Bürgerhartz oder die verschlimmbesserte Reform

In ihrem neuen Buch klären die Autorinnen Helene Steinhaus und Claudia Cornelsen über die tatsächliche Funktionsweise des deutschen Sozialstaats auf und räumen mit einigen hartnäckigen Mythen auf. Offen bleibt, was ein menschenwürdiges Existenzminimum konkret umfasst und wie die Menschen aus dem Bürgergeld-System heraus kommen, schreibt David Stier.

»Wir lösen die Grundsicherung durch ein neues Bürgergeld ab, damit die Würde des Einzelnen geachtet und gesellschaftliche Teilhabe besser gefördert wird«. Dieses Versprechen machte die Ampelregierung in ihrem Koalitionsvertrag, 1 Sozialdemokratische Partei Deutschlands, BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN, Freie Demokratische Partei (2021): Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag. Berlin, S. 5. der von den Verhandlungsspitzen im November 2021 ausgehandelt wurde. Genau ein Jahr später blockierte der Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU), den vom Kabinett beschlossenen Gesetzesentwurf im Bundesrat und forderte Nachverhandlungen, um den »Weg in ein bedingungsloses Grundeinkommen«  2 Merz, Friedrich (2023): Friedrich Merz fordert „grundlegende Korrekturen“ beim Bürgergeld. Zeit Online, 18. November 2022. URL: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-11/friedrich-merz-buergergeld-ampel-koalition (Stand 06.01.2024).  zu verhindern. Nicht nur blieben Sanktionen beim Bürgergeld erhalten, auch die von der Ampel ursprünglich geplante Vertrauenszeit von 6 Monaten wurde wieder gestrichen.

Am 25. November 2022 wurde das neue Bürgergeldgesetz dann im Bundestag und Bundesrat beschlossen. Das Fazit der Ampelkoalition war eindeutig. Es sei eine »ganz große Sozialreform« 3 Scholz, Olaf nach Herrmann, Boris und Preuß, Roland (2023): Hartz-IV-Reform: Ampel und Union einigen sich beim Bürgergeld. Süddeutsche Zeitung, 22. November 2022. URL: https://www.sueddeutsche.de/politik/buergergeld-einigung-ampel-union-1.5700647 (Stand 06.01.2024).  beschlossen worden, so Kanzler Olaf Scholz. Laut Johannes Vogel (FDP) sei es durch den Kompromiss sogar gelungen »ein gutes Gesetz noch besser zu machen«. 4 Vogel, Johannes (2023): Weg für das Bürgergeld ist frei. Tagesschau. URL: https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/buergergeld-bundestag-bundesrat-101.html (Stand 06.01.2023). Die Autorinnen des Buches »Es braucht nicht viel. Wie wir unseren Sozialstaat demokratisch, fair & armutsfest machen« erteilen dieser Einschätzung eine klare Absage: »Nein, dies war keine historische Reform. Dies war eine niederträchtige Pseudoreform« (S. 226).

Ausgangspunkt des Buches von Helena Steinhaus und Claudia Cornelsen ist zum einen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 02. September 2011, das jedem Hartz-IV-Empfänger ein menschenwürdiges Existenzminimum zusprach, und zum anderen das Urteil des BVerfG vom 05. November 2019, in dem es entschied, dass die Sanktionen gegenüber Hartz-IV-Empfängern teilweise verfassungswidrig waren. Sanktionen dürfen nur in Fällen »außergewöhnlicher Härte« verhängt werden und müssen zudem geeignet und zumutbar sein. Die konkrete Ausgestaltung ließ das Verfassungsgericht offen. Klar ist für Steinhaus und Cornelsen aber, dass die aus den Urteilen resultierenden Anpassungen in Folge »dieser groß-größer-größten Sozialreform seit Menschengedenken« (S. 104) nach der Coronapandemie sowie der Energiepreisschocks nichts anderes als »Puderzucker über einer brutalen Wirklichkeit« (S. 27) waren.

David Stier

David Stier ist gelernter Bankkaufmann und arbeitet im Erziehungsbereich. Er hat Soziologie und Wirtschaftswissenschaften studiert. Er beschäftigt sich mit Sozialpolitik und auch mit der Fiskal- und Geldpolitik.

Bürgerhartz-Mythen & das Tabuthema Armut

Viel hat sich am alten Hartz-IV-System nämlich geändert. Auch beim Bürgergeld kann am Existenzminimum gekürzt werden, wie die jüngsten Beschlüsse zu Totalsanktionen zeigen. Aber auch die Regelsatzerhöhung auf 502 EUR ist keine echte Verbesserung gewesen, sondern ein nachträglicher Inflationsausgleich. Real haben Bürgergeldempfänger seit der Reform nicht mehr Geld als vorher. Umso weniger ist deshalb die mediale Aufregung um die Höhe des Bürgergelds nachzuvollziehen. Wochenlang hat die CDU das Bürgergeld öffentlich skandalisiert und sogar eine Fake-News-Kampagne gegen die Bürgergeldreform gestartet. Am Beispiel dieser Kampagne zeigen die Autorinnen in ihrem Buch, wie mit Hilfe einer manipulierten Einkommensrechnung bewiesen werden sollte, dass ein Arbeitnehmer, der 2.520 Euro brutto im Monat verdient, lediglich 1 Euro mehr erhält als ein Bürgergeldempfänger. Nachweislich eine Falschbehauptung, 5 Der tatsächliche Unterschied liegt bei 348 Euro (vgl. Sozi Simon [sozi_simon] (2023): Da sind so viele Fehler zum Bürgergeld in einer Grafik […]. [Tweet]. Twitter. URL: https://twitter.com/sozi_simon/status/1576656283351949312 (abgerufen am 20.01.2024). doch eine von langer Hand geplante und öffentlichkeitswirksame Kampagne, deren Desinformationen weiter im Netz kursieren und auf alte Narrative vom »faulen Hartzer« oder der »sozialen Hängematte« zurückgreifen. Dabei lohnt sich das Arbeiten, wie jüngst auch das ifo Institut bestätigt hat. Es gibt einen deutlichen Abstand zwischen Lohn und Bürgergeld, wenn auch darauf verwiesen wird, dass die Erhöhung des Bruttolohnes für niedrige und mittlere Einkommensschichten trotz existierenden Lohnabstands notwendig ist. 6 Blömer, Maximilian; Fischer, Lilly; Pannier, Manuel und Peichl, Andreas (2024): „Lohnt“ sich Arbeit noch? Lohnabstand und Arbeitsanreize im Jahr 2024. In: ifo Schnelldienst 2024, 77, Nr. 1. Ifo Institut, München, S. 35-38. URL: https://www.ifo.de/publikationen/2024/aufsatz-zeitschrift/lohnt-sich-arbeit-noch-lohnabstand-und-arbeitsanreize-2024 (abgerufen am 20.01.2024).  

Hiervon abgesehen ranken sich auch ein paar hartnäckige Mythen um das Bürgergeld, so z.B. die vollständige Übernahme der Miet- und Heizkosten, Zuschüsse für Haushaltsgeräte oder die Finanzierung der Erstausstattung einer Wohnung. Davon waren schon manche im alten Hartz-IV-System populär. In ihrem Buch widerlegen die Autorinnen diese Mythen nicht nur faktenbasiert, sie klären auch darüber auf, wie das Sanktionsregime in Kombination mit den Zuverdienstregelungen den Druck zur Annahme schlecht bezahlter Tätigkeiten erhöht. 7 Von einem Zuverdienst bis zur Minijob-Grenze von 520 Euro dürfen Bürgergeldempfänger neben 100 Euro lediglich 20 % einbehalten, von einem zweiten Minijob jedoch 30 %, wenn der Gesamtverdienst nicht 1.000 Euro übersteigt. So bleiben laut Beispielrechnung bei einem Verdienst von 1.000 Euro und einem Regelsatz 502 Euro am Ende des Monats 930 Euro auf dem Konto des Bürgergeldempfängers. Wie Hartz IV ist das Bürgergeld ein System, das den Niedriglohnsektor mit niedrigen Produktionskosten für Unternehmen ausbaut, den der Staat »dankenswerterweise ermöglicht, erzwingt und […] finanziert« (S. 77). In diesem Zuge beschreiben die Autorinnen auch, warum der Sozialstaat ein hoch komplexer Bürokratieapparat ist, der gleichzeitig dafür sorgt, dass entweder Leistungen nicht abgerufen oder nicht gewährt werden. Zentral ist dabei das Schamgefühl, das einerseits Druck zur Arbeitsaufnahme auf Hilfsbedürftige ausübt und zum anderen die Elendsleugnung durch die Gesellschaft möglich macht. Man erkennt Menschen in Armut nämlich meist nicht, man kennt sie höchstens. Dabei lebt jeder fünfte Mensch, dem man auf der Straße begegnet, statistisch gesehen in Armut. Doch politisch werden sie ignoriert und sie selbst wollen sich aufgrund der Scham, die sie in Folge des »Demütigungs-Automatismus« (S. 166), der Kern des Sozialsystem ist, empfinden, nicht zu erkennen geben. Armut – ein Tabuthema.

Der Verein Sanktionsfrei – #HappyHartz & Versicherung gegen Sanktionen

Als Hauptproblem des Sozialstaates machen die Autorinnen das Sanktionssystem aus, das aus ihrer Sicht »sexistisch, rassistisch, bildungs-, sozial- und altersdiskriminierend« ist (S. 203). Die Abschaffung der Sanktionen ist ihr Ziel und dafür gründete Steinhaus bereits 2015 den Verein »Sanktionsfrei«. Eine Crowd-Funding-Kampagne und einige Großspender erlaubten den Launch einer Online-Plattform, die es von Sanktionen Betroffenen ermöglicht, einen einfachen, unbürokratischen und rechtssicheren Widerspruch gegen die Sanktion einzulegen. Während Arbeitnehmer bei möglichen Sanktionen vor das Arbeitsgericht ziehen können, fehlen Bürgergeldempfängern die finanziellen Ressourcen für einen Anwalt oder das juristische Wissen für einen rechtssicheren Widerspruch. Vielmehr ist der Mitarbeiter des Jobcenters, der ein Versäumnis beanstandet, auch derjenige, der die Sanktion verhängt. Dies sei »staatlich organisierte Selbstjustiz« (S. 161). Aus einem Solidartopf werden die gestrichenen Leistungen zunächst nach- und bei erfolgreichem Widerspruch zurückgezahlt. Damit wird gewährleistet, dass niemand unter das Existenzminium rutscht. 

Ein Ziel des Vereins ist auch das Schaffen von Aufmerksamkeit für Menschen in Armut. Im Rahmen der #HappyHartz-Kampagne, die am 06. Dezember 2017 startete, sorgen Statements von Hartz-IV-Empfängern für Verwirrungen in den sozialen Medien. Eine junge Mutter berichtet: »Hartz IV schenkt mir Freiheit« (S. 107). Ein Tischler erzählt begeistert von seiner Umschulung: »Super, dass das mit Hartz so einfach geht, einfach so, ohne Stress!« (S. 107). In der Pressemitteilung der Kampagne heißt es, dass man besonders junge Menschen ansprechen wolle, »die sich der weltweit einzigartigen Privilegien des deutschen Sozialstaates oftmals nicht bewusst« seien (S. 108). Die Reaktionen reichten von Empörung über den »widerlichen Zynismus« bis zur Vermutung, dass Jan Böhmermann hinter der Kampagne stecken müsse. Aber niemand »hielt es auch nur den Hauch einer Sekunde für denkbar, dass unser heutiges Sozialsystem mit schönen Worten und positiven Bildern dargestellt werden könnte« (S. 113). Die Personen, die in der Kampagne zu Wort kamen, gibt es wirklich, doch ihre Erfahrungen sind nicht echt. Sie befinden sich vielmehr in einem permanenten Kampf durch den »Rechtsstaat-Dschungel« (S. 111), um das, was ihnen zusteht, zu bekommen. 

Auf der großen medialen Aufmerksamkeit der #HappyHartz-Kampagne aufbauend, startete das Projekt »HartzPlus«. Am 01. Februar 2019 wurden 250 Personen ein Jahr gegen Sanktionen abgesichert und das Projekt von der ersten Längs- und Querschnittstudie zur Wirksamkeit der Sanktionen im Hartz-IV-System begleitet. Das Experiment zeigte, dass es zu keinen bewussten Verstößen gegen Mitwirkungspflichten kam. Vielmehr gingen Menschen nicht mehr mit einem Ohnmachtsgefühl ins Jobcenter: »Das Wissen über die Sanktionsversicherung ließ sie besser schlafen« (S. 168). Die Studie belegte, dass Sanktionen keine motivierende Wirkung haben, kontraproduktiv hinsichtlich der Integration in den Arbeitsmarkt wirken und schwerwiegende psychosoziale Folgen haben. Sie fördern vielmehr eine Armutsspirale, da Menschen, die sanktioniert werden, zwar schneller in Beschäftigung kamen, jedoch nur bei Akzeptanz niedrigerer Bezahlung, so dass der berufliche Pfad aufgrund der prekäre Beschäftigung »schon nach wenigen Jahren in Arbeitslosigkeit endet« (S. 222).

»Nur wo Geld ist, ist ein Weg«  

Nicht ausschließlich die eigene Leistung ist es, die über den Lebensweg entscheidet, dass betonen Steinhaus und Cornelsen immer wieder. Das wird deutlich, wenn man die vielen persönlichen Schicksale liest. Mitentscheidend sind die finanziellen Ressourcen, die Menschen, die Bürgergeld empfangen, fehlen. Einige tausend Euro als Rücklage sorgen für eine höhere Resilienz bei Krisen, während Armut mit zahlreichen psychischen, sozialen und auch physischen Folgen einhergeht. Sie erlaubt es den Menschen von vornherein nicht, eine  Resilienz gegen Schicksalsschläge aufzubauen. Darüber hinaus werden die Ursachen für die Armut oft den Hilfebedürftigen selbst zugeschrieben: »Du bist schuld, wenn du nicht anständig lernst, wenn du nicht anständig leistest, dann ist deine Armut selbst verschuldet« (S. 143). Jeder zusätzliche Euro, der Menschen in Armut zu Gute kommt, wird deshalb mit größtem Misstrauen beäugt. Die Politik und diejenigen, die Bürgergeldempfängern jeden zusätzlichen Euro verweigern wollen, verwechseln, so Steinhaus und Cornelsen, dabei Ursache und Wirkung. Die Lebenswege der Reichen sind häufig nicht das Ergebnis von Fleiß, sondern von meist geerbtem Reichtum. Ihnen stehen alle Wege offen – auch diejenigen, die zum Scheitern führen.

Anschaulich zeigen die Autorinnen dies am Beispiel des Obdachlosen Björn Klinkenbuß und des FDP-Politikers Christian Lindner. Ausführlich wird das Schicksal von Klinkenbuß erzählt, der nach mehreren Rückschlägen und kurz vor dem Tod stehend mit der dritten Therapie seine Drogensucht überwand, mit zahllosen Gelegenheitsjob die Rückkehr ins reguläre Berufsleben versuchte, aber trotz größter Anstrengungen keine Beschäftigung fand. Er starb unerwartet an einem Herzinfarkt. Sein Leben »war ein einziges schwarzes Loch« (S. 129). Ihm wird Lindner gegenüber gestellt, der aus gut bürgerlichem Hause kommend mit seinen Freunden im Jahr 2000 nicht nur die 30.000 Euro Startkapital für ein Startup-Unternehmen aufbringen konnte, sondern über familiäre Kontakte auch zwei Millionen Euro Venture-Kapital. Seine »Moomax GmbH« ging nach wenigen Monaten in die Insolvenz. Für Lindner und seine Freunde hatte das keinerlei Konsequenzen. Seine Mitarbeiter hingegen verloren ohne Anspruch auf Arbeitslosengeld ihre Anstellung. Der Unterschied zwischen Björn Klinkenfuß und Christian Lindner? Es war nicht die Leistungsbereitschaft, sondern der »Zugang zu Darlehen, Krediten und Vorschussvertrauen. Dem einen fehlt es an Zutrauen und Geld; dem anderen fehlt es an gar nichts. Nur an Demut« (S. 146). 

»Demokratisch, fair und armutsfest« – der neue Sozialstaat

Diese Ungleichheit, das Scheitern des Aufstiegsversprechens und die Akkumulation politischer Macht in den Händen weniger Reicher, machen Steinhaus und Cornelsen als Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft aus. Diese manifestieren sich für sie im Machtgefälle des Sozialstaates  8 Gemeint ist das Machtgefälle zwischen denjenigen, die auf finanzielle Hilfe angewiesen sind und denjenigen, die die Hilfe erteilen oder ggfs. kürzen oder verweigern können, während juristischer Widerspruch für Bürgergeldempfänger schwierig ist.  und dem Kampf um das menschenwürdige Existenzminimum, den sie beide für die Betroffenen kämpfen. Die Wut und den Zorn über diese Verhältnisse und die politische Weigerung, jedem ein menschenwürdiges Existenzminimum zu gewährleisten, bricht in ihrer drastischen Analyse immer wieder aus ihnen heraus. Emotionen, die nachvollziehbar werden, wenn die Autorinnen den Leser bei einer »Expedition ins Unbekannte« durch ein Jobcenter führen und einen Einblick in die dortige Lebenswelt geben, um das Gefühl der Ohnmacht zu vermitteln, das Hilfsbedürftige täglich spüren. Für sie ist das Bürgergeld-System nichts weniger als Ausbeutung, Sippenhaft und offener Strafvollzug (vgl. S. 236).

Doch wie stellen sich Steinhaus und Cornelsen angesichts dieser Analyse den alternativen Sozialstaat vor? Neben der Forderung nach Streichung aller Sanktionen, der deutlichen Erhöhung der Bezüge und mehr Personal für die Jobcenter, bleiben ihre Vorschläge leider eher allgemein. So soll beispielsweise die Zivilgesellschaft mit »sozialen Inseln und Bürgerzentren, Gemeinschaftsgärten und Treffpunkten der Nachbarschaft« gestärkt werden (S. 235). Aus der Feststellung, dass die staatliche Förderung des Niedriglohnsektors eine Marktnotwendigkeit zu sein scheint, werden keine Forderungen abgeleitet. Dabei müsste doch genau über die Bedingungen des Arbeitsmarktes und die Verteilung von Gewinnen nachgedacht werden, wenn Menschen mit der Aufnahme einer Beschäftigung aus dem Bürgergeld-System herauskommen sollen. Offen bleibt auch, was ein menschenwürdiges Existenzminimum konkret umfasst. Dies hatten die Autorinnen bei den Urteilen des BVerfG bemängelt. Eine Ausformulierung hätte der Deutungshoheit der Politik entgegenwirken können und gezeigt, was Menschen in Armut an Selbstverständlichkeiten vorenthalten wird. Die Ausführungen von Steinhaus und Cornelsen bleiben hinter dem Untertitel des Buches »Wie wir unsere Sozialstaat demokratisch, fair & armutsfest machen« leider zurück. 

Eine Anklageschrift

Die fehlende inhaltliche Tiefe an der ein oder andere Stelle und ihre teils brachiale Sprache, die man so nicht in Fachliteratur zum Thema finden dürfte, sollte man den Autorinnen jedoch nicht vorhalten. Ihr Anliegen ist ein anderes. Sie klagen an. Sie rütteln auf. Und sie wollen Aufmerksamkeit. Sie möchten nämlich spürbar machen, wie es Menschen geht, denen Lebensnotwendiges nicht gewährt wird. Sie wollen zeigen, dass Hilfsbedürftigkeit kein Vergnügen ist, sondern es einen verzweifeln lassen kann, »wenn man in einer Notlage und Ohnmachtssituation keine Hilfe bekommt« (S. 181). Sie wollen denjenigen, die nie solche Erfahrungen machen mussten, die Augen öffnen und sie animieren, sich gegen die Elendsleugnung in Deutschland zu engagieren. Sie wollen zeigen, dass nichts ohne Alternative ist. Sie wollen zeigen, dass ein menschenwürdiges Leben für Jeden möglich ist. Sie stellen die Frage, warum sich diejenigen schämen sollen, die in Armut leben und nicht wir, eine der reichsten Gesellschaften der Welt, die zulässt, dass diese Zustände herrschen. 

Die Klarheit der Sprache und faktenreiche Analyse des Sozialstaates sind die Stärken dieses aktivistischen Buches. Wer die Zitate der Betroffenen liest, die am Ende jedes Kapitels zu finden sind, der kann kaum anders als die Wut der Autorinnen zu teilen und sich einzugestehen, dass es mit dem Euro, dem man den Obdachlosen in der Innenstadt in den Becher wirft, nicht getan ist. Es braucht Reformen, die den Namen verdienen. Es braucht Widerspruch, wenn die Ampelkoalition neue Sanktionsverschärfungen bei der Weigerung einer Jobaufnahme beschließt 9 Bürgergeld. Hubertus Heil will Jobverweigerern Sozialleistungen kürzen. ZEIT Online. URL: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-12/buergergeld-hubertus-heil-kuerzung-entwurf (Stand 09.01.2024).  und auf Kosten der Hilfsbedürftigen 170 Millionen Euro im Bundeshaushalt einsparen will. 10 Forster, Jonas (2023): Bürgergeld wird wieder mehr zu Hartz 4: Plötzlich macht die Ampel die Rolle rückwärts. Der Westen. URL: https://www.derwesten.de/politik/hartz-4-buergergeld-bonus-anreize-i-id300774742.html (09.01.2024). Es braucht Veränderung. Dafür, dass zeigen Steinhaus und Cornelsen, braucht es nicht viel, aber es braucht viele.