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Krise ohne Ende

Gibt es überhaupt eine Lösung für die gegenwärtige Krise des demokratischen Kapitalismus? Der politische Theoretiker Benjamin Studebaker begründet eindrucksvoll, wieso es sich um ein chronisches Problem handeln könnte: der Spielraum für politisches Handeln ist zu klein, um realistische Alternativen hervorzubringen.

Pessimismus ist keine Charaktereigenschaft, sondern ein Erkenntnisprinzip. Wer annimmt, dass die Dinge wahrscheinlich nicht ihren geregelten, guten Lauf nehmen werden, schult seine Aufmerksamkeit für die ungelösten Probleme, inneren Widersprüche und pathologischen Prämissen der Fortentwicklung seines Beobachtungsobjekts. Benjamin Studebaker beherrscht diese Kunst des erkenntnisleitenden Pessimismus meisterhaft. Auf knapp zweihundert Seiten versucht der junge amerikanische Politische Theoretiker zu begründen, dass sich das, was man »Crisis of liberal Democracy« nennt, höchstwahrscheinlich als eine »Crisis without end« entpuppen wird.

Studebakers Studie zeichnet sich weder dadurch aus, den erfahrungswissenschaftlichen Gehalt der florierenden Gegenwartskrisenliteratur zu erweitern, noch dadurch, dem besorgten Publikum eine weitere Großtheorie der »heutigen Gesellschaft« zu überreichen, die Beruhigung verspricht, indem sie Krisenerklärung und Krisenlösung aus einem Gusse präsentiert. Anders als viele andere interessiert sich Studebaker beinahe ausschließlich für die praktischen Bedingungen politischen Handelns. Das Thema von »The Chronic Crisis of American Democracy« ist folglich die so einfache wie einleuchtende Frage, ob unter den gegebenen Bedingungen politischen Handelns überhaupt Anlass zur Hoffnung besteht, dass die sogenannten »liberalen Demokratien« mit ihren eigenen Legitimationskrisen fertig werden.

Die Übermacht des Weltmarkts

Dreh- und Angelpunkt der Analyse (dieses Wort ist hier ausnahmsweise mehr als eine Metapher) ist die historische Tatsache, dass seit der Abwicklung des Bretton-Woods-Systems politisches Regieren grundsätzlich unter der Prämisse globaler Kapital- und Warenfreiheit stattfinden muss. Import- und Exportkonkurrenz, Konkurrenz um Investitionsentscheidungen und um die Anwesenheit juristischer und natürlicher Personen mit hohem Einkommen und Vermögen, das besteuert werden kann, ist für Studebaker der Rahmen, innerhalb dessen politische Entscheidungen seit einigen Jahrzehnten getroffen werden müssen. Dies muss nicht immer heißen, dass es einen Wettlauf gibt, welche Nation ihren Sozialstaat und ihre Steuerlast am meisten senken kann. Doch der Druck der internationalen Kapitalmärkte reicht aus, um substantielle Entscheidungen (gravierende Erhöhungen progressiver, direkter Steuern, Vermögens- und Unternehmenssteuern, Lohnentwicklung oberhalb des Produktivitätsfortschritts, einen generösen Sozialstaat) vom Tableau des politisch Möglichen zu nehmen. »The problem is not so much the jobs we lose, it’s the things the government does to keep the ones we have«.

Was bedeutet nun diese Macht des Weltmarkts für das politische System, vor allem für das politische System der Vereinigten Staaten? Auch wenn das Bruttoinlandsprodukt insgesamt wachse, werde derjenige Anteil, der zur Entlohnung großer Elemente der amerikanischen Bevölkerung aufgewendet werden kann, stetig kleiner. Industriearbeiter ohne College-Abschluss mussten aufgrund von Firmenabwanderungen Jobverluste und eine unterhalb des Produktivitätsfortschritts verlaufende Reallohnentwicklung in Kauf nehmen. Der Machtverlust der Gewerkschaften habe sie außerdem eines wichtigen Organs beraubt, sich rational über ihre Malaise zu verständigen – und für populistische und verschwörungstheoretische Mobilisierungen anfälliger gemacht. 

Oliver Weber

Oliver arbeitet an der TU Darmstadt an einem Dissertationsprojekt zur Ideengeschichte des frühliberalen Eigentumsbegriffs – und den Aporien, die ihm die aufklärerische Geschichtsphilosophie aufgelastet hat. Er hat Politikwissenschaft und VWL studiert und veröffentlicht Essays und Artikel in diversen Feuilletons und Zeitschriften, wie der FAZ, der ZEIT, der SZ oder dem Merkur. 2019 hat er ein Buch über die demokratische Problematik politischer Talkshows bei Klett-Cotta veröffentlicht.

Die »Professionals«, wie Studebaker sie nennt und zu denen er selbst gehört, die einen College-Abschluss erworben haben und deswegen mehrere hunderttausend Dollar in Schulden stehen, sind, sobald sie das College verlassen, mit einer fallenden Bildungsrendite konfrontiert: fast die Hälfte der Graduierten arbeite inzwischen auf Positionen, für die ein High-School-Abschluss ausreichend gewesen wäre. Die Zinsen, die zur Tilgung ihrer Studienkredite fällig werden, übersteigen, so Studebaker, bei vielen bereits die höhere Entlohnung, die ein College-Job über die Biografie hinweg versprechen kann. Ihnen bleibe häufig nur das erworbene kulturelle Kapital, um sich abzugrenzen und die eigene Verschuldung zu rechtfertigen. Ein Umstand, der Koalitionen mit der »working class« erheblich erschwert. 

Doch noch viel schlimmer als diese relative Verschlechterung der sozialen Lage sind die politischen Umstände, unter denen sie adressiert werden muss. Weil nicht nur die fortgeschrittene Oligarchisierung des amerikanischen Regierungssystems, sondern insbesondere die – so Studebaker – beinahe unüberwindlichen Zwänge des Weltmarkts eine direkte und kräftige Adressierung der ökonomischen Malaise verunmöglichen, seien Demokraten wie Republikaner von einer tiefgreifenden Ohnmachtserfahrung geprägt: Sie hegen wachsenden Groll auf die Verhältnisse, in denen ihre Wählerschaft ihr Leben verbringen muss, können diesen aber nicht in adäquates politisches Handeln überführen. Das Ergebnis dieser unheilvollen Mixtur von Verärgerung und Ohnmacht ist eine Epidemie des Ressentiments – ein grassierender Unwille, der keine wirkungsvolle Gestalt und keinen rechten Adressaten zu finden vermag; sich stattdessen diffus artikuliert und allseits dazu neigt, sich jeder »false hope« hinzugeben, die mit einem halbwegs mobilisierenden politischen Programm aufwarten kann.

Die Demokratie in der Dauerkrise

Für die Linke innerhalb der Demokratischen Partei, für die Studebaker während des Sanders-Wahlkampfes selbst tätig war, rücken aus diesem Grund tiefgreifende ökonomische Reformen in den Hinter- und kulturelle Emanzipationsversprechen in den Vordergrund, je näher sie sich zur politischen Macht befindet. Bei den Republikanern sei das alte Rezept ‚Imperialismus plus Steuersenkungen‘ inzwischen nicht mehr mehrheitsfähig; um die Wählerschaft zu befriedigen, muss man – wie Trump – auf polemisch-verschwörungstheoretische Erzählungen über finstere progressive Eliten zurückgreifen, von denen man behaupten kann, dass die den amerikanischen Arbeiter zugrunde richten wollen. Das Ressentiment sucht sich einen Schuldigen, den es bestrafen kann – auch wenn diese Bestrafung den Grund des Ressentiments kein bisschen beseitigt, so Studebaker. Und im sogenannten Zentrum der politischen Parteien? Dort schmilzt der Raum für politische Kompromisse dahin – und weil man dort noch am ehesten von der Unausweichlichkeit der grundlegenden ökonomischen Systemgesetze beseelt ist, bleibt, um Mehrheiten zu erreichen, nur das Versprechen übrig, die Gefährdung durch die anderen beiden – die Linken wie Rechten – abzuwehren.

Diese Gemengelage, so Studebaker, stürzt die Vereinigten Staaten in eine »chronic legitimacy crisis«. Eine Legitimitätskrise, weil wachsende Teile der Bevölkerung ohne jede realistische Hoffnung auf das politische System blicken, ihre Lebensumstände substantiell zu verbessern. Um eine chronische Krise handelt es sich aber, weil es einer Alternative ermangelt, die hinreichend Folgebereitschaft erwarten dürfte. Substantielle Reformen sind unmöglich und weder Diktatur noch Bürgerkrieg scheinen besonders attraktiv. »Our elites know we don‘t really believe in our system anymore, but we also don’t believe in any alternative to it«.

Eine unlösbare Krise?

Es ist diese Argumentationsfigur, die Studebakers Buch in besonderer Weise interessant macht – nicht die vielen zum Teil bestreitbaren empirischen Annahmen, die er trifft, um seine pessimistische Prognose zu plausibilisieren. Lesenswert ist sein Buch wegen des Versuchs, einem Sachverhalt auf die Schliche zu kommen, den der Historiker Christian Meier einmal brillant am Fall der römischen Republik durchexerziert hat; die Idee, dass politische Systeme in eine Situation geraten können, in denen sie Pathologien ausgesetzt sind, die sie nicht zu adressieren imstande sind, weil dieselben Pathologien störend auf das politische Geschehen einwirken, ohne eine politische Alternative zu begünstigen. Krisen dieser Art sind keine Umschlagspunkte, nach denen etwas neues Gestalt annimmt. Sie sind chronischer Natur, zäh und selbstverstärkend. In ihnen wird keine Lösung sinnfällig, die in politisches Handeln überführbar wäre – stattdessen übernehmen die gestörten Prozesse das Ruder.

Für Studebaker befinden sich die Vereinigten Staaten in einer solchen chronischen Krise, weil ihr ökonomisches System laufend Ressentiment produziert, das aufgrund globaler Kapitalfreiheit nur bedingt adressiert werden kann. Das politische System ist gezwungen, an den grassierenden Problemen der Massen vorbeizuregieren und greift, um dennoch populär zu bleiben, auf Ersatzlegitimationen zurück: Kulturelle Emanzipation ohne ökonomische auf der Linken, kulturelle Revitalisierung durch Elitenbestrafung auf der Rechten, Status-Quo-Verteidigung gegen die beiden anderen in der Mitte. 

Studebaker nennt diese Konstellation »the unsolvable problem«. Zu dieser Absolutheit des Urteils gelangt er nur, indem er eine – für eine Supermacht vom Status der USA eher unrealistische – Unbesiegbarkeit globaler Kapitalströme unterstellt und die Reformambitionen etwa der Biden-Administration dramatisch unterschätzt. Hier macht der methodologische Pessimismus blind für reale Veränderungsmöglichkeiten – so groß die politökonomischen Blockaden auch sein mögen. Doch allein wegen des Versuchs, die offensichtlich aporetische Situation, in die westliche »liberale Demokratien« geraten sind, einmal systematisch zu rekonstruieren, ohne einfache Auswege oder Schuldige zu benennen, verdient das Buch größere Aufmerksamkeit.