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Das goldene Zeitalter des Kapitalismus

Bretton Woods wird oft als ein keynesianisches Modell aufgefasst. Doch entsprach das System nicht unbedingt den Vorstellungen von John Maynard Keynes. Insbesondere seine Pläne zur Einhegung der globalen Finanzwirtschaft und zur Einführung einer Weltwährung wurden untergraben, wie Grace Blakeley schreibt.

Im Jahr 1944 trafen sich die Wichtigen und die Mächtigen in Bretton Woods, New Hampshire, um über den Wiederaufbau der Weltwirtschaft nach dem blutigsten Krieg der Geschichte zu beraten. 1 Diese Darstellung stützt sich auf: Conway, E. (2016) The Summit: Bretton Woods, 1944: J. M. Keynes and the Reshaping of the Global Economy, Cambridge: Pegasus; Steil, B. (2014) The Battle of Bretton Woods: John Maynard Keynes, Harry Dexter White and the Making of a New World Order, USA: Princeton University Press; Panitch und Gindin (2012); Helleiner (1994)  Die US-amerikanische Delegation unter der Leitung von Harry Dexter White war entsandt worden, um sicherzustellen, dass die Kontrolle über die Weltwirtschaft in geordneter Weise von Großbritannien an die USA übergeben wird. Die britische Delegation unter Leitung des berühmten Ökonomen John Maynard Keynes hatte den Auftrag, so viel Macht wie möglich für sich zu behalten, ohne die USA zu verärgern, die die Hauptgläubiger Großbritanniens waren, und sich nach der Zerstörung Europas als die neue Weltmacht herauskristallisiert hatten. White, ein kaum bekannter Apparatschik des US-Finanzministeriums, war ein »kleiner und stämmiger Selfmademan von bescheidener Herkunft«. Andere Delegierte erinnern sich, dass er schüchtern und zurückhaltend war, was aber auch daran gelegen haben könnte, dass er einen Großteil der Konferenz damit verbrachte, klandestine Gespräche mit Delegierten aus der Sowjetunion zu führen. Jahre später wurde er beschuldigt, ein russischer Spion zu sein, was er dementierte, bevor er an einem Herzinfarkt starb. Der Unterschied zu Keynes, einem hochgewachsenen Intellektuellen aus dem britischen Establishment, der unverschämt seine persönlichen Leistungen anpries und die eigenen Ideen bewarb, hätte nicht größer sein können. Man nannte sie das »ungleiche Paar der Weltwirtschaft«.

Allen Berichten zufolge ging es auf der Konferenz heftig zur Sache – es wurde feines Essen serviert, reichlich Alkohol ausgeschenkt und betrunkene Delegierte vertrieben sich ihre Zeit bis in die frühen Morgenstunden mit den »hübschen Mädchen«, die man aus den gesamten USA herbeigeschafft hatte. Keynes sagte voraus, dass der Abschluss der Konferenz mit »akuten Alkoholvergiftungen« einhergehen würde. Das Hotel verfügte über erstklassige Einrichtungen, darunter »voll ausgestattete Waffenkammern, ein Pelzgeschäft und Kartenspielzimmer für die Ehefrauen, eine Bowlingbahn für die Kinder und einen Billardraum für die Abende«, sowie eine Unmenge an Bars, Restaurants und »schönen Frauen«. Je extravaganter, desto besser – der Glanz und die Überlegenheit des American Way of Life sollten auf Schritt und Tritt zu spüren sein.

Es ist schon etwas ironisch, dass diese dekadente Versammlung in Bretton Woods eine Vereinbarung traf, die ein Wiederaufleben des Gilded Age, des »vergoldeten Zeitalters« der Zwischenkriegszeit, unterband. Das nach dem Versammlungsort benannte Bretton-Woods-System sollte nicht nur den Ausbruch eines weiteren Weltkrieges, sondern auch einen weiteren Wall Street Crash verhindern. Keynes argumentierte eindringlich, dass dies nur möglich sei, wenn man die »Rentierklasse« im Zaum hielte – also diejenigen, die ihr Geld nicht mit der Produktion und Distribution von Waren, sondern mit Krediten und Spekulation verdienten. 2 Keynes (1936)  Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert waren die Rentiers auf Grundlage der steigenden Profite im Zusammenhang mit der industriellen Revolution und dem zunehmenden Handel unter den globalen Imperien extrem mächtig geworden. Um die höchsten Renditen zu erzielen, wurden die Gewinne in Abwesenheit jeglicher Einschränkungen der Kapitalmobilität frei über den Erdball geschoben. Ein Großteil dieses Kapitals wurde in die US-Börsenmärkte investiert, was die Aktienkurse in die Höhe trieb und eine Blase erzeugte, die im Jahr 1929 schließlich platzte.

Grace Blakeley

Grace Blakeley ist Ökonomin, Journalistin und demokratische Sozialistin. Ihre Texte erschienen unter anderem bei Tribune, Jacobin, The Guardian und im New Statesmen. 2019 veröffentlichte sie ihr erstes Buch »Stolen: How to Save the World from Financialisation« (Repeater Books), 2020 folgte »The Corona Crash: How the Pandemic Will Change Capitalism« (Verso). Bild: Privat

»Keynes bekam nicht alles, was er wollte. In seinem Kampf gegen die internationale Finanzwirtschaft wurde er von dem eindrucksvollen Dexter White gehemmt, der die ganze Macht der USA im Rücken hatte.«

Was mit der Weltwirtschaftskrise begann, wurde vom Zweiten Weltkrieg vollendet, der Steuererhöhungen zur Finanzierung der Kriegsanstrengungen zur Folge hatte und Verwüstungen im Wert von Milliarden von Dollar anrichtete. 3 Siehe: Eichengreen, B. (2008) The European Economy since 1945: Coordinated Capitalism and Beyond, USA: Princeton University Press.   Damit war das Finanzkapital angeschlagen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervorgegangen, was die Einhegung der Rentiersklasse erleichterte. Zwar ging es den Verhandlungsführern in Bretton Woods zweifellos darum, die Profitabilität ihres heimischen Bankensektors zu sichern – und nicht zuletzt die aufstrebende Macht der Wall Street –, allerdings lud die US-Delegation nur einen einzigen Banker zum Gipfel ein. 4 Pettifor (2017)

Wenn sie nicht gerade aßen, tranken oder flirteten, erarbeiteten die Delegierten eine historisch bedeutsame Vereinbarung über eine Reihe von Institutionen, die die Weltwirtschaft im goldenen Zeitalter des Kapitalismus kontrollieren sollten. Die Währungen der beteiligten Länder würden unter Aufsicht der Federal Reserve zu festen Wechselkursen an den Dollar gebunden sein – und der Dollar an das Gold. Es wurden Kapitalkontrollen eingeführt, um Finanziers von Währungsspekulationen abzuhalten, die rapide Wechselkursschwankungen verursachen könnten. Das System der Wechselkursanbindung und die Beschränkungen der Kapitalmobilität dienten dazu, jene mächtigen Kapitalfraktionen im Zaum zu halten, die die Weltwirtschaft in der Zeit bis 1929 ins Chaos gestürzt hatten. Was die Eindämmung der Rentiersklasse anging, war Bretton Woods ein bedeutender Schritt nach vorn.

Aber Keynes bekam nicht alles, was er wollte. In seinem Kampf gegen die internationale Finanzwirtschaft wurde er von dem eindrucksvollen Dexter White gehemmt, der die ganze Macht des USA im Rücken hatte. White wollte den US-Dollar als Zentrum des internationalen Währungssystems beibehalten. Keynes hingegen wollte ihn durch eine neue internationale Währung – den Bancor – ersetzen. White ging als Sieger hervor und die USA erhielten das »exorbitante Privileg«, die Weltreservewährung zu kontrollieren. 5 Eichengreen, B. (2011) Exorbitant Privilege: The Rise and Fall of the Dollar and the Future of the International Monetary System, Oxford: Oxford University Press. Bretton Woods schränkte also nicht nur das internationale Finanzwesen ein, sondern institutionalisierte außerdem auch eine amerikanische Hegemonie. 6 Panitch und Gindin (2013)  Europa nahm die langwierigen Prozesse des Wiederaufbaus und der Dekolonisierung auf und die multinationalen Konzerne der neuesten Supermacht der Welt profitierten stattlich. 7 Ebd.  Nach den Jahren der Autarkie während des Krieges nahmen die Handelsströme wieder zu und es begann ein neues Zeitalter der Globalisierung. Zwar gab Bretton Woods die internationalen Rahmenbedingungen dieser wirtschaftlichen Erneuerung vor – am deutlichsten zeigte sich der Abschied von der Laissez-faire-Wirtschaft der Vorkriegszeit jedoch auf der Ebene der nationalen Wirtschaftspolitik. Und auch hier stand wieder einmal Keynes im Mittelpunkt der Entwicklungen.

In der Zwischenkriegszeit hatte Keynes die Wirtschaftswissenschaften herausgefordert, indem er eine Theorie der Nachfrage entwickelte, die den zentralen Grundsatz der klassischen Ökonomie infrage stellte – das Say’sche Gesetz, wonach das Angebot seine eigene Nachfrage schafft. 8 Diese Darstellung stützt sich auf: Keynes (1936); Mann, G. (2016) In the Long Run We Are All Dead, London: Verso; Foster (2010) »The Financialization of Accumulation«, Monthly Review vol. 62.  Nach Jean-Baptiste Say, einem Ökonomen der napoleonischen Zeit, bewirkt das Steigen und Fallen der Preise auf dem freien Markt, dass der Markt »geräumt« sei, also keine Güter oder Dienstleistungen übrig bleiben, sobald alle die Gelegenheit hatten, ein Kaufangebot zu machen. Sollte es vorkommen, dass dieser Preismechanismus einmal nicht greift – etwa wenn Unternehmen Produkte zu verkaufen haben, aber die Nachfrage ausbleibt –, so liege das daran, dass etwa Steuern oder Regulierungen sein Funktionieren behinderten. Dieses Gesetz sollte für die Arbeit wie für alle Waren gelten, was wiederum die Auffassung bestärkte, dass es keine unfreiwillige Arbeitslosigkeit geben könne. Wenn eine Arbeiterin oder ein Arbeiter keine Anstellung fand, so könne das nur an zu hoch gesteckten Lohnerwartungen liegen. Diese Ideologie widersprach natürlich den Erfahrungen derer, die die Weltwirtschaftskrise durchlebt hatten. Vertreterinnen und Vertreter der klassischen Ökonomie würden darauf entgegnen, dass ihr Arbeitsfeld eine Wissenschaft sei, die auf die Empfindungen arbeitender Menschen keine Rücksicht nehmen könne. Aber Keynes gelang es, ihnen das Gegenteil zu beweisen. Sein innovativer Beitrag zu den Wirtschaftswissenschaften bestand darin, dass er den Faktor der Unsicherheit in die ökonomische Modellierung einbezog. Wenn Menschen mit einem Gefühl der Verunsicherung in die Zukunft blicken, handeln sie unter Umständen auf scheinbar irrationale Weise, indem sie zum Beispiel weit mehr ausgeben, als sie es sich leisten können, oder sparen, auch wenn das ihnen wenig einbringt. Das liegt daran, dass die meisten Menschen in unsicheren Zeiten Vermögenswerte bevorzugen, die liquide, also leicht zu verkaufen sind. Daher neigen sie dazu, den liquidesten aller Vermögenswerte zu halten: Bargeld. Liquiditätspräferenz bedeutet, dass die Menschen umso mehr sparen anstatt auszugeben, je größer die Unsicherheit ist.

Noch stärker als das Verhalten von Verbraucherinnen und Verbrauchern werden die Investitionsentscheidungen von Unternehmen durch diese Art von Unsicherheit beeinflusst. Wenn die Unternehmen ihr Vertrauen in die Zukunft verlieren, hören sie mit großer Wahrscheinlichkeit auf zu investieren. Geringere Investitionen führen zu geringeren Einnahmen für die Unternehmen, die daraufhin unter Umständen Leute entlassen, die in der Folge ihre Ausgaben reduzieren müssen, was wiederum einen Rückgang wirtschaftlicher Aktivität bedeutet. Diese Teufelskreise der Zukunftserwartung erzeugen das Auf und Ab der Konjunktur. Das erklärt auch, aus welchem Grund das Say’sche Gesetz kurzfristig nicht greift: Wenn Unternehmen kein Vertrauen in das zukünftige Wirtschaftswachstum haben, können sie sich dafür entscheiden, keine Ausgaben zu tätigen, selbst wenn sie es sich leisten können. Doch das Kurzfristige ist das Entscheidende, denn, wie Keynes bekanntlich sagte: »In the long run we are all dead« – langfristig sind wir sowieso alle tot.

»Damals dachten viele Keynesianerinnen und Keynesianer, es sei ihnen endlich gelungen, die Exzesse des kapitalistischen Systems zu zähmen, das in den vorangegangenen Jahrzehnten so viel Zerstörung angerichtet hatte.«

Aber Keynes begnügte sich nicht mit dieser theoretischen Innovation – er machte auch Vorschläge an die Politik. Das Say’sche Gesetz impliziert, dass Steuern und Regulierungen das normale Funktionieren des Marktes beeinträchtigen und es für alle das Beste sei, wenn sich der Staat mit seiner Wirtschaftspolitik zurückhalte. Die keynesianische Ökonomie hingegen weist dem Staat eine Rolle zu: Er kann auf die Erwartungen Einfluss nehmen und der Nachfrage als Rückhalt dienen. Wenn zum Beispiel das Vertrauen der Unternehmen sinkt und die Investitionen zurückgehen, kann der Staat dem vorhersehbaren Multiplikatoreffekt zuvorkommen, indem er seine eigenen Ausgaben erhöht oder die Zinssätze senkt, um die Aufnahme von Krediten zu begünstigen. Wenn die Unternehmen andererseits zu viel investieren und damit Inflation befördern, kann der Staat seine Ausgaben einschränken oder die Zinssätze erhöhen, um den Aufschwung des Konjunkturzyklus zu dämpfen. Die Steuerung der Konjunktur beinhaltete auch die Eindämmung des Einflusses der Finanzwirtschaft – denn Kreditvergaben und Investitionen verhalten sich ebenfalls prozyklisch: Sie steigen in guten Zeiten an und fallen in schlechten Zeiten ab. Wenn es die Aufgabe der Regierung ist, das Auf und Ab der Konjunktur zu mildern, muss sie die Finanzwirtschaft regulieren, die diese Schwankungen oft intensiviert hat.

Diese Art keynesianischer Wirtschaftslenkung hatte einen bedeutenden Einfluss auf die Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit. Die Verheerungen des Krieges, die Vergrößerung der Staatsapparate und das Aufkommen von Bretton Woods führten in den Staaten des Globalen Nordens zu einer gewissen Neugewichtung der Machtverhältnisse, die die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter begünstigte. 9 Diese Darstellung stützt sich auf: Addison, P. (1975) The road to 1945: British politics and the Second World War, New York: Penguin Random House; Dutton, D. (1997) British Politics Since 1945: The Rise, Fall and Rebirth of Consensus, Hoboken: Wiley; Helleiner, E. (1994) States and the reemergence of global finance: From Bretton woods to the 1990s, New York: Cornell University Press; Duménil und Levy (2004)  Der wachsende politische Einfluss der einheimischen Arbeiterbewegungen führte vielerorts zur Übernahme keynesianischer Ideen – schließlich zielten diese darauf ab, Rezessionen und Arbeitslosigkeit vorzubeugen. Vermittelt durch den Aufstieg von Massenparteien, die die Interessen der arbeitenden Bevölkerung vertraten, entwickelten Staaten und Gewerkschaften enge Beziehungen und installierten in vielen Fällen zentralisierte Tarifverhandlungsprozesse. Die Reichen und die Unternehmen wurden stärker besteuert – die Einschränkung der Kapitalmobilität machte es möglich – und die Ungleichheit in den Gesellschaften nahm ab. Damals dachten viele Keynesianerinnen und Keynesianer, es sei ihnen endlich gelungen, die Exzesse des kapitalistischen Systems zu zähmen, das in den vorangegangenen Jahrzehnten so viel Zerstörung angerichtet hatte. In Anlehnung an das lediglich »vergoldete« Gilded Age der Vorkriegszeit wurde diese Periode folglich das goldene Zeitalter des Kapitalismus genannt.

In Großbritannien entstand in dieser Zeit eine neue Art politischer Ökonomie, die oft als Nachkriegskonsens oder auch als keynesianischer Konsens bezeichnet wird. 10 Siehe zum Beispiel: Addison (1975); Dutton (1997); Duménil und Levy (2004); Boyer (2000)  Im Anschluss an die Kriegsregierung unter Winston Churchill unterlagen die Konservativen bei den Unterhauswahlen 1945 deutlich der Labour Party und Clement Attlee wurde Premierminister. Die neue Labour-Regierung griff den Keynesianismus auf, der bis zu diesem Zeitpunkt nur begrenzten Einfluss auf die Wirtschaftspolitik gehabt hatte. Zwar hatte Keynes mit seinen Ideen die Welt der Wirtschaftswissenschaft revolutioniert – um die wirkliche Welt zu revolutionieren, bedurfte es jedoch einer Verschiebung der Machtverhältnisse. Im Verlauf der folgenden Jahrzehnte ging die Ungleichheit zurück, die Löhne stiegen proportional zur Produktivität, die Lebensstandards der Mehrheit erhöhten sich und sowohl die Arbeiterbewegung als auch der Staat gewannen im Verhältnis zum Kapital an Macht. Der Sozialstaat wurde ausgebaut und bot Arbeiterinnen und Arbeitern ein Sicherheitsnetz, das sie im Falle eines Konjunkturabschwungs auffing, was wiederum ihre Verhandlungsmacht bestärkte. Obwohl die in der City of London angesiedelte Finanzwirtschaft wuchs und weiterhin enormen Einfluss auf die Regierung ausübte, war die Rentiersklasse aus Spekulantinnen und Spekulanten, Landlords und Finanziers viel stärker eingeschränkt als zuvor.

Der Nachkriegskonsens konnte durchgesetzt werden, weil sich die britischen Arbeiterinnen und Arbeiter, die von der keynesianischen Wirtschaftslenkung profitieren würden, organisiert hatten. In Großbritannien war die Arbeiterbewegung politisch gestärkt aus den Jahren des Krieges hervorgegangen. So institutionalisierte sich die Machtverschiebung vom Kapital auf die Arbeit im Rahmen der sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen der 1940er Jahre.

Der Aufstieg der globalen Finanzwirtschaft

Am 28. Juni 1955 wurde G.I. Williamson, der Leiter der Abteilung für Außenhandel der Midland Bank, in die Bank of England berufen, um einige scheinbar ungewöhnliche Geschäfte auf den Devisenmärkten zu besprechen. 12 Diese Darstellung stützt sich auf: Schenk, C. (1998) »The Origins of the Eurodollar Market in London: 1955–1963«, Explorations in Economic History, vol. 35; Green, J. (2016) »Anglo-American Development, the Eurodollar Markets, and the Deeper Origins of Neoliberal Deregulation«, Review of International Studies, vol. 42; Helleiner (2004)  Die Midland Bank hatte sich etwas erlaubt, das bis dahin keine britische Bank zu versuchen gewagt hatte. Sie hatte Einlagen in US-Dollar entgegengenommen und den Inhaberinnen und Inhabern dieser Einlagen Zinsen ausgezahlt, was bis dahin US-amerikanischen Banken vorbehalten war, die von der Federal Reserve reguliert wurden. Es ist gut dokumentiert, dass die Bank of England ihren Pflichten der Regulierung damals nachging, wie es sich für »echte Gentlemen« gehört. Die Banker wurden regelmäßig zu einer Tasse Tee in die Threadneedle Street eingeladen – ein altehrwürdiges Gebäude, in dem sich die Absolventen von Oxford und Cambridge wohlgefühlt haben dürften. Zwar wurden ab und zu auch strengere Töne angeschlagen, doch nur selten kam es zu wirklichen Meinungsverschiedenheiten, die die als »traumhaft« beschriebene Stimmung der Londoner City während des goldenen Zeitalters des Kapitalismus zu verhageln vermochten.

Das war bei den Gesprächen zwischen Williamson und dem Bankbeamten Cyril Hamilton nicht anders. In einem Memo an seine Vorgesetzten versicherte Hamilton, dass bei der Midland Bank »nichts Außergewöhnliches stattgefunden« habe und die Devisenhandelsgeschäfte dem »normalen Geschäftsablauf« entsprochen hätten. Außerdem berichtete Hamilton, dass »Williamson die sanfte Warnung zu schätzen wusste«. Warum eine sanfte Warnung nötig gewesen sein sollte, wo doch angeblich alles dem normalen Geschäftsablauf entsprach, führte er jedoch nicht aus. Möglicherweise beschlich Hamilton die leise Ahnung, dass die Midland Bank in neuartige Aktivitäten verwickelt war, für die die Bank of England nicht gerüstet war. Was er nicht geahnt haben kann, ist, dass er gerade einer Innovation grünes Licht gegeben hatte, die die Finanzwelt innerhalb von zwei Jahrzehnten von Grund auf umgestalten würde.

Der neue Dollarmarkt außerhalb der USA, und damit außerhalb der Reichweite der Federal Reserve, wurde »Eurodollar-Markt« genannt. Wenn man ausländische Währung besitzt, kann man diese normalerweise entweder im Ausland ausgeben, bei einer ausländischen Bank einzahlen oder in ausländische Vermögenswerte investieren – eine britische Bank würde es im Normalfall nicht erlauben, Euros auf das eigene Bankkonto einzuzahlen. Doch das Aufkommen der Eurodollar-Märkte veränderte alles, indem es den Banken erlaubte, Fremdwährungseinlagen anzunehmen und zu verzinsen.

»Bis in die 1970er Jahre waren Milliarden von Dollar auf den unregulierten Eurodollar-Märkten gelandet und hatten damit den Plan von Keynes untergraben, der darauf abgezielt hatte, das Fluchtkapital der Rentiersklasse einzufangen.«

Der Begriff »Eurodollar« ist eigentlich eine Fehlbezeichnung, insofern die ersten Nicht-US-Dollar-Einlagen in Großbritannien angenommen wurden – doch er setzte sich durch. Heute wird das Präfix »Euro-« für jede Währung verwendet, die außerhalb ihres Heimatlandes gehalten wird – »Euroyen« sind zum Beispiel alle Yen, die außerhalb Japans gehalten werden. Die Auswirkungen dieses Systems wurden erst wirklich sichtbar, als die Eurodollar-Märkte in den 1970er Jahren in Schwung kamen. Sozialistische Staaten und neuerdings finanzstarke ölproduzierende Länder, die ihre Dollareinlagen halten wollten, ohne sie bei US-Banken anzulegen, konnten sie stattdessen in London deponieren. In der Folge wuchsen die Londoner Eurodollar-Märkte beträchtlich. Indem sie ein globales System unregulierter Kapitalströme schufen, untergruben die Eurodollar-Märkte das System von Bretton Woods. 13 Diese Darstellung stützt sich auf: Panitch und Gindin (2013); Pettifor (2017); Epstein (2005); Shaxson, N. (2018) The Finance Curse: How Global Finance Is Making Us All Poorer, London: Bodley Head.  Jene Investorinnen und Investoren, die Dollars hielten – und da der Dollar die globale Reservewährung darstellte, waren das so gut wie alle – konnten diese nun in der City of London deponieren. Diese Dollars konnten dann frei in der Weltwirtschaft zirkulieren – ungehindert durch die strenge Regulierung, die die Federal Reserve den US-amerikanischen Banken damals auferlegte. Bis in die 1970er Jahre waren Milliarden von Dollar auf den unregulierten Eurodollar-Märkten gelandet und hatten damit den Plan von Keynes untergraben, der darauf abgezielt hatte, das Fluchtkapital der Rentiersklasse einzufangen. Nun konnten sich Londons Finanziers an einem nahezu bodenlosen Fass an Dollarreserven bedienen. Nachdem das Finanzzentrum des ehemals größten Weltreichs jahrzehntelang mit Einschränkungen konfrontiert war, hauchten die Euro-dollar-Märkte der City of London neues Leben ein.

»Stolen«

In ihrem Buch »Stolen« zeigt Grace Blakeley, dass der Finanzcrash von 2008 kein Fehler im System war, sondern ein Symptom der Finanzialisierung der Wirtschaft. Die Folgen dieser Verschiebung sind tiefgreifend: sinkende Löhne und steigende Schulden für die arbeitende Bevölkerung, hohe Gewinne und niedrige Steuern für die Besitzenden – und eine Politik, die von Prinzipien des Marktes korrumpiert ist.

Aber das Wachstum der Eurodollar-Märkte war nicht die einzige Bedrohung für Bretton Woods, die in den 1970er Jahren zu Tage trat. Von der Zunahme des Welthandels in der Nachkriegszeit profitierten einige Länder mehr als andere. So wuchsen die US-amerikanischen Unternehmen mit Unterstützung des mächtigsten Staates der Welt erheblich. Viele wurden von der US-Regierung zum Wiederaufbau Europas abkommandiert und entwickelten sich dadurch zu einigen der ersten modernen multinationalen Konzernen. Zwischen 1955 und 1965 verdreifachte sich die Zahl der Tochtergesellschaften US-amerikanischer Unternehmen in Europa. 14 Panitch und Gindin (2013)  Als der Wiederaufbau Fahrt aufnahm, stiegen auch Unternehmen aus Deutschland und Japan ein, sodass es in den 1970er Jahren mehr – und größere – multinationale Konzerne gab als je zuvor. Das Wachstum der multinationalen Konzerne hatte zur Folge, dass zwischen ihren Unternehmen Kapital im Wert von Milliarden von Dollar um die Welt zirkulierte. Toyota, General Electric und Volkswagen konnten es sich nicht leisten, ihre auf der ganzen Welt verteilten Tochtergesellschaften voneinander isoliert zu halten – Geld musste bewegt werden, auch wenn das bedeutete, die währungspolitische Architektur der Weltwirtschaft zu untergraben. Außerdem erleichterte der technologische Fortschritt direkte Kapitaltransfers zwischen verschiedenen Teilen der Welt. Damit hatte die Kapitalmobilität trotz des Fortbestehens von Kapitalverkehrskontrollen bis in die 1970er Jahre erheblich zugenommen. Das Aufkommen der Eurodollar-Märkte und der Aufstieg der multinationalen Konzerne begannen Bretton Woods ernsthaft zu belasten.

Am Ende waren es jedoch nicht die Banken, sondern die US-Regierung selbst, die dem System, das sie mit aufgebaut hatte, den letzten Schlag versetzte. Mit dem Dollar als Reservewährung wurde den USA das »exorbitante Privileg« zuteil, ihre Ausgaben durch Geldschöpfung finanzieren zu können. 15 Diese Darstellung stützt sich auf: Eichengreen (2011); Helleiner (1994); Panitch und Gindin (2013)  Weil der Dollar überall benötigt wurde, konnten die USA so viel ausgeben, wie sie wollten, ohne eine Hyperinflation zu riskieren. Die Anbindung an den Goldstandard sollte diese Praxis im Zaum zu halten: Wenn die Anlegerinnen und Anleger vermuteten, dass mehr Dollars als Gold im Umlauf waren, könnten sie sich ihre Dollars in Fort Knox in Gold auszahlen lassen. Doch das hielt die USA nicht davon ab, Milliarden von Dollars zu drucken, um einen verschwenderischen und zerstörerischen Krieg in Vietnam zu finanzieren. In Kombination mit den Dollars, die durch das wachsende Leistungsbilanzdefizit der USA aus dem Land flossen, sah sich die Weltwirtschaft in den 1970er Jahren einer Dollarschwemme ausgesetzt. Als der damalige US-Präsident Nixon 1971 erkannte, dass viel zu viele Dollar im Umlauf waren, um die Scharade weiterhin aufrecht halten zu können, kündigte er an, dass der Dollar zukünftig nicht mehr in Gold konvertiert werden könne. Damit war Bretton Woods gestorben. Viele erwarteten eine starke Abwertung des Dollars – doch zu der kam es nicht. Tatsächlich wurde der Dollar – so stark wie eh und je – weiterhin als globale Reservewährung gehandelt, auch wenn es keine Goldanbindung mehr gab. Damit wurde die tatsächliche Grundlage des Bretton-Woods-Systems enthüllt: die US-amerikanische Vormacht. Der in Bretton Woods festgelegte Goldstandard bildete nicht die Quelle für den Wert des Dollars – diese bestand vielmehr in einer kollektiven Übereinkunft, wonach er als globale Standardwährung verwendet werden würde, so wie Englisch zu diesem Zeitpunkt die globale Standardsprache geworden war. Da die steigenden Ausgaben nun nicht mehr mit immer wachsenden Goldreserven gedeckt werden mussten, war die Macht des US-Finanzministeriums schließlich entfesselt. Die Folgen würden erst nach dreieinhalb Jahrzehnten spürbar werden.

»Der Untergang von Bretton Woods entfesselte das Kapital. […] Und das Kapital, das unter Bretton Woods in Staaten wie Großbritannien angesammelt worden war, verlangte in die Weltwirtschaft entlassen zu werden.«

Das Ende von Bretton Woods bedeutete eine tiefgreifende Veränderung des internationalen Währungssystems. Da es keine Anbindung an Gold oder andere Waren gab, war Geld nun nichts weiter als ein Versprechen, erteilt auf Anordnung desjenigen Staates, der es ausgab. Der Wert einer Währung würde nun durch die Kräfte von Angebot und Nachfrage bestimmt werden. Anstatt die Menge des geschaffenen Geldes zu begrenzen, um die Währungsbindung aufrechtzuerhalten, konnten Staaten so viel Geld drucken, wie sie wollten – und mussten dabei nur die Gefahr einer Inflation berücksichtigen. In ihrem Namen konnten nun auch Privatbanken Geld in Form von Krediten schaffen, wobei sie nur durch innerstaatliche Regulierungen eingeschränkt waren. Der Zusammenbruch von Bretton Woods war der letzte Schritt einer weitreichenden Entwicklung: Während das System des Warengeldes für den größten Teil der Menschheitsgeschichte die Norm darstellte, würde von nun an Fiat- und Kreditgeld alle anderen Geldformen dominieren. Die Auswirkungen dieses Wandels würden weitaus tiefgreifender sein, als man es damals erahnen konnte. 16 Die Transformation des Währungssystems im Laufe des 20. Jahrhunderts spielt in der Veränderung des Charakters der Finanzwirtschaft eine zentrale Rolle. Zwar streife ich das Thema Geld in diesem Buch an verschiedenen Stellen, jedoch gehe ich nicht im Detail auf diese komplexe Fragestellung ein. In meinem Verständnis stütze ich mich in erster Linie auf Lapavitsas (2013).  Der Untergang von Bretton Woods entfesselte das Kapital. Viele Länder erhielten Kapitalverkehrskontrollen und eine strenge Finanzregulierung aufrecht. Aber die Dollarschwemme, die auf internationaler Ebene aufgekommen war, drängte auf die nationalen Märkte ein. Und das Kapital, das unter Bretton Woods in Staaten wie Großbritannien angesammelt worden war, verlangte in die Weltwirtschaft entlassen zu werden. Es sträubte sich gegen die fortbestehenden Kapitalkontrollen und fand immer raffiniertere Wege, das System zu umgehen und sämtliche Hindernisse für sein weiteres Wachstum zu beseitigen. Doch es bedurfte einer nationalen Krise, um die Überreste der Nachkriegsordnung vollends zu Fall zu bringen.

Die Widersprüche der Sozialdemokratie

Gerade als Bretton Woods zusammenbrach, begannen sich die Grenzen des sozialdemokratischen Modells abzuzeichnen. 17 Diese Darstellung stützt sich auf: Dutton (1997); Krippner (2012); Duménil und Levy (2004; 2011); Panitch und Gindin (2013); Streeck, W. (2013) Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin: Suhrkamp.  Bretton Woods erschuf eine Weltwirtschaft mit multinationalen Konzernen, globalen Lieferketten und internationalem Wettbewerb. Letzten Endes fiel das System seinem eigenen Erfolg zum Opfer.

Einige Unternehmen – vor allem die multinationalen US-Konzerne – florierten, doch vielen anderen fiel es immer schwerer, mit den aufstrebenden Industrien in Deutschland, China und Japan mitzuhalten. Insbesondere britische Unternehmen hatten damit zu kämpfen, Profit aus der neuen Globalisierungswelle zu ziehen. Das lag unter anderem daran, dass das Pfund Sterling zu einem zu hohen Kurs an den Dollar gebunden war, was die britischen Exporte für die internationalen Märkte zu teuer machte. 18 Hazledine, T. (2017) »Revolt of the Rustbelt«, New Left Review, vol. 105, Mai–Juni. https://newleftreview.org/II/105/tom-hazeldine-revolt-of-the-rustbelt  Bis Ende der 1960er Jahre waren die Profite dieser Unternehmen stark zurückgegangen und in den 1970er Jahren galt Großbritannien als der kranke Mann Europas. Ab 1973, nachdem der Versuch einer europäischen Anbindung aufgegeben wurde, fiel das Pfund Sterling kontinuierlich im Verhältnis zum Dollar, bis es 1976 erstmals unter 2 Dollar sank. 19 Dawney, K. (2001) »A history of sterling«, The Telegraph, 8. Oktober 2001. https://www.telegraph.co.uk/news/1399693/A-history-of-sterling.html  In Anbetracht dessen könnte man meinen, dass das Ende von Bretton Woods ein Segen für das britische Kapital gewesen wäre. Befreit von dem überbewerteten Wechselkurs wären die Unternehmen nun endlich wieder in der Lage, international zu konkurrieren. Doch jahrzehntelange Stagnation lässt sich nicht über Nacht wettmachen. Großbritanniens Unternehmen stellten fest, dass sie selbst bei einem niedrigeren Wechselkurs nicht mit den neuen multinationalen Konzernen konkurrieren konnten, deren Produkte von besserer Qualität waren oder zu niedrigeren Preisen angeboten wurden. Die erste Ölpreiskrise im Jahr 1973 führte zu einem Anstieg der Inflation, die in zwei Jahren während der 1970er die 20-Prozent-Marke überschritt und im August 1975 mit 27 Prozent ihren Höchststand erreichte. Ohne die starken Gewerkschaften wäre eine durch steigende Kosten getriebene Inflation möglicherweise nicht zu einem systemischen Problem geworden. In diesem Fall hätten die Unternehmen ihre Beschäftigten entlassen oder die Löhne gekürzt, um die Kosten zu senken. Mit dem noch bestehenden Nachkriegskonsens im Rücken drängten die Gewerkschaften jedoch auf Lohnerhöhungen, die mit der Inflation Schritt halten würden. Die Gewerkschaften waren in der Lage, Forderungen aufzustellen und mit dem Staat in Verhandlung zu treten – und sie weigerten sich nachzugeben.

Nichtsdestotrotz stieg die Arbeitslosigkeit mit zunehmendem Kostendruck. Der Staat schwankte zwischen einer Erhöhung seiner Ausgaben zur Linderung der Arbeitslosigkeit und einer Senkung seiner Ausgaben zur Linderung der Inflation. Die Ölpreiskrise hatte die keynesianischen Politikerinnen und Politiker in eine Zwangslage gebracht, für die sie nicht gewappnet waren: Stagflation – die Kombination von Arbeitslosigkeit und Inflation. In der keynesianischen Wirtschaftslehre, die auf der Vorstellung der Phillipskurve beruhte, war dieser Fall nicht vorgesehen. In den 1960er Jahren behaupteten Ökonominnen und Ökonomen unter Rückgriff auf die Arbeit von William Phillips, dass Inflation und Arbeitslosigkeit in einem umgekehrten Verhältnis stünden. Nach ihren Modellen war die Inflation bei hoher Arbeitslosigkeit niedrig und umgekehrt, weshalb Staaten ein moderates Inflationsniveau tolerieren sollten, um die Vollbeschäftigung zu befördern. 20 Diese Darstellung stützt sich auf: Johnson, H. (1971) »The Keynesian Revolution and the Monetarist Counter-Revolution«, The American Economic Review, vol. 61; Mann (2016)  Die Regierungen sollten demzufolge zuerst ihre Ausgaben erhöhen und die Zinssätze senken, bis die Vollbeschäftigung erreicht war, und dann damit beginnen, die Ausgaben zu reduzieren und die Zinssätze zu erhöhen, um wiederum die Inflation zu senken. Diesen Drahtseilakt zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit zu bewerkstelligen, war während der gesamten Nachkriegszeit das Hauptziel der Wirtschaftspolitik. Doch in den 1970er Jahren gelang es der sozialdemokratischen Wirtschaftsführung weder die Arbeitslosigkeit noch die Inflation zu senken – wobei die letztere von politischen Entwicklungen am anderen Ende der Welt herrührte. Erhöhungen und Senkungen der Zinssätze hätten nichts anderes als eine »Stop-and-go«-Ökonomie zur Folge gehabt, die von einem Extrem zum anderen schwankt. Man bewegte sich auf unerforschtem Gebiet – niemand wusste, was zu tun war. Als die Arbeitslosigkeit Anfang der 1970er Jahre 4 Prozent erreichte, wurde klar, dass der Staat das Problem zu lösen versuchte, indem er das Versprechen der Vollbeschäftigung stillschweigend zurückzog, um die Inflation zu senken. Aber diese Strategie stellte eine existenzielle Bedrohung für die britischen Gewerkschaften dar: Denn wenn sich der Staat nicht mehr zur Sicherung der Vollbeschäftigung verpflichtet sah, bedeutete das für sie den Verlust eines mächtigen Verbündeten im Kampf gegen die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Sie konnten es sich nicht erlauben, das widerstandslos hinzunehmen – ganz zu schweigen davon, dass ihre Mitglieder auf Arbeitsplätze und Lohnerhöhungen als Inflationsausgleich angewiesen waren, um zu überleben. Vor allem in den Branchen mit den mächtigsten Gewerkschaften eskalierten die Arbeitskämpfe – insbesondere bei den Bergleuten, deren Macht sich aus ihrer Kontrolle über die Energieversorgung des Landes speiste.

»Es gab nur zwei mögliche Lösungen für die Krise: einen Sieg der Arbeit oder einen Sieg des Kapitals. Wie dieser Kampf ausgehen würde, hing nicht unwesentlich davon ab, wo die Loyalitäten des Staates liegen würden.«

Die wirtschaftlichen Turbulenzen erzeugten eine politische Krise. Auf der einen Seite war es den Konservativen bis Mitte der 1970er nicht gelungen, die Jahre der Streiks, der Energieknappheit und der Stagflation in einen Wahlvorteil umzumünzen – der damalige Premierminister Ted Heath trat vor die Nation und fragte: »Wer regiert dieses Land, wir oder die Bergleute?« Auf der anderen Seite erwies sich auch die 1974 gewählte Labour-Regierung unter Harold Wilson als unfähig, einen Weg aus der Sackgasse zu weisen. Dieser verfolgte einen versöhnlicheren Ansatz, indem er die Löhne der Bergleute erhöhte und einen »Gesellschaftsvertrag« zwischen Kapital und Arbeit zu schließen versuchte. Dieser hatte auch eine kooperative Einkommenspolitik vorgesehen, bei der die Regierung mit den Gewerkschaften in Lohnverhandlungen treten würde. Doch mit der zweiten Ölkrise 1979 – drei Jahre nachdem Großbritannien einen Notfallkredit beim Internationalen Währungsfonds beantragt hatte – war der Gesellschaftsvertrag endgültig begraben. Als die Inflation erneut in die Höhe schnellte, drängten die Gewerkschaften auf eine Rückkehr zu freien Tarifverhandlungen. Der Winter im Jahr 1979 war der kälteste seit 1962 und ging durch das Zusammenspiel von Arbeitskämpfen, wirtschaftlicher Stagnation, Energieknappheit und Kälte als »Winter of Discontent« – Winter der Unzufriedenheit – in die Geschichte ein. Die Krisenstimmung war allgegenwärtig. James Callaghan, seit 1976 Premierminister der Labour Party, wurde im Januar 1979 auf einem Gipfel in Guadeloupe von einem Journalisten zu »dem zunehmenden Chaos im Land« befragt. Er antwortete, er glaube nicht, dass andere der Einschätzung des Journalisten zustimmen würden, das Land befinde sich im Chaos. Am folgenden Tag erschien die britische Boulevardzeitung Sun mit der berühmten Schlagzeile »Krise, welche Krise?«. Großbritannien stand 1979 an einem Scheideweg: Die Gewerkschaften würden nicht nachgeben und der sozialdemokratische Staat konnte es sich nicht leisten, eine Konfrontation mit ihnen einzugehen. Was war aus dem goldenen Zeitalter des Kapitalismus geworden?

Im Rückblick ist offensichtlich, dass die 1970er Jahre einen Wendepunkt für den Nachkriegskonsens darstellten. Die Unternehmen konnten es sich vor dem Hintergrund des zunehmenden internationalen Wettbewerbs und der hohen Inflation nicht leisten, die Forderungen der Gewerkschaften nach Lohnerhöhungen weiterhin zu tolerieren. Die Gewerkschaften wiederum konnten es sich nicht erlauben, von ihren Forderungen nach Arbeitsplätzen und Inflationsausgleich abzurücken. Diese Problemlagen waren struktureller Natur – sie waren der Funktionsweise des Systems eingeschrieben.

Die Handlungen wirtschaftlicher Akteurinnen und Akteure, die ihre eigenen Interessen verfolgten – seien es Unternehmen, die versuchten, ihre Profite zu steigern, oder Arbeiterinnen und Arbeiter, die versuchten, ihre Löhne zu steigern –, führten zu akuten Spannungen, die die britische Wirtschaft an den Rand des Zusammenbruchs zu bringen drohten. Die dem sozialdemokratischen Wachstumsmodell innewohnenden Widersprüche waren letztendlich zu Tage getreten – und es gab nur zwei mögliche Lösungen für die Krise: einen Sieg der Arbeiterinnen und Arbeiter oder einen Sieg des Kapitals. Wie dieser Kampf ausgehen würde, hing nicht unwesentlich davon ab, wo die Loyalitäten des Staates liegen würden.

Der Ökonom Michał Kalecki, der zeitgleich mit Keynes (manche sagen sogar schon vor ihm) eine Theorie der Nachfragesteuerung entwickelte, hatte solche Probleme schon Jahrzehnte zuvor vorhergesehen. 21 Kalecki, M. (1943) »Politische Aspekte der Vollbeschäftigung«, in: Krise und Prosperität im Kapitalismus. Ausgewählte Essays 1933–1971, Marburg: Metropolis.  Nachdem er seine Schlussfolgerungen bezüglich der Fähigkeit des Staates zur Nachfragesteuerung gezogen hatte, stellte er fest, dass eine solche Politik nicht langfristig funktionieren könnte, da die Vollbeschäftigung »politische Aspekte« habe, die sie instabil machten. Die staatliche Förderung der Vollbeschäftigung untergrub einen wichtigen Faktor, ohne den der Kapitalismus nicht funktionieren würde: die Androhung der Entlassung. Eine Politik der Vollbeschäftigung würde die »Reservearmee« beseitigen, auf die sich die kapitalistischen Unternehmen verließen, um einen stetigen Strom billiger Arbeitskräfte zu gewährleisten. Ohne verzweifelte Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich ausbeuten lassen, würden die Profite versiegen. Der starke Staat der Nachkriegszeit hatte außerdem noch eine zweite Sünde begangen: Er fürchtete sich nicht mehr vor den Drohungen des Kapitals, Investitionen zu reduzieren. Wenn die Regierung viel in die Wirtschaft investiert – und insbesondere, wenn bestimmte Industrien verstaatlicht werden –, dann können die Unternehmen einen Staat nicht mehr so leicht für eine ihnen unliebsame Politik abstrafen, indem sie ihr Kapital abziehen. Die Möglichkeit eines »Kapitalstreiks« ist ausgehebelt. Langfristig bewegt das Zusammenkommen dieser Faktoren die Kapitalistinnen und Kapitalisten dazu, sich der Politik der Vollbeschäftigung zu widersetzen, auch wenn diese den Konsum ankurbelt und damit ihre Profite befördert. Kaleckis These ist nicht, dass die Sozialdemokratie wirtschaftlich nicht tragfähig wäre, sondern dass sie politisch unhaltbar ist. Früher oder später wird sie zu einer politischen Krise führen. Er erklärt: 22 Ebd., S. 237f.

In einem Zustand permanenter Vollbeschäftigung nämlich würde die Kündigung aufhören, als Disziplinierungsmaßnahme eine Rolle zu spielen. Die soziale Position des Chefs würde unterminiert, und gleichzeitig würden in der Arbeiterklasse Selbstsicherheit und Klassenbewusstsein wachsen. Streiks zur Erreichung höherer Löhne und verbesserter Arbeitsbedingungen würden politische Spannungen schaffen. Tatsächlich würden im Zustandpermanenter Vollbeschäftigung die Profite höher sein, als sie es im ›Laisser-faire‹ durchschnittlich sind. […] Jedoch werden von den Mächtigen der Wirtschaft ›Arbeitsdisziplin‹ und ›politische Stabilität‹ höher bewertet als die Profite.

Genau das scheint in den 1960er und 1970er Jahren geschehen zu sein. Bei hohen Löhnen, niedriger Arbeitslosigkeit und moderater Inflation wuchs die Macht der britischen Gewerkschaften. Während der ersten Jahre waren die Spannungen bezüglich der Verteilung der Profite zwischen Kapital und Arbeit aufgrund der Unterstützungsleistungen seitens der USA und der von Bretton Woods beförderten Zunahme des Welthandels gedämpft. Aber als es hart auf hart kam, die Inflation zunahm und die internationale Konkurrenz die Profite schmälerte, traten die Widersprüche der Sozialdemokratie offen zutage. Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit nahm die Form eines Nullsummenspiels an.

Als die Profite unter Druck gerieten, entschied nur noch eines darüber, wem die Erträge aus dem Wachstum zufallen würden – nämlich wer die Macht hatte. Dank der zunehmenden Kapitalmobilität und des Zusammenbruchs von Bretton Woods hatte sich das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit in den 1970ern verschoben. Kapitalistinnen und Kapitalisten konnten damit drohen, sich mit ihrem Geld aus dem Staub zu machen, wenn ihnen das Geschäftsumfeld nicht zusagte. Obwohl die Kapitalkontrollen noch immer in Kraft waren, fanden viele von ihnen raffinierte Wege, ihr Geld in Umlauf zu bringen. Und da zugleich die staatliche Unterstützung für die Arbeiterbewegung nachließ, standen die Arbeiterinnen und Arbeiter dem Kapital ohne mächtige politische Verbündete gegenüber.

Dieser Druck höhlte den Nachkriegskonsens immer weiter aus, bis er schließlich während der Krise der 1970er Jahre zusammenbrach. Nun musste ein neues Modell an seine Stelle treten. Die politische Unruhe, die durch die Erosion der britischen Sozialdemokratie ausgelöst wurde – und die sich im Rückzug der sozialdemokratischen Bewegungen in weiten Teilen des Globalen Nordens widerspiegelte – bot denjenigen, die während des Nachkriegsbooms marginalisiert worden waren, die lang erwartete Gelegenheit, die Weichen für die Zukunft zu stellen. Der Linken schienen die Antworten ausgegangen zu sein – die Rechte hingegen sah ihren Moment gekommen.

Jede Krise ist eine Chance

Nachdem er die Wählerinnen und Wähler gefragt hatte, »wer das Land regiert«, und diese darauf »Sie nicht« antworteten, war der gedemütigte ehemalige Premierminister Ted Heath 1975 gezwungen, eine Neuwahl für den Parteivorsitz der Konservativen zu organisieren. Obwohl er die Wahlen von 1974 verloren hatte, konnte Heath die Unterstützung eines Großteils des Parteiestablishments und der Zeitungen aufrechterhalten. Man erwartete, dass er die Wahl zum Parteivorsitz gewinnen würde. Doch stattdessen wurde er von einer jungen Aufsteigerin abgelöst, die sich mit einem radikalen neuen ökonomischen Programm zur Wahl gestellt hatte, das später als Neoliberalismus bekannt wer- den sollte: Eine Theorie, die besagt, dass dem menschlichen Wohlergehen am besten gedient wäre, wenn man nur den unternehmerischen Geist entfessele – durch die staatliche Gewährleistung freier Märkte, freien Handels und privater Eigentumsrechte. 23 Harvey, D. (2007) Kleine Geschichte des Neoliberalismus, Zürich: Rotpunktverlag.  Ihr Name war Margaret Thatcher.

Thatchers radikale neoliberale Wirtschaftsagenda war bereits Jahrzehnte zuvor am Schweizer Mont Pèlerin geschmiedet worden. 24 Diese Darstellung stützt sich auf: Mirowski, P. (Hrsg.) The Road from Mont Pelerin: The Making of the Neoliberal Thought Collective, Cambridge: Harvard University Press; Harvey (2007); Slobodian, Q. (2018) Globalists: The End of Empire and the Birth of Neoliberalism, Cambridge: Harvard University Press; Gamble, A. (1988) The Free Economy and the Strong State: The Politics of Thatcherism. Duke University Press Books.  1947 traf sich eine Gruppe von Ökonomen aus der gan- zen Welt, um ein neues Programm zu entwickeln, das den Kampf gegen die »weltumspannende marxistische und keynesianische Planung« aufnehmen sollte. Das war eine nüchterne, intellektuelle Angelegenheit – ganz im Gegensatz zu der ausschweifenden Konferenz, die drei Jahre zuvor auf der anderen Seite des Atlantiks stattgefunden hatte. Die Mont Pèlerin Society (MPS) – wie sich die Gruppe selbst nennen würde – wusste, dass sie politisch und intellektuell isoliert war. Die Glaubwürdigkeit des Laissez-faire-Liberalismus der Vorkriegszeit war 1929 zusammen mit der Wall Street zusammengebrochen. Der folgende Krieg hatte den Staat in beispielloser Weise ermächtigt – und diese Staaten hatten ihre Macht dazu genutzt, die Aktivitäten der internationalen Finanziers einzuschränken, die nun die Versammlung am Mont Pèlerin sponserten. Die MPS lehnte jede staatliche Intervention ab, die der Freiheit der Märkte im Wege steht. Von der Gewährleis- tung staatlicher Sozialversicherung und Gesundheitsversorgung waren sie entsetzt. Der Aufstieg der Gewerkschaften und die staatliche Förderung von Tarifverhandlungen galten der neoliberalen Ideologie gleichermaßen als Affront. Der wohl ungeheuerlichste Aspekt des Nachkriegskonsenses waren für sie aber die Kapitalkontrollen. Den Staat bestimmen zu lassen, wohin die Einzelnen ihr Geld fließen lassen können, galt einigen von ihnen als eine Bedrohung der menschlichen Freiheit, anderen einfach als eine Hemmnis für die Profite. Die Allianz zwischen Ideologen, die danach trachteten, eine Welt frei von Totalitarismus zu schaffen, in der die Privatwirtschaft floriert, und den Opportunisten, die ein System untergraben wollten, das sie am Geldverdienen hinderte, kennzeichnete die Mont Pèlerin Society vom ersten Tag an. Diese Ambiguität war für den Erfolg des Neoliberalismus von großer Bedeutung. Er ist zugleich ein in sich kohärentes intellektuelles Konzept und eine Ideologie, die dazu dient, die Macht des Kapitals im Allgemeinen und des Finanzkapitals im Besonderen zu erweitern. 25 Diese Darstellung stützt sich auf: Fine, B. (2009) »Neoliberalism as Financialisation« https://eprints.soas.ac.uk/5616/1/ brooksgalip.pdf; Fine, B. und Saad-Filho, A. (2016) »Thirteen Things You Need to Know About Neoliberalism«, Critical Sociology, vol. 43; Palley (2007)

Die Arbeit von Friedrich August von Hayek, Ludwig von Mises und anderen war ein ernsthaftes intellektuelles Unterfangen, das einer bestimmten Werteordnung entsprang – nämlich dem Bekenntnis zu einem Freiheitsbegriff, der durch die Kontrolle über das persönliche Eigentum definiert ist. 26 Hayek, F. A. (1944) Der Weg zur Knechtschaft; von Mises, L. (1940) Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens.  Dass dies eine Rechtfertigung für Steuersenkungen, die Abschaffung von Kapitalverkehrskontrollen und die Verschlankung des Staates lieferte, veranlasste mehrere prominente internationale Finanziers, einen großen Teil der Kosten für das erste Treffen der Mont Pèlerin Society zu übernehmen. In dieser Hinsicht gibt es eine Parallele zur Entwicklung des Keynesianismus und seiner Übernahme durch die Labour Party. Einerseits versuchte Keynes, den Kapitalismus vor seinen eigenen Widersprüchen zu »retten«, andererseits suchte die Labour Party nach einer Ideologie und einem politischen Programm, das ihr erlauben würde, einen Kompromiss zwischen Arbeit, Kapital und Staat aufrechtzuerhalten. In diesem Sinne war der Neoliberalismus ebenso wenig ein konspiratives Komplott zur Übernahme der Weltwirtschaft wie der Keynesianismus. Die Intellektuellen werden immer an die Mächtigen herantreten, um ihre Ideen zu befördern, und die Mächtigen werden immer nach Ideen suchen, um ihre Interessen zu rechtfertigen. Die Elite, die sich damals am Mont Pèlerin versammelte, beschloss, all ihre Zeit, ihr ganzes Geld und ihre gesamten intellektuellen Ressourcen auszuschöpfen, um das System des Staatskapitalismus zu stürzen, das ihrer Ansicht nach dem Totalitarismus den Weg ebnete. Ihr politisches Manifest – das »Statement of Aims« – enthielt Verpflichtungen zur Förderung der freien Initiative und des freien Funktionierens des Marktes sowie zur Schaffung von Staaten und internationalen Institutionen, die diese Ideale befördern. Darin wurde außerdem behauptet, dass »die Gruppe nicht anstrebt, Propaganda zu betreiben«. Allerdings heckten sie einen Plan aus, wie ihre Prinzipien in eine wirtschaftspolitische Agenda übersetzt werden könnten, die den sozialdemokratischen Konsens auf der ganzen Welt untergraben würde.

»Thatcher behauptete, die Konservativen seien die wahre Partei der arbeitenden Menschen – sie würden ihre Steuern und die Inflation senken und ihnen gleichzeitig einen Arbeitsplatz und ein Zuhause sichern.«

Bei der Verbreitung ihrer Ideen kam ihnen eine Reihe akademischer und politischer Netzwerke sowie Think Tanks zur Hilfe. Die Aufgabe, diese neue und »bessere« Betrachtungsweise der Wirtschaft in den Mainstream zu überführen, war nicht zu unterschätzen – immerhin hatte der keynesianische Kompromiss einen Anstieg der Lebensstandards, einen Rückgang der Ungleichheit und ein starkes Bündnis zwischen den Gewerkschaften und dem Nationalstaat bewirkt. Der Umstand, dass sich die Neoliberalen für die Abschaffung des Sozialstaats einsetzten, ließ sie wie gefährliche Radikale aussehen, die man nicht ernst zu nehmen brauchte. Jahrzehntelang wurden Hayek und seine Gefolgsleute in Wissenschaft und Politik verspottet und an den Rand gedrängt.

Doch möglicherweise waren die Vertreterinnen und Vertreter der Sozialdemokratie zu selbstzufrieden. Was nach beispielloser Stabilität aussieht, kann unter den ungehemmten Dynamiken des globalen Kapitalismus ganz plötzlich implodieren. Die Krise der 1970er Jahre bewies, dass sich die Sozialdemokratie nicht grundlegend von jedem anderen kapitalistischen System unterschied: Sie verfügte über ihre eigenen inhärenten Widersprüche, die sich schließlich als ihr Verhängnis erweisen würden. Die neoliberalen Gefolgsleute der MPS waren vom Zusammenbruch des Nachkriegskonsenses genauso schockiert wie alle anderen. Sie hatten jahrzehntelang weltweit daran gearbeitet, die Regelungen von Bretton Woods auszuhöhlen – dennoch machte der sozialdemokratische nationale Kompromiss noch immer einen soliden Eindruck. Doch die 1970er Jahre veränderten alles. Als die US-Regierung Bretton Woods den letzten Schlag versetzt hatte, fühlten sich die Neoliberalen ermutigt. Sie wussten, dass dies der Anfang vom Ende der Kapitalkontrollen war. Zunehmende Kapitalmobilität würde ihnen im Kampf mit dem Nationalstaat zugutekommen, da sie denjenigen Vetomacht einräumt, die Kapital besitzen: Keine Lust, Steuern zu bezahlen? Bewegen Sie Ihr Geld ins Ausland.

Die Neoliberalen konzentrierten ihre Bemühungen auf den britischen Staat – das historische Zentrum des globalen Finanzwesens, in dem das goldene Zeitalter des Kapitalismus mit der akuten Krise der Sozialdemokratie bereits zu Ende zu gehen schien. Die Think Tanks, die sie im Anschluss an Mont Pèlerin gegründet hatten – das Institute for Economic Affairs und das Adam Smith Institute – begannen mit beeindruckender Geschwindigkeit neo- liberale Propaganda zu produzieren. Sie ließen sich mit allen Politikerinnen und Politikern ein, die bereit waren, mit ihnen zu reden – doch eine unter ihnen erwies sich offener als alle anderen. Als Thatcher für den Vorsitz der konservativen Partei kandidierte, schlossen sich die Neoliberalen in Wirtschaft und Wissenschaft prompt ihrer Wahlkampagne an. 27 Tribe, K. (2009) »Liberalism and Neoliberalism in Britain, 1930–1980«, in: Mirowski (2009)  Nachdem Thatcher gewann, arbeiteten sie ebenso schnell ein Wahlprogramm mit ihr aus, das den Verlauf der britischen Geschichte verändern würde.

Thatchers Kampagne kreiste um drei Versprechen: Sie und ihr Team hatten sich vorgenommen, den Gewerkschaften den Kampf anzusagen, den Staat zu verschlanken und eine Nation von Hausbesitzerinnen und Hausbesitzern zu schaffen. Ihre Wahlversprechen verbreitete sie in populistischem Ton: Die Konservativen würden »die Gesundheit des wirtschaftlichen und sozialen Lebens wiederherstellen«, »Anreize schaffen, damit sich harte Arbeit wieder lohnt« und »das Familienleben unterstützen, indem man es den Menschen erleichtert, ein Eigenheim zu erwerben«. Thatchers Rhetorik der Wiederherstellung ermöglichte es, ihre radikale Wirtschaftspolitik in der Sprache des traditionellen Konservatismus zu formulieren und dabei die besten Erinnerungen der Menschen an den Nachkriegskonsens wachzurufen. Die Labour Party porträtierte Thatcher als eine Partei von Schmarotzern, die von der harten Arbeit anderer leben, und von Schlägern, die das Land als Geisel halten. Bei den traditionellen Wählerinnen und Wählern der Labour Party versuchte sie auf Stimmen- fang zu gehen, indem sie behauptete, dass ihre Wirtschaftspolitik die Vollbeschäftigung wiederherstellen würde, und verbreitete diese Botschaft mittels des berühmt gewordenen, griffigen Slogans »Labour isn’t working«. Sie behauptete, Labour sei eine extremistische Partei, die die britische Demokratie zu Fall bringen und durch eine totalitäre Herrschaft nach sowjetischem Vorbild ersetzen wolle. Die Konservativen seien die wahre Partei der arbeitenden Menschen – sie würden ihre Steuern und die Inflation senken und ihnen gleichzeitig einen Arbeitsplatz und ein Zuhause sichern. Das war eine kraftvolle Botschaft – und die Umfragen bezeugten, dass Thatchers Sieg durch den Wechsel der Loyalitäten vieler Wählerinnen und Wähler mit niedrigen Einkommen errungen wurde.

Die populistische Rhetorik war aber nur der Anfang. Thatcher wusste, dass sich die öffentliche Unterstützung für die wichtigsten Elemente ihrer neoliberalen Agenda in Grenzen hielt – also versteckte sie ihre Bekenntnisse zu Privatisierung und Deregulierung im Kleingedruckten. Tatsächlich waren selbst jene politischen Vorhaben, für die Thatcher warb – vom Kampf gegen die Gewerkschaften bis zur Verschlankung des Staates – bei den Wählerinnen und Wählern 1979 nicht beliebter als 1974. 28 Evans, G. and Tilley, J. (2017) The New Politics of Class: The Political Exclusion of the British Working Class, Oxford: Oxford University Press.  Während der Jahre, in denen Thatcher in der Opposition war, zeigte sich, wie sehr ausgedehnte Krisen die Unterstützung für den Status quo erodieren können. Zwar waren die meisten Menschen nicht besonders an Privatisierungen interessiert, jedoch hatten sie die Schnauze voll davon, dass ständige Arbeitskämpfe, Inflation und Arbeitslosigkeit sie in ihrem Leben beeinträchtigten und der Staat offensichtlich unfähig war, mit diesen Problemen umzugehen. Viele Menschen stimmten 1979 für Thatcher, weil sie eine der wenigen Politikerinnen und Politiker zu sein schien, die die Situation erklären und praktikable Lösungen anbieten konnten. Selbst wenn ihnen Thatchers Agenda nicht gefiel, dachten sie nach den Frustrationen des »Winter of Discontent«, dass es vielleicht einen Versuch wert sei. Milton Friedman – einer der Gründer der Mont Pèlerin Society – wusste das am besten. Im Rückblick auf die neoliberalen Erfolge der 1980er Jahre schrieb er:

Nur eine Krise – ob wirklich oder bloß wahrgenommen – bringt echten Wandel hervor. Welche Maßnahmen ergriffen werden, wenn eine solche Krise eintritt, hängt davon ab, welche Ideen gerade in Umlauf sind. Das ist, glaube ich, unsere grundlegende Aufgabe: Alternativen zu bestehenden Politiken zu entwickeln und sie lebendig und verfügbar zu halten, bis das politisch Unmögliche zum politisch Unvermeidlichen wird.

Die Pläne der Neoliberalen beschränkten sich nicht darauf, Thatcher zum Wahlsieg zu führen. Es ging darum, den Krisenmoment, den der Zusammenbruch des Nachkriegskonsenses hervorgebracht hatte, zu nutzen, um ein neues ökonomisches Modell in Großbritannien zu institutionalisieren – eines, das die Macht des Kapitals vergrößern würde, so wie der keynesianische Konsens die Macht der Arbeiterinnen und Arbeiter institutionalisiert hatte. In diesem Sinne hatten die Neoliberalen ein ebenso dialektisches Verständnis des Wandels wie der Marxismus. Die Widersprüche der Sozialdemokratie würden durch eine Krise zum Vorschein kommen, die die Wirtschaft zum Erliegen bringt. Im Zuge einer solchen Krise würden die Menschen in ihrem Alltag und in der Politik nach Ideen suchen, die ihnen einen Ausweg bieten könnten. Durch die Etablierung eines Narrativs, die Bildung politischer Bündnisse und die Erlangung der Kontrolle über den Staat würden die Neoliberalen die Krise nutzen können, um eine Reihe von Institutionen einzurichten, die ihnen und den sie unterstützenden Kräften jene Form dauerhafter Macht geben würde, die ihnen die Sozialdemokratie vorenthalten hatte.

Genau das war die Intention hinter Thatchers Agenda. Neoliberale Ökonominnen und Ökonomen, Think Tanks und Finanziers überzeugten Thatcher – wobei keine große Überzeugungsarbeit vonnöten war –, dass es für freie Märkte einen starken Staat bräuchte. 29 Gamble (1994)  Die einzige Möglichkeit, mit der kommunistischen Bedrohung im In- und Ausland fertig zu werden, bestünde darin, aggressiv gegen die Macht der Gewerkschaften vorzugehen, die dynamischen Kräfte des Marktes und der Konkurrenz freizusetzen, die Effizienz, Profitabilität und soziale Gerechtigkeit befördern würden, und die Besitzerinnen und Besitzer von Kapital wieder in ihre rechtmäßige Stellung als die unangefochten mächtigste gesellschaftliche Gruppe zu befördern. Thatcher und ihre Gefolgsleute wussten, dass sie fünf Jahre Zeit haben würden, um ein solches Modell aufzubauen – aber sie wussten auch, dass es, sobald es einmal etabliert war, eine bleibende Einrichtung darstellen würde.

Thatchers erste Amtshandlung war, sich mit der einzigen Gruppe anzulegen, die in der Lage wäre, ihre Hegemonie herauszufordern: den Gewerkschaften. Sie führte einen jahrelangen Kampf gegen die britische Arbeiterbewegung und wandte jede Menge politisches Kapital auf, um ihn zu gewinnen. Die nächste Aufgabe bestand darin, im Gegenzug das Kapital zu stärken. Anstatt ein Bündnis mit dem schwächelnden nationalen Kapital zu suchen, das sich auf Bergbau und Produktion konzentrierte, entschied sich Thatcher dafür, die Interessen des aufstrebenden internationalen Kapitals zu fördern. Dessen natürliche Verbündete waren gleich um die Ecke von Westminster zu finden – im Finanzviertel der britischen Hauptstadt: der City of London.

Dieser Sieg der Interessen des Kapitals über die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter wäre für sich nicht von langer Dauer gewesen. Was die Neoliberalen brauchten, um ihr neues System zu stabilisieren, war eine mehrheitsfähige politische Basis. Wie es ihnen gelang, diese herzustellen, kann vom Programm der konservativen Regierung für die Wahlen im Jahr 1979 abgelesen werden: ein schlanker Staat und Hausbesitz. Anstelle einer Allianz zwischen nationalem Kapital und Arbeiterbewegung, die den Nachkriegskonsens beherrscht hatte, schmiedete Thatcher ein Bündnis zwischen dem internationalen Kapital im Umkreis der City of London und der mittleren Einkommensklasse im südlichen England. Sie sicherte sich die Unterstützung von Menschen mit mittleren Einkommen, indem sie sie durch die Förderung von Hausbesitz und die Privatisierung ihrer Pensionsfonds zu Minikapitalistinnen und -kapitalisten machte. Thatcher transformierte die britische Politik und entfesselte ein neues Wachstumsmodell, das über 35 Jahre andauerte, bevor es in der größten Finanzkrise seit 1929 zusammenbrach.