Bruno Leipold: „Marx’ zentraler politischer Gedanke war Freiheit.“

Nicht Gleichheit oder Gemeinschaft, sondern Freiheit war Karl Marx’ zentraler politischer Gedanke, wie der Ideenhistoriker und Autor Bruno Leipold im Gespräch erklärt. Otmar Tibes hat mit ihm über sein neues Buch »Citizen Marx« gesprochen.

Herr Leipold, Sie haben ein Buch über den »Bürger Marx« geschrieben. War Marx nicht ein Revolutionär? 

Doch, aber nicht nur. Bei der Vorbereitung für mein Buch bin ich auf einen Denker gestoßen, der in seinem Denken stark vom Republikanismus beeinflusst war. Marx‘ Kritik an der sozialen Herrschaft des Kapitals wird zum Beispiel von einer republikanische Freiheitsvorstellung geleitet. Das heißt, dass Marx der Überzeugung war, dass diese Herrschaft nur durch demokratische, republikanische Institutionen überwunden werden kann. Revolution und Republik müssen folglich zusammen gedacht werden.  

Das klingt nach einer Revision des bekannten Marxbildes. 

Teilweise schon. Im Gegensatz zum heutigen Gemeinplatz, dass Marx angeblich kein Interesse an politischen oder verfassungsrechtlichen Fragen besaß, können wir eindeutig erkennen, dass dies nicht der Fall war. Wenn man zum Beispiel seine Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie oder seine Texte zur Pariser Kommune liest, dann stellt man fest, dass er diese Fragen sehr ernst genommen hat. Mehr noch: Marx war in seinem politischen Denken bewusst, dass es bestimmte politische Institutionen braucht, um den Sozialismus überhaupt möglich zu machen.  

Welche republikanischen Institutionen wären das?

Hier ist Marx’ Auseinandersetzung mit der Pariser Kommune interessant. Sie führte ihm vor Augen, dass die Institutionen der bürgerlichen Republik von der Arbeiterklasse nicht einfach übernommen werden können. Etwa weil das Beamtentum sich der Kontrolle der Arbeiter entzog und sich den Zielen der Arbeiterklasse widersetzen konnte. Marx hat die republikanische Idee, dass sich die Menschen in einer Republik selbst regieren, deshalb um die Idee einer Selbstverwaltung erweitert. Er war davon überzeugt, dass die Arbeiterklasse eine umfassende demokratische Transformation von Regierung und Verwaltung bewerkstelligen musste, um den Sozialismus zu verwirklichen.   

Was implizierte die Transformation von Regierung und Verwaltung konkret?  

Ganz konkret implizierte sie, dass nicht nur die Einführung eines allgemeinen Wahlrechts erforderlich war, sondern auch die Vorgabe, dass Parlamentarier einer ständigen Kontrolle durch die Bevölkerung unterliegen sollten – etwa durch das Recht auf Abberufung, imperative Mandate und regelmäßige Wahlen. Doch auch die öffentliche Verwaltung sollte nicht länger von einer Elite aus unkontrollierbaren Bürokraten geführt werden. Stattdessen sollten öffentliche Ämter durch direkte Wahlen besetzt und durch eine gesetzliche Aufsicht überwacht werden. Wie Parlamentarier sollten auch Beamte abberufbar sein. 

Bruno Leipold

Bruno Leipold ist politischer Theoretiker und Ideenhistoriker und arbeitet schwerpunktmäßig zu Karl Marx, der republikanischen politischen Tradition und Theorien der Volksdemokratie. Im September 2025 wird er eine Assistant Professor Stelle in Politischer Theorie an der London School of Economics and Political Science antreten, wo er derzeit Fellow ist. Sein jüngstes Buch »Citizen Marx« erschien im Januar 2025 bei der Princeton University Press.

Marx schrieb das in seinen späten Jahren. Fand er also erst spät zum Republikanismus?  

Nein. Schon in frühen Jahren war Marx davon überzeugt, dass Gesetze demokratisch vom Volk erlassen werden müssen. In seinen Jahren als Journalist hat er sich für die Einführung des allgemeinen Wahlrechts sowie Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit eingesetzt. Es waren also republikanische Ideen, die sein politisches Denken geprägt haben. In Paris begann er sich dann intensiv mit der kapitalistischen Ökonomie und der Entfremdung des Menschen auseinanderzusetzen. Er kam zu dem Schluss, dass eine Emanzipation von der Herrschaft des Kapitals notwendig war, um freie Bürger zu schaffen.  

Die Auseinandersetzung mit der Ökonomie brachte Marx also dazu, sich dem Kommunismus zuzuwenden? 

Ja, das zeigen uns seine Schriften aus der Pariser Zeit. Marx entwickelte da neue Überzeugungen: die Notwendigkeit der Abschaffung bourgeoisen Privateigentums und die revolutionäre Rolle des Proletariats. Diese Faktoren spielten eine zentrale Rolle in seiner Hinwendung zum Kommunismus. Dennoch hielt er an der Bedeutung politischer Rechte fest. Das könnte erklären, warum er zunächst zögerte, sich öffentlich mit dem Kommunismus zu identifizieren – schließlich war dieser oft mit einer generellen Ablehnung der Politik verbunden. Viele frühe Sozialisten lehnten Politik, Demokratie und Mehrheitsentscheidungen ab. 

War Marx’ Hinwendung zum Kommunismus ein Bruch oder eine Weiterentwicklung seines republikanischen Denkens? 

Es war beides – ein komplexer Prozess aus Integration und Zurückweisung. Einerseits übertrug er seine republikanische Freiheitsvorstellung auf seine sozialkritische Analyse der kapitalistischen Gesellschaft. Diese Verbindung wird in wissenschaftlichen Arbeiten über seine philosophischen Schriften zur Entfremdung oft übersehen. Andererseits trat in dieser frühen radikalisierten Phase sein Bekenntnis zur Politik etwas in den Hintergrund. Das führte dazu, dass sein ehemaliger republikanischer Mitstreiter Arnold Ruge irritiert war – worauf ich in meinem Buch eingehe. 

Sie deuten an, dass Marx in dieser Phase selbst kurzzeitig von antipolitischen Ideen beeinflusst war? 

Seine antipolitische Phase war im Vergleich zu anderen Sozialisten – etwa Friedrich Engels – nur kurz und nicht so ausgeprägt. Aber sie wird in vielen Darstellungen seines intellektuellen Wandels unterschätzt. Dass selbst Marx und insbesondere Engels zeitweise von der antipolitischen Strömung innerhalb des frühen Sozialismus fasziniert waren, zeigt, welch starken Einfluss diese Denkrichtung damals hatte. 

Von den antipolitischen Strömungen des frühen Sozialismus haben sich Marx und Engels bald wieder abgegrenzt. Danach haben sie diese sogar bekämpft. Welche Strategie verfolgten sie dafür? 

Sie griffen auf Kritikpunkte zurück, die republikanische Denker bereits gegen antipolitische Sozialismen geäußert hatten, und entwickelten daraus eine Synthese: einen republikanischen Kommunismus, der sich für eine demokratische Republik und den Kampf um die politische Macht einsetzte. Die sozialistische Bewegung von der Notwendigkeit demokratischer Institutionen zu überzeugen, erwies sich jedoch als mühsamer Kraftakt. Dennoch waren Marx und Engels erfolgreich. Als 1848 das Kommunistische Manifest erschien, war ein Teil der darin formulierten Kritik bereits überholt – zentrale Figuren des »wahren Sozialismus« hatten sich inzwischen von ihrer antipolitischen Haltung entfernt und sich den Positionen von Marx und Engels angenähert. 

Um den Sozialismus zu erreichen, hielt Marx an der bürgerlichen Republik und ihren Institutionen fest. Hätte er 1848 nicht zu dem Schluss kommen können – oder sogar müssen –, dass die Emanzipation des Proletariats eine Transformation der bürgerlichen Republik erfordert?  

Tatsächlich gibt es eine große Unstimmigkeit in seiner Analyse von 1848: Damals erkannte er, dass die bürgerliche Republik strukturell so aufgebaut war, dass sie die Herrschaft der Bourgeoisie sicherte. Diese Einsicht hätte ihn zu der Schlussfolgerung bringen können, dass die Emanzipation des Proletariats von der Herrschaft der Bourgeoisie eine andere, radikal demokratische Verfassung erforderlich machte. Möglicherweise lag es aber an seinem Eifer, sich von den antipolitischen Sozialisten abzugrenzen, dass er große Teile der politischen Ordnung der bürgerlichen Republik als gegeben hinnahm und argumentierte, dass die Arbeiterklasse die Macht innerhalb dieser Strukturen übernehmen müsse.  

Genau diese Position revidierte Marx später? 

In der Auseinandersetzung mit der Pariser Kommune erkannte Marx, dass der Kampf um politische Macht und die Frage nach den Institutionen so grundlegend war, dass er sich wieder mit konstitutionellen Fragen beschäftigte. Die bürgerliche Republik musste in eine proletarische oder, wie man sagen könnte, soziale Republik verwandelt werden. Die ökonomische Voraussetzung für den Sozialismus war bzw. ist die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Die politische Voraussetzung aber sah Marx in einer Demokratisierung der Regierung und Verwaltung. Republikanische Institutionen standen also im Mittelpunkt einer sozialistischen Gesellschaft für Marx.  

Steht das nicht im Widerspruch zu der Annahme, dass Politik und politische Institutionen in einer sozialistischen bzw. kommunistischen Gesellschaft verschwinden würden? Bis heute wird Marx diese Annahme zugeschrieben.  

Das ist aber falsch. Liest man seine Texte genau, wird man feststellen, dass seine Position viel differenzierter war. Auf der einen Seite hat er sich mit Zukunftsvisionen bewusst zurückgehalten – eben weil er kein Utopist sein wollte. Auf der anderen Seite kann aus dem, was er zu einer sozialistischen Gesellschaft geschrieben hat, nicht geschlossen werden, dass er sich den Sozialismus als eine Gesellschaft ohne Politik oder politische Institutionen vorgestellt hat.  

Im späteren Staatssozialismus waren demokratische Institutionen nur Schein. Bis heute wird Marx angekreidet, er habe einer Diktatur das Wort geredet. Stimmt das? 

Das hat mit Marx nichts zu tun. Marx’ zentraler politischer Gedanke war Freiheit, nicht Gleichheit oder Gemeinschaft. Schon als junger Journalist hat er einmal scharfsinnig bemerkt: »Kein Mensch bekämpft die Freiheit; höchstens bekämpft er die Freiheit der anderen.« Dieses Bekenntnis zur Freiheit und die Ablehnung gegenüber denjenigen, die sie anderen verwehren wollen, hat sein politisches Denken sowie seinen Aktivismus lebenslang geprägt. Mit einem System, wie es später im Staatssozialismus existiert hat, ist das nicht vereinbar. Man darf nicht vergessen, dass die Schriften von Marx’ in der Sowjetunion teilweise zensiert blieben. 

Ausgerechnet ›Freiheit‹ hat das Werk von Marx also bestimmt?  

Richtig. Das zentrale Anliegen, das sich durch sein gesamtes Werk zieht, ist, dass Menschen unfrei sind, wenn sie beherrscht werden – also wenn sie willkürlicher Macht unterworfen sind, die sie nicht kontrollieren können. In einer Gesellschaft mit kapitalistischer Produktionsweise besitzt ein Großteil der Gesellschaft keine Kontrolle über die gesellschaftliche Produktion. Zudem sind die meisten Menschen der Willkür der Kapitalisten am Arbeitsplatz ausgesetzt. Woran Marx aber glaubte, war, dass alle Menschen das gleiche Recht auf Freiheit haben. Und die soziale Herrschaft des Kapitals verhindert dies, wenngleich die bürgerliche Republik auf wirksame Weise das Gegenteil davon inszeniert. Herrschaft erscheint wie Freiheit. 

Wir finden ähnliche politische Forderungen von Kommunisten und Republikanern im 19. Jahrhundert. Wo unterscheiden sich die beiden?   

Tatsächlich gab es einige Übereinstimmungen. Zum Beispiel plädierten Kommunisten und Republikaner gleichermaßen für die Nationalisierung von Land, kostenlose Bildung, progressive Besteuerung und die Abschaffung des Erbrechts. Für Republikaner waren diese Maßnahmen ein Mittel, um die Unabhängigkeit von selbstständigen Bauern und Handwerkern zu erhalten oder sogar wiederherzustellen. Sie hofften, dass der kapitalistische Entwicklungsprozess durch gezielte politische Aktionen noch aufgehalten werden könne.  

Marx und Engels hielten das für einen Irrglauben. Sie argumentierten, dass die Effizienz der großindustriellen kapitalistischen Produktion die von Republikanern romantisierte Welt unaufhaltsam beseitigen würde. Deshalb sahen sie die Aufgabe sozialistischer Revolutionäre nicht darin, eine im Niedergang begriffene Welt von kleinen, unabhängigen Produzenten künstlich zu bewahren, sondern darin, die Dynamik des Kapitals produktiv zu nutzen, indem sie die Produktionsmittel kollektivieren und so seine Errungenschaften in eine neue Gesellschaftsordnung überführten.  

Republikanismus und Kommunismus wichen also in ihrer Zielsetzung ab?  

Richtig. Marx und Engels haben stets betont, dass der Weg zu einer kommunistischen Gesellschaft die Abschaffung von bourgeoisen Privateigentum voraussetzt. Das Ziel ist also eine Vergesellschaftung privater Produktionsmittel, nicht die Abschaffung von Privateigentum überhaupt. Das wird gerne vertauscht und missverstanden. Die Republikaner im 19. Jahrhundert hingegen wollten nicht so weit gehen. Ihre Antwort auf den Kapitalismus lautete nicht, Privateigentum zu kollektivieren, sondern Privateigentum zu universalisieren – also auf die gesamte Bevölkerung auszuweiten. Das hieß zwar zunächst, das Privateigentum zu verteidigen, aber gleichzeitig klare Grenzen für dessen Anhäufung zu setzen. Sie lehnten das uneingeschränkte Recht auf Eigentum ab und machten deutlich, dass der Staat regulierend eingreifen müsse, um soziale Ungleichheit zu verhindern. Das republikanische Ziel war es also, ein Gleichgewicht zu schaffen: Der Staat sollte in strategischen Branchen eine aktive Rolle übernehmen, aber private Initiative und Wettbewerb nicht völlig ausschalten. 

Das klingt nach einem Mittelweg zwischen ungezügeltem Kapitalismus und umfassender Staatswirtschaft. 

Richtig. Ihr Ziel war es, Eigentum so zu regulieren, dass es keine politische Dominanz oder soziale Abhängigkeiten erzeugt. Sie wollten eine Gesellschaft, in der kein Bürger so viel Eigentum anhäufen konnte, dass er dadurch andere in Abhängigkeit zwang oder die politische Gleichheit gefährdete. Das unterscheidet sie sowohl von den reinen Verteidigern des Kapitalismus als auch von den Sozialisten, die das bourgeoise Privateigentum abschaffen wollten.  

Nun hat eine umfassende Historisierung von Marx Denken stattgefunden. Sein Verständnis von ›Kapitalismus entspricht nicht mehr der heutigen Version, heißt es. Wie sehen Sie das? 

Ich teile das nicht. Die Probleme des 19. Jahrhunderts liegen heute nicht so weit zurück, dass sie mit unserer Gegenwart nichts mehr zu tun haben. Bestimmte Aspekte der sozialen Herrschaft des Kapitals, die Marx kritisiert hat, mögen durch sozial und politisch erkämpfte Errungenschaften abgemildert worden sein. Aber die Herrschaft des Kapitals ist heute weder verschwunden noch sind ihre grundlegenden Strukturen überwunden.  

Man muss auf der anderen Seite berücksichtigen, dass sich die marx’sche Forderung der Selbstverwaltung auf eine wesentlich kleinere Beamtenschaft bezieht, als sie heutzutage existiert. Mit der Bürokratie, wie sie in modernen Staaten üblich ist, ist das kaum vergleichbar. Das stellt auch seine Überlegungen vor eine Herausforderung. Trotzdem erinnert uns Marx daran, wie wichtig es ist, dass die Verwaltung sich nicht der Kontrolle des Volkes entziehen darf. 

Vielen Dank für das Gespräch!