahresprojektion 2020 das Produktionspotenzial für 2024 bei ca. 3.430 Milliarden Euro sahen, schätzt die Herbstprojektion 2023 es auf nur noch 3.330 Milliarden Euro (beides preisbereinigt auf das Preisniveau von 2015). Die Schätzungen fallen also heute um circa 100 Milliarden Euro (2015) geringer aus. 4 In heutigen Euros: 127 Milliarden (Destatis 2023).

Abbildung 1

Das Kernproblem ist dabei die methodologische Annahme, dass die Produktionslücke im Mittelwert auf Null konvergieren muss. 5 Diese Annahme ist in diesem Twitter Thread besonders klar betont. Ist diese Annahme gesetzt, wird das Produktionspotenzial automatisch nach unten gezogen, wann immer das BIP über mehrere Jahre niedrig bleibt. Dies geschieht unabhängig davon, ob das tatsächliche, nicht wirklich messbare Produktionspotenzial gefallen ist. Das jedoch ist hochproblematisch, denn wenn physische Infrastruktur nicht im großen Stil weggebrochen ist oder sich die arbeitsfähige Bevölkerung reduziert hat, dann führt eine rechnerische Herabsetzung des Produktionspotenzials zu einem kleineren Investitionsspielraum der Regierung. Das ist eine Entscheidung, die wir uns selbst auferlegt haben. Sie ist kein Schicksal.

Besonders sichtbar wird diese Problematik jedoch, wenn man sie auf den Extremfall anwendet. Hätte man in den USA der 1930er Jahre das Produktionspotenzial als Projektion des historischen Trends definiert, wäre man nach der Weltwirtschaftskrise von einem dauerhaft niedrigeren Potenzial ausgegangen (in Abbildung 2 vereinfacht mit linearen Trends gezeigt). Die expansive Makropolitik, die den USA die Finanzierung des 2. Weltkriegs ermöglichte und deren positive langfristigen Wachstumsfolgen hinreichend bekannt sind, wäre damit ausgeschlossen gewesen – die Wirtschaft wäre ja schon als ausgelastet wahrgenommen gewesen.

Die richtige Berechnung der Konjunkturkomponente wird also im Nachgang von tiefen Krisen zu einer besonderen Herausforderung. Die Kernproblematik der jetzigen Methode — das Annehmen einer Trendkonvergenz, die es in der wirklichen Welt so nicht gibt — wiegt dort besonders schwer.

Abbildung 2

Oder von der Normallage zurück zur Notlage?

Damit schafft die momentane Auslegung der Konjunkturkomponente starke Anreize, so lange wie möglich Notlagen festzustellen. Würde die Notlage früher verlassen, würde das kleingerechnete Produktionspotenzial eine zu kleine Konjunkturkomponente verursachen und möglicherweise besonders harte Anpassungen erzwingen. Damit bestünde das Risiko, sich auf einen dauerhaft niedrigeren Wachstumspfad festzulegen.

Kombiniert mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, führt das fast zwangsläufig zu einer ausgedehnten Ausnutzung der Notlage. Das ist so, als würde man einen Patienten bis zum allerletzten Tag im Krankenhaus halten, weil er noch ein bisschen Betreuung braucht und eine ambulante Betreuung nicht finanzierbar ist. Der Weg in die Normallage wird erschwert, die Notlage droht zur Dauerlage zu werden.

Will man diese Anreizstruktur vermeiden, wäre es sinnvoll, die Methodik zur Berechnung der Konjunkturkomponente zu reformieren. Ziel der Reform wäre es, die Schätzung des Produktionspotenzials weniger prozyklisch zu gestalten und sie weniger anfällig dafür zu machen, durch temporäre Krisen dauerhaft nach unten revidiert zu werden. Mit dieser Kombination würde man unrealistische Konsolidierungserfordernisse, die die Wirtschaft abwürgen und auch sonst wenig sachdienlich sind, vermeiden.

Die große Lücke

Eines erlaubt aber weder die wiederholte Notlage noch die Konjunkturkomponente: wirklich vorausschauende Politik. Die Schuldenbremse gestattet keine mittelfristige strukturelle Neuverschuldung in signifikanter Größenordnung. Selbst, wenn die Zins-/Wachstumsdynamik dafür sorgen würde, dass auch bei signifikanter Neuverschuldung die Schuldenquote fällt, bleibt eine vorausschauende Neuverschuldung verwehrt. Um die Wirtschaft zu dekarbonisieren, unser Bildungssystem und die Bahn generalzuüberholen, über einen vollausgelasteten Arbeitsmarkt die Löhne und die Produktivität zu steigern sowie mit kluger Industriepolitik die Wertschöpfungscluster der Zukunft zu uns nach Deutschland zu holen – für diese Stärkung der Realwirtschaft, die erst die öffentlichen Finanzen langfristig tragfähig macht, trifft die Schuldenbremse keine Vorkehrungen. Man darf sich erst verschulden, wenn die Notlage oder mindestens der Wirtschaftsabschwung da ist.

Dezernat Zukunft

Das Dezernat Zukunft ist ein überparteiliches Institut mit dem Ziel, Geld-, Finanz- und Wirtschaftspolitik verständlich zu erklären, einzuordnen und neu zu denken. Bei dieser Arbeit ist es geleitet von seinen Kernwerten Demokratie, Menschenwürde und breit verteilter Wohlstand.

Wie Jakob von Weizsäcker in seiner Keynote auf der zweiten Konferenz des European Macro Policy Network in Wien festhielt: „This obsession with yearly payments is not terribly helpful for those regions trying to transform”. 6 Auf Deutsch: „Diese Besessenheit mit Jährlichkeit ist nicht besonders hilfreich für Regionen, die sich transformieren wollen.“ Gerade die Transformation der Industrie wird durch den Fokus des Gerichtsurteils auf Jährlichkeit und Jährigkeit erschwert: Gut ausgestaltete Transformationssubventionen werden stückweise an Firmen ausgezahlt, gekoppelt an vorab vereinbarte Meilensteine. Sowohl eine vollständige Auszahlung in Jahr Eins, welche öffentliche Gelder zu leicht hergäbe, als auch rechtlich unsichere Versprechen über zukünftige Zahlungen, welche Firmen nur schwerlich zu Veränderungen anreizen würden, sind schlechte Fiskalpolitik.

Das zu ändern, erfordert unserer Ansicht nach eine Grundgesetzreform. Im Grundgesetz steht heute eine zufällig entstandenestrukturelle Neuverschuldungsgrenze von 0,35 Prozent des BIPs. Nicht 0,0 Prozent. Auch nicht 0,5, 0,25, siebzehn oder drei Prozent. Wie lange halten wir uns noch an einer komplett arbiträren Zahl fest, auch wenn das zu offensichtlich nicht-nachhaltiger Politik führt? Das Urteil könnte ein Weckruf sein.