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Der Mythos der »Sozialen Marktwirtschaft«

Im Zuge der Währungsreform hob Ludwig Erhard im Sommer 1948 zentrale Preiskontrollen in Westdeutschland auf. Danach stiegen die Preise so dramatisch, dass eine Lebenshaltungskrise ausbrach und die westdeutschen Gewerkschaften zum Generalstreik aufriefen. In diesem Kampf liegen die wahren Wurzeln der »Sozialen Marktwirtschaft«, wie Uwe Fuhrmann zeigt.

Der Gründungsmythos der Bundesrepublik wird durch den 20. Juni 1948 symbolisiert, als Ludwig Erhard, damaliger Wirtschaftsdirektor in der anglo-amerikanischen Besatzungszone, die D-Mark einführte. Um die neue Währung stabil zu halten, verband Erhard die Ausgabe der D-Mark mit der Aufhebung zahlreicher Preiskontrollen. In den darauffolgenden elf Jahren wuchs das Bruttoinlandsprodukt im Jahresdurchschnitt um über sieben Prozent. Dieses deutsche Wirtschaftswunder ist auf eine Reduzierung der Geldmenge (die alte Reichsmark wurde im Verhältnis 10:1 eingetauscht), eine Freigabe aller Preise und eine Entfesselung der Märkte zurückzuführen, heißt es im gängigen Mythos. Erhard selbst verstärkte dieses Narrativ und berief sich dabei auf einen zentralen Begriff, der heute im deutschen und europäischen Recht fest verankert ist: die »Soziale Marktwirtschaft«.

Diese Interpretation der deutschen Nachkriegsgeschichte vermittelt uns, dass wirtschaftliche Stabilität ganz wesentlich auf freien Preisen beruht. Zudem wird behauptet, dass die ordoliberale Tradition in Deutschland einen freundlicheren und sanfteren Neoliberalismus hervorgebracht habe, als er etwa in anglo-amerikanischen Ländern existiert. Das läge daran, dass der Ordoliberalismus einen Wohlfahrtsstaat akzeptiert habe und diesen in die westdeutsche Wirtschaftsordnung integriert hätte. In politischen Reden, Lehrmaterialien sowie in Zeitungsartikeln, aber auch Fernsehdokumentationen sowie einem anwachsenden Stapel von Büchern, Fachartikeln und Festschriften wird die »Soziale Marktwirschaft« deshalb beschworen und gefeiert. Auch in dem Dokumentarfilm »Commanding Heights« (2002), der auf Daniel Yergins und Joseph Stanislaws Geschichte der politischen Ökonomie im 20. Jahrhundert beruht, wird Erhards Währungsreform als »Lichtblick« in einer sonst dunklen Ära der Planwirtschaft und Preiskontrollen dargestellt. 1 Mit diesen Worten wird Hayek in der PBS-Serie „Commanding Heights. The Battle for the World Economy. Episode One: The Battle of Ideas.“ zitiert. Dokumentarfilm, Minute 49-50. Abschrift unter: https://www.pbs.org/wgbh/commandingheights/shared/minitext/tr_show01.html , Kapitel 8 (Ende).  Wie wirkmächtig diese Interpretation letztlich ist, erkennt man aber auch daran, dass freie Preise und stabiles Geld heute Leitprinzipien der deutschen Wirtschaftspolitik ausmachen. In Deutschland blickt man ganz besonders stolz auf das Wirtschaftswunder zurück. Wo andere Nationen ihre Revolutionen, ihre Unabhängigkeitstage oder ihre historischen Helden feiern, feiert man in Deutschland den 20. Juni 1948 und die »Soziale Marktwirtschaft«. 2 Michel Foucault sprach von einer neuen Form der Zeitlichkeit in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Nicht die Geschichte, sondern das Wachstum zählt, Michel Foucault (2004): Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978-1979, Frankfurt/M., S. 112-299, S. 126. In einer Standarddarstellung der deutschen Wirtschaftsgeschichte von Werner Abelshauser heißt es in der Einleitung: »Deutsche Geschichte ist vor allem Wirtschaftsgeschichte«, Werner Abelshauser (2005): Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, Bonn, S. 11.

Uwe Fuhrmann

Uwe Fuhrmann (Dr. phil.), geb. 1979, hat nach einer Schreinerlehre Geschichte in Berlin studiert. Seit seiner Promotion zur Entstehung der »Sozialen Marktwirtschaft« schreibt er aus unterschiedlichen Blickwinkeln über die Geschichte der Gewerkschaften und zu Fragen der Wirtschaftspolitik.

Doch auch wenn diese Erzählung sehr eindrucksvoll ist, bleibt sie ein Mythos. Tatsächlich war Erhards liberale Wirtschaftspolitik nämlich kein bahnbrechender Erfolg, der die Grundlage für das deutsche Wirtschaftswunder schuf. Vielmehr war Erhards Wirtschaftspolitik ein riesiges Fiasko, das bald durch eine Revolte von unten beantwortet wurde. Die Revolte zwang die damals von der CDU geführten Regierung dazu, eine politische Kehrtwende zu vollziehen. Durch die Hintertür führte die Regierung die staatliche Hoheit über die Marktpreise wieder ein und nahm so entscheidenden Einfluss auf das Wirtschafts- und Marktgeschehen. Es war deshalb nicht Erhards Entfesselung der Märkte, sondern die rasche Politisierung der Preise, die die institutionelle Grundlage für das deutsche Wirtschaftswunder schuf. Wenn die deutsche Marktwirtschaft nach dem Krieg wirklich sozial geworden ist, dann nicht aufgrund der Aufgeklärtheit der damaligen Regierung. Vielmehr war die »Soziale Marktwirtschaft« ein Zugeständnis an den Großteil der lohnabhängigen Bevölkerung, die die Wirtschaftspolitik von Ludwig Erhard vehement ablehnte. Mit organisierten Protestaktionen kämpfte sie nach der Einführung der Währungsreform für eine gerechtere Verteilung des Wohlstands. Mit großem Erfolg.

Währungsreform

Doch gehen wir die historischen Ereignisse einmal der Reihe nach durch. Am 02. März 1948 trat Ludwig Erhard sein Amt als Wirtschaftsdirektor im neuen Wirtschaftsrat der anglo-amerikanischen Besatzungszone an. Als überzeugter Verfechter einer freien Marktwirtschaft beabsichtigte Erhard die Wirtschaft nach »liberalen« Vorstellungen zu gestalten. In der damaligen Zeit hieß das, die Wirtschaft von zahlreichen Preiskontrollen zu »befreien«. Nach der Überzeugung von Erhard war der »Markt [bereits] als solcher sozial«, was gleichzeitig bedeutete, dass er nicht (z.B. durch Preiskontrollen) sozial gestaltet werden brauchte. 3 Dieses Zitat von Ludwig wurde uns von Friedrich von Hayek in einem Interview mitgeteilt, daher ist es mit Vorsicht zu genießen. »Friedrich Hayek on the Crisis«, siehe Encounter, Vol. 60-61, Mai 1983, Seite 55.

Die Einführung der Währungsreform erfolgte dann am 20. Juni 1948. Anders als oft behauptet wird, geht die Konzeption und Umsetzung der Währungsreform aber nicht auf Erhard zurück, sondern auf die Westalliierten. Erhard wurde gerade mal fünf Tage vor der Umsetzung von den Alliierten informiert. 4 Hans Tietmeyer: Soziale Marktwirtschaft in Deutschland – Entwicklungen und Erfahrungen –. (PDF; 322 kB) (Nicht mehr online verfügbar.) Freiburger Diskussionspapiere zur Ordnungsökonomik 10/4. Walter Eucken Institut / Institut für Allgemeine Wirtschaftsforschung, Abteilung für Wirtschaftspolitik der Albert-Ludwigs Universität Freiburg i. Br., 13. September 2010, archiviert vom Original am 9. März 2012; abgerufen am 1. Dezember 2016.  Die Reform sollte das Geldvermögen um 93,5 Prozent abwerten, um den Geldüberschuss aus dem Zweiten Weltkrieg zu beseitigen. Aus zehn Reichsmark wurden so 0,65 D-Mark. Zahlreiche Sparer wurden auf diese Weise über Nacht enteignet, während die Besitzenden von Vermögenswerten wie Immobilien, Unternehmen oder Aktien kaum Verluste erlitten.

Im Zuge der Währungsreform bot sich für Erhard die Gelegenheit an, in der westlichen Besatzungszone eine freie Marktwirtschaft einzuführen. Einen Tag vor der Reform ließ Erhard deshalb über den Rundfunk mitteilen, dass Preiskontrollen für wesentliche Lebensmittel und Waren aufgehoben seien. Damit setzte Erhard sich über die Ratschläge von Mitgliedern seiner eigenen Verwaltung hinweg, insbesondere von Leonhard Miksch. Dieser intervenierte noch am Tag vor Inkrafttreten der Änderungen per Telefon und pochte darauf, von den Freigaben »politisch und sozial sensibler Preise« wie Schuhe und Textilien abzusehen. 5 Aktenvermerk von Miksch vom 21. Juni 1948, BA Z8/220, S. 140.  Vergeblich. Nur Mieten, Energie und ein paar Grundnahrungsmittel blieben nach dem 20. Juni weiterhin staatlich reguliert. 

Nachdem die Preiskontrollen aufgehoben waren, stiegen – wenig überraschend – die Preise für wichtige Konsumgüter rasant an. Gleichzeitig wurden die seit 1939 eingefrorenen Löhne nicht angehoben; dieser Lohnstopp wurde erst im November 1948 aufgehoben. Hinzu kam, dass die Westdeutschen keine Ersparnisse mehr hatten, weil die Währungsreform fast das gesamte Geldvermögen vernichtet hatte. Als Reaktion darauf wiederholte Erhard das übliche neoliberale Mantra, dass sich die Preise mit der Zeit »einpendeln« würden, was jedoch nicht geschah. 6 uhrmann, Uwe. Die Entstehung der ‚Sozialen Marktwirtschaft‘ 1948/49 Entstehung, (UVK Verlagsgesellschaft mbH: Constance and Munich, 2017) S. 166. In den ersten zwanzig Tagen nach der Währungsreform stiegen die Preise für Schuhe, Haushaltswaren, Gemüse und Obst um fünfzig bis zweihundert Prozent an, die für Eier sogar noch stärker. Die Menschen konnten sich grundlegende Güter deshalb nicht mehr leisten und prangerten die eklatanten Ungleichheiten an, die zu Tage traten. Es vergingen mehrere Wochen, doch die Situation verbesserte sich nicht. 7 Fuhrmann, Entstehung, S. 167-169.

Die Folge war eine Welle sozialer und politischer Unruhen im Herbst 1948. In fast allen Städten kam es zu Protesten. Marktstände wurden geplündert, und im ganzen Land kam es zu groß angelegten Kaufstreiks, bei welchen man mit Plakaten zum Boykott aufrief. Hausfrauen »sozialisierten« Eierstände, da Eier besonders teuer und begehrt waren. Schließlich schalteten sich auch die Gewerkschaften ein und hoben die Anti-Inflationsbewegung damit auf ein neues Niveau. Am 28. Oktober 1948 gingen dann 80.000 Menschen in Stuttgart während der Arbeitszeit auf die Straße, um gegen die überteuerten Preise zu protestieren. Deutsche und amerikanische Polizeibataillone setzten Tränengas, Bajonette und gepanzerte Fahrzeuge ein, um die aufgebrachte Menge unter Kontrolle zu bringen. Auch eine Ausgangssperre wurde verhängt. Am 12. November erreichten die Proteste schließlich ihren Höhepunkt, als ein Generalstreik ausgerufen wurde – der bisher letzte in Deutschland nach 1945. Mehr als neun Millionen Menschen – fast achtzig Prozent der lohnabhängigen Bevölkerung – legten die Arbeit nieder, um gegen Ludwig Erhard und seine Wirtschaftspolitik zu protestieren. 8 Zu dieser großen Welle der sozialen Unruhen siehe Fuhrmann, Entstehung, S. 172-230.

Zeitungsausschnitt vom 21. August 1948, in welchem über die Proteste gegen steigende Preise in Westdeutschland berichtet wird. Bild vom Autor.

Politische Interventionen

Diese Ereignisse setzten die deutsche Regierung enorm unter Druck. Schließlich sahen Erhard und andere CDU-Verantwortliche sich dazu gezwungen, ihren politischen Kurs zu ändern. Im September zog die Regierung schließlich die Notbremse und wechselte ihren Kurs. Wenig später folgte eine diskursive Kehrtwende.

Doch widmen wir uns zunächst der Politik. Um der fatalen Dynamik der »freien« Preise zu begegnen, beschloss die Regierung die freigegebenen Preise wieder einer staatlichen Kontrolle zu unterwerfen. Sie tat dies allerdings durch die Hintertür. So wurden zum Beispiel zunächst Tabellen mit »angemessenen« Preisen veröffentlicht und Geldstrafen gegen Personen verhängt, die gegen die neuen Verordnungen verstießen. 9 Fuhrmann, Entstehung, S. 233-238. Darüber hinaus wurden Verordnungen erlassen, um die Gewinnspannen von Betrieben zu kontrollieren und Preisabzocken zu bekämpfen.

Als die Lage mit diesen Maßnahmen nicht stabilisiert werden konnte, wurden schließlich noch staatliche Produktionsprogramme eingeführt. Zunächst griff die Regierung auf ein Programm zurück , das ausrangierte Militärgüter für zivile Zwecke aufarbeitete. Als diese neuen Produkte die Märkte überschwemmten, passten sich ihre Preise aber bloß denjenigen an, die durch das Freigabefiasko entstanden waren. An der Krise änderte das wenig. Erst mithilfe einer gesetzlichen Verordnung, die feste Preise und Gewinnspannen vorschrieb, konnte eine gewisse Ordnung wiederhergestellt werden.

Ein Produktionsprogramm, das nach dem Vorbild des britischen »Utility Gools«-Programms umgesetzt wurde, erwies sich dann als ganz besonders erfolgreich: das sogenannte »Jedermann-Programm«. Es lieferte Schuhe und Kleidung zu guter Qualität und festgelegten Niedrigpreisen. Der Hebel, mit dem man die Beteiligung der Unternehmen an dem Programm beförderte, war die staatliche Ressourcenverteilung. Unternehmen bekamen wichtige Ressourcen nur dann zugeteilt, wenn sie sich am Jedermann-Programm beteiligten. 10 Fuhrmann, Entstehung, S. 238-252. Zu Beginn des Jahres 1949 waren bereits mehr als die Hälfte aller über den Ladentisch verkauften Konsumgüter wieder zu festgelegten Preisen erhältlich. Ein Sieg der revoltierenden Bevölkerung gegenüber Erhards marktwirtschaftliche Politik. 11 Gioia-Olivia Karnagel (1999): Jedermann-Programm, in: Wolfgang Benz (Hg.): Deutschland unter alliierter Besatzung 1945–1949/55, Berlin, S. 351–353, 351.

Die »Soziale Marktwirtschaft«

In dieser Zeit tauchte auch der Begriff der »Sozialen Marktwirtschaft« erstmals im politischen Diskurs auf. Bevor ihn Erhard 1949 vereinnahmte, hatten ihn allerdings seine Gegner in der SPD und den Gewerkschaften genutzt, um ihn gegen die Befürworter einer freien Marktwirtschaft zu richten. So wurde der Begriff von links mit der Forderung nach einer sozialeren Wirtschaftspolitik verknüpft, die wiederum durch Streiks und Demonstrationen unterstützt wurde. 12 Fuhrmann, Entstehung, S. 259-295.

Für die CDU rettete Hermann Pünder den Begriff. Der heute völlig unbekannte Politiker war Erhards Vorgesetzter und damals ranghöchster Amtsträger in den Westzonen. Nachdem er aufgrund des Generalstreiks unter Druck geraten war, erklärte er am 10. November 1948 im Parlament, dass die Regierung »keine freie Marktwirtschaft, sondern nur eine soziale Marktwirtschaft schaffen und betreiben« würde – angeblich habe sie das auch immer getan. Eine glatte Lüge oder ein beeindruckender Selbstbetrug. Pünder stellte daraufhin eine entsprechende Broschüre mit dem Titel »Unsere soziale Marktwirtschaft« zusammen und warb innerhalb der CDU für den Begriff der »Sozialen Marktwirtschaft«. 13 Fuhrmann, Entstehung, S. 287-289; 298.

Als die CDU im Februar 1949 mit den Wahlkampf-Vorbereitungen für die erste Bundestagswahl begann, blieb Erhard nichts mehr anderes übrig, als den Begriff der »freien Marktwirtschaft« durch den der »Sozialen Marktwirtschaft« zu ersetzen. Doch auch wenn seine Sprache sich geändert hatte, hatten seine Überzeugungen das nicht. In seinen Reden kehrte er immer wieder zu den alten Mantras zurück: »Nur die Marktwirtschaft ist sozial.« 14 Sitzung des Zonenausschusses der CDU der britischen Zone am 24. und 25. Februar 1949 in Königswinter, edited in: Helmuth Pütz (Bearb.), Konrad Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone 1946 – 1949; Dokumente zur Gründungsgeschichte der CDU Deutschlands, hgg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung, S. 775-865, quote 846.

Als der CDU-Vorsitzende und spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer vorschlug, das Parteiprogramm für den kommenden Wahlkampf mit »Planwirtschaft oder Marktwirtschaft« zu betiteln, rief Johannes Albers, ein Vertreter des CDU-Arbeitnehmerflügels, ein entscheidendes Wort dazwischen: »Sozial!«. So erhob Adenauer die »Soziale Marktwirtschaft« und nicht die adjektivlose »Marktwirtschaft« zur Richtlinie. Darauf wurde offiziell beschlossen, den Wahlkampf auf die plakative Formel »Soziale Marktwirtschaft oder bürokratische Planwirtschaft« auszurichten. 15 Fuhrmann, Entstehung, 300-303; For quote see Pütz, S. 858. Das Ergebnis waren die »Düsseldorfer Leitsätze«, die am 15. Juli 1949 veröffentlicht wurden und der CDU als Vorbereitung für die Bundestagswahl im August 1949 dienten. Dass die CDU die »Soziale Marktwirtschaft« in ihr Programm aufnahm, ist ohne das Freigabefiasko, die sozialen Unruhen, die zahlreichen Streiks und den Zwischenruf von Johannes Albers nicht zu verstehen.

Als Erhard nach der erfolgreichen Bundestagswahl im Juni 1949 Bilanz zog, wollte er die Idee der »Sozialen Marktwirtschaft« für sich reklamieren und behauptete, er habe den Begriff allein geprägt. 16 Vgl. »Mitschrift einer Rede Erhards zur gegenwärtigen Wirtschaftslage vor dem Wirtschaftspolitischen Ausschuss der CDU in Hagen-Haspe u. Detmold [sic!]« am 2. Juni 1949, Bundesarchiv N1278/163, Seite 5.  Diese Version der Ereignisse setzte sich schnell durch, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie danach von seinen politischen Gegnern übernommen wurde. Mit der Veröffentlichung von Erhards Bestseller »Wohlstand für alle« (1957) stieg die Erzählung dann endgültig zur Standardinterpretation auf. Seit über sechs Jahrzehnten hält sich der Mythos von der »Sozialen Marktwirtschaft« nun in Deutschland.


Heute ist die »Soziale Marktwirtschaft« im Vertrag von Lissabon – und damit auch in Europa – als Richtlinie (»common provision«) fest verankert. Die Geschichte ihrer Entstehung bleibt jedoch im Dunkeln, insbesondere die Kämpfe, die eine entscheidende Rolle für die Entstehung einer »Soziale Marktwirtschaft« in Deutschland gespielt haben, sind in Vergessenheit geraten. 

Am fünfundsiebzigsten Jahrestag der deutschen Währungsreform ist es deshalb wichtig, den Mythos von Ludwig Erhard als Vater der »Sozialen Marktwirtschaft« zu korrigieren. Der erste und letzte Generalstreik in Deutschland, der Erhards Vorstellung einer freien Marktwirtschaft vehement ablehnte, erreichte zentrale politische Zugeständnisse, die die deutsche Wirtschaftsordnung bis heute prägen. Die Tatsache, dass die CDU aufgrund der katastrophalen Folgen ihrer Reformen eine politische Kehrtwende vollziehen musste, zeigt sowohl die Bedeutung der Preisgestaltung für die ökonomische und politische Stabilität als auch – und das ist von zentraler Wichtigkeit – die Bedeutung des Protestes der Bevölkerung, der diese politische Kehrtwende erzwang.

Dieser Beitrag erschien auch in englischer Sprache auf Phenomenal World. Übersetzung von Otmar Tibes und Uwe Fuhrmann.