Chicago Boys circa 1957, Bild: Ernesto Fontaine

Die Herrschaft des Privateigentums

Ingo Stützle schreibt zu Mythos und Realität der »Chicago Boys« bei der Durchsetzung der neoliberalen Agenda nach dem Militärputsch in Chile vor 50 Jahren.

Kaum ein Text, der sich kritisch mit der Geschichte und der Durchsetzung des Neoliberalismus beschäftigt, der nicht den Militärputsch in Chile vor 50 Jahren und die sogenannten Chicago Boys erwähnt. So schreibt David Harvey in seiner »Kleinen Geschichte des Neoliberalismus«: »Damals wurde ein Team von Ökonomen nach Santiago beordert, das der chilenischen Wirtschaft wieder auf die Beine helfen sollte. Man nannte sie die ›Chicago Boys‹«. 1 David Harvey: Kleine Geschichte des Neoliberalismus, Zürich 2007, S. 15.  Die chilenischen Ökonomen, ausgebildet bei neoliberalen Größen wie Milton Friedmann und Friedrich August von Hayek, so die gängige Erzählung, hätten damals das neoliberale Handwerkszeug von Privatisierung bis Deregulierung im Handgebäck gehabt, das sie unter Laborbedingungen ausprobieren sollten. Für Liberale ist die solidarische Begleitung der mörderischen Militärdiktatur, nicht mehr als ein »Sündenfall«, so Rainer Hank, dessen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS, 26.3.2023) auch mit den »Chicago Boys« betitelt ist. 2 Rainer Hank: Chicago Boys: Der Sündenfall der Neoliberalen und der brutale Diktator, unter: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/hanks-welt/der-suendenfall-des-liberalismus-was-trieb-gute-oekonomen-in-die-arme-pinochets-18773865.html.

Wenn auch so einiges, was hierzu geschrieben wird, stimmt, so zeigt sich, dass das konterrevolutionäre Bündnis aus Militär und Wissenschaft nicht so »organisch« und fest war, wie gerne behauptet wird – und der Faschismus ist auch keine »Ursünde« der liberalen Tradition, wie es etwa Hank behauptet, sondern ihr als Potenzialität eingeschrieben.

Kalter Krieg

Nach 1945 prägte der Kalter Krieg alle zwischenstaatlichen Konflikte – er stellte das »dominante Konfliktmuster« der Politik dar. 3 Vgl. Frank Deppe: Die Konfrontation der Systeme, Hamburg 2006.  1954 formulierte Eisenhower die sogenannte Dominotheorie, die zu einem zentralen Parameter der US-Außenpolitik wurde und besagte, dass ein Land nach dem anderen auf die »falsche« Seite des Kalten Krieges fallen könnte – auf die Seite des real existierenden Sozialismus. Bereits demokratische Aufbrüche waren für die USA Anlass, mittels des US-Auslandgeheimdienstes CIA einzugreifen. In den Worten von Henry Kissinger, dem Sicherheitsberater des damaligen US-Präsidenten Richard Nixon: »Ich sehe nicht ein, warum wir nichts tun und zusehen sollten, wie ein Land durch die Unverantwortlichkeit seines eigenen Volkes kommunistisch wird. Die Angelegenheiten sind viel zu wichtig, als dass sie den chilenischen Wählern zur Entscheidung überlassen werden könnten.« 4 Zit. n. Urs Müller-Plantenberg: Der andere 11. September und die Folgen. 40 Jahre nach dem Putsch in Chile, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 3/2013, S. 473–483, S. 474, https://doi.org/10.32387/prokla.v43i172.261.  In Chile wurde die CIA bereits 1963 aktiv und »investierte« bis zum Putsch zehn Jahre später etwa 13 Millionen US-Dollar.

Ingo Stützle

Ingo Stützle ist promovierter Politikwissenschaftler, Redakteur bei „PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft“ und betreut seit 2019 die Marx-Engels-Werke beim Karl Dietz Verlag in Berlin. Neben der monetären Integration Europas und dem Euro sind seine Arbeitsschwerpunkte Geld- und Kredittheorie, Geschichte und Kritik der Politischen Ökonomie sowie Gesellschafts- und Kapitalismuskritik.

Ideologischer Imperalismus

Kalter Krieg herrschte auch an den Hochschulen. Theorien, die einen unabhängigen Weg von der US-amerikanischen Entwicklungspolitik und der US-Dominanz formulierten, waren nicht gern gesehen. Vor allem in Lateinamerika, wo US-Konzerne viele Millionen US-Dollar investiert hatten. Die »offenen Adern Lateinamerikas« sollten nicht versiegen. Das gleichnamige Buch von Eduardo Galeano machte 1971 einem Massenpublikum deutlich, dass die Ausbeutung Südamerikas den Reichtum der USA und Europas begründete. Vertreter der Dependenztheorie wollten diesen ökonomischen Prozess stoppen und waren nicht nur in Chiles Universitäten verankert. Nachdem in Bolivien, Brasilien (1964) und Argentinien (1966) Militärdiktaturen errichtet wurden, waren jedoch viele Intellektuelle im Exil und organisierten sich u.a. in der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL), die ihren Sitz in Chile hatte.

Die heterodoxen Ansätze gingen – bei allen Differenzen – davon aus, dass der Markt, vor allem der Weltmarkt, nicht zum Gleichgewicht tendiert und vielmehr Ungleichheit (zwischen Zentrum und Peripherie) reproduziert. Deshalb sollte der Staat den Marktkräften entgegenwirken. Ähnlich sah das der damalige Keynesianismus, der, trotz neoklassischem Kern, auch davon ausging, dass Märkte zu einem Ungleichgewicht führen, vor allem der Arbeitsmarkt. Der Staat stehe deshalb in der Verantwortung einzugreifen. Im Rahmen diverser liberaler Ökonomietheorien (Neoklassik, österreichische Schule) kommt dem Staat hingegen eine destabilisierende Rolle zu. Zwar war diese Vorstellung nach der großen Krise von 1929ff. diskreditiert, nach 1945 aber langsam wieder in der Offensive, nachdem sie in der von Hayek mitbegründeten Mont Pèlerin Society gleichsam »überwinterte«. 5 Bernhard Walpen: Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont Pèlerin Society, Hamburg 2004.

Bereits vor dem Putsch in Chile wurde das Land zu einem Labor von »intellektuellem Imperialismus«. Etwa für den Dekan der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Chicago, Theodore W. Schultz (Nobelpreis 1979). Mit Blick auf die Ausbildung nicht-neoklassischer Ökonomen unterstrich er, dass man »die Haltung dieser Männer verändern, Einfluss auf ihre Ausbildung nehmen [müsse], die sehr schlecht ist.« 6 Zit. n. Naomi Klein: Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus, Frankfurt/M. 2007, S. 110.  Der Einfluss auf die ökonomische Ausbildung chilenischer Studenten wurde im Rahmen eines Austauschprogramms mit den USA organisiert, das offiziell 1956 gestartet wurde. Zwischen 1957 und 1970 erwarben 100 Studierende einen Abschluss in Chicago, also an der Universität, an der u. a. Friedman und Hayek wirkten. Zentrale Figur für den »ideologischen Transfer« war Arnold Harberger, verheiratet mit einer Chilenin, fließend Spanisch sprechend und: Wirtschaftsprofessor an der Universität von Chicago. 7 Juan Gabriel Valdés: Pinochet’s Economists. The Chicago School of Economics in Chile, Cambridge 1995. 1965 wurde das Programm, das u. a. durch den Vorläufer von USAID, der staatlichen Entwicklungshilfeorganisation International Cooperation Administration, sowie die private Ford-Stiftung finanziert wurde, schließlich auf weitere Länder in Lateinamerika ausgedehnt.

Aber die Kooperation in Chile gestaltete sich nicht unbedingt leicht, schließlich wollte die wichtigste Universität, die Universidad de Chile, mitbestimmen, mit welchen Universitäten und mit welchen Lehrstühlen das Programm aufgesetzt werden sollte – die Universität von Chicago gehörte nicht zu ihren Favoriten. 8 Karin Fischer: The Influence of Neoliberals in Chile before, during, and after Pinochet, in: The Road from Mont Pèlerin. The Making of the Neoliberal Thought Collective, hrsg. von Philip Mirowski und Dieter Plehwe, Cambridge/London 2009, S. 305–346..  Die US-amerikanischen Protagonisten wollten sich darauf nicht einlassen und entschieden sich deshalb für die willige, aber weit weniger bedeutende Universidad Católica de Chile. Dort war das Programm auch erfolgreich. 1963 waren bereits 12 der 13 Vollzeitfakultätsmitglieder an der katholischen Universität Graduierte der Universität von Chicago.

1968 gründete der Bankier und Eigentümer der rechten Zeitung El Mercurio, Agustín Edwards Eastman, den ersten Thinktank, das Zentrum für soziale und ökonomische Studien (CESEC). Dort wurde auch wenige Jahre später das Wirtschaftsprogramm des rechten Kandidaten Jorge Alessandri für die Wahlen 1970 geschrieben und die Herstellung eines »Putschklimas« mitorganisiert. Aber: Hätte es keinen Putsch gegeben, wäre der Versuch der ideologischen Kriegsführung eine Pleite gewesen. Denn Chile bewegte sich nach links – trotz des ideologischen Imperialismus und der massiven Einmischung des CIA in die politische Meinungsbildung, etwa indem sie die Zeitung El Mercurio massiv unterstützte. 1970 feierte Allendes Unidad Popular einen bedeutenden Wahlsieg. Die sogenannten Chicago Boys waren unbedeutend und marginalisiert. Erst mit dem politischen Aufstieg der sogenannten Gremialistas gewannen sie an Bedeutung, einer neuen rechten Bewegung, die Allende auf dem politischen Feld die Stirn bieten wollte – aus ihren Reihen trat 1970 Jorge Alessandri gegen ihn an. Weiter von Bedeutung war der sogenannte Montagsclub, wo das Bündnis aus Chicago Boys, Gremialistas und Unternehmen geschmiedet wurde. Der Club traf sich in den Räumen von El Mercurio, wo neben dem »Putschklima« 1970 auch am »El ladrillo« (Der Backstein) gearbeitet wurde, eine neoliberale Programmschrift mit 500 Seiten Umfang, das ab 1975 als Blaupause für viele Reformen dienen sollte.

Der Putsch

Der Putsch vom 11. September 1973 war wesentlich Militärangelegenheit. Vorangegangen war eine Phase der Eskalation. Gewalt von faschistischen Gruppierungen, der CIA, Unternehmensverbände und Zeitungen sorgten für Chaos und einem Ruf nach einer ordnenden starken Hand – dem Militär. Auch Harberger sprach im Vorfeld von einer möglichen militärischen Machtübernahme. Die »Wirtschaftspolitik« des Militärs war jedoch zunächst ein reiner Klassenkrieg: die Gewerkschaften wurden zerschlagen, soziale und linke Opposition politisch und physisch liquidiert. Dies war die politische Voraussetzung dafür, dass das neoliberale Projekt überhaupt etabliert werden konnte. Keine der »›gleichgewichtsfördernden‹, ›normalisierenden‹ und ›entpolitisierenden‹ Maßnahmen (war) ohne militärische Gewalt und politischen Terror« möglich, so André Gunder Frank, 9 André Gunder Frank: Ökonomischer Völkermord in Chile Offene Briefe an den Nobelpreisträger Milton Friedman, hrsg. v. Aktion Dritte Welt, Freiburg [Breisgau], 1978, S. 34.  Mitbegründer der Dependenztheorie, der in den USA ein Einreiseverbot hatte und zuvor selbst nach Chile ans CEPAL geflohen war.

Neben der sozialen und politischen Opposition gab es noch einen weiteren »widerständigen« Faktor: die politische Kultur. Das katholisch geprägte Chile – und selbst das rechte Lager – zeichnete sich u.a. durch Paternalismus und Korporatismus aus, was der neoliberalen Ideologie eher widerspricht. Allerdings gehörten auch Formen der Selbstorganisation (was auch auf die katholische Idee der Subsidiarität zurückgeht) und der damit verbundenen Staatsskepsis dazu, die mit der neoliberalen Ideologie besser vereinbar sind. Letztere Momente mussten sich im Rahmen des neoliberalen Projekts aber erst gegen die anderen durchsetzen – auch innerhalb der herrschenden Klasse. Und sogar in der Militärführung gab es durchaus Kräfte, die traditionelle Fassetten der politischen Kultur in Chile repräsentierten, welche mit dem neoliberalen Programm aber nicht vereinbar waren. So war der General der Navy Gustavo Leigh für Staatseinmischungen und gegen einen neoliberalen Kurs – er wurde deshalb als »Keynesianer« bezeichnet. Nach einigen Differenzen schied er 1978 aus der Militärführung aus. Mit der Militärdiktatur zog deshalb nicht unmittelbar ein neoliberaler Geist ein; bereits ab 1973 waren divergente Militärs Repressionen ausgesetzt.

Nachdem die wirtschaftliche Entwicklung bis 1975 stagnierte, brachte Hernán Cubillos, Geschäftsleiter der Tageszeitung El Mercurio, das Zentralorgan der chilenischen Großbourgeoisie, Augusto Pinochet mit den Chicago Boys zusammen. Während einer 6-tägigen Tour im März 1975 machten u.a. Harberger und Milton Friedman Werbung für ein neoliberales Projekt in Chile. Damit wurde die Bedeutungslosigkeit der Chicago Boys endlich durchbrochen und die ideologischen Krieger betraten das politische Feld. Während dieser Tage sprach Friedman auch persönlich bei Pinochet vor und schrieb ihm anschließend einen Brief. Der Nobelpreisträger von 1976 empfahl eine radikale Schocktherapie mit der Reduzierung von Staatsausgaben um 25 Prozent in 6 Monaten, vor allem im Gesundheitswesen. Damit sollte eine Beschränkung der Geldmenge sowie eine Währungsreform einhergehen. 

Pinochet zeigte sich überzeugt. Die Machtverhältnisse innerhalb der Militärclique und der Industrie hatten sich zugunsten einer radikal-neoliberalen Strategie verschoben. »Der Backstein« konnte aus der Schublade geholt werden. Mit der eingeschlagenen monetaristisch-neoliberalen Schocktherapie schieden jedoch auch die Christdemokraten, die den konservativ-christlichen Flügel repräsentierten, aus der Regierung aus. Noch im März 1975 wurde die im Juli 1974 ausgerufene moderne, gemischte Ökonomie für beendet erklärt und das neoliberale »Stabilisierungsprogramm« ausgerufen. Unter »Superminister« Jorges Causas wurden Teile der Chicago Boys zu Ministern oder Staatssekretären ernannt (Sergio de Castro, Pablo Baraona, Alvaro Bardón, Rolf Luders, Miguel Kast); weniger bekannte Ökonomen bekamen Verantwortung in der Zentralbank oder kamen in wichtigen Unternehmen unter.

500 Betriebe wurden privatisiert oder staatliche Beteiligungen abgestoßen. Eine Ausnahme gab es allerdings: Die staatliche Kupfermine Codelco. Sie blieb staatlich und sorgte selbst in Krisenzeiten für 85 Prozent der Exporteinkünfte. Die durchschnittlichen Einfuhrzölle wurden hingegen von 92 auf 10 Prozent gesenkt; die Zolltarife reduziert und alle Einfuhrbeschränkungen beseitigt. Zwischen 1973 und 1979 gingen die Staatsausgaben von 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf 26 Prozent zurück. Der Finanzmarkt wurde dereguliert, Preiskontrollen aufgehoben und Löhne gedeckelt – bei einer Inflation von über 300 Prozent führte das zu einer Explosion der Lebenshaltungskosten, weshalb ein Großteil der Lohnabhängigen in kürzester Zeit in die Armut stürzte. Die Staatsausgaben wurden um 27 Prozent gekürzt und bis 1980 nochmals derart zusammengestrichen, dass sie nur noch 50 Prozent des Niveaus unter Allende hatten. Die Gesamtzahl der Staatsbediensteten sank zwischen 1974 und 1978 um fast 20 Prozent.

Für die sogenannten sieben Modernisierungen war die zentrale Figur José Piñera, der von einer »entscheidenden Etappe in dieser wirklich stillen Revolution« sprach. Zentrale Felder waren die Arbeitspolitik (Plan Labor ab Juni 1979), die soziale Sicherheit, Erziehung, Gesundheit, regionale Dezentralisierung, Landwirtschaft und Justiz. Vor allem die Privatisierung der Rente gilt als neoliberale »Pionierleistung«. Chile war das erste Land, das von einem Umlagesystem auf ein kapitalgedecktes System umgestellt hat. José Piñera, der Architekt der Reform, kolportiert gerne, dass er bei der Lektüre von Friedmans »Kapitalismus und Freiheit« auf die Idee kam, auch die Altersvorsorge den Finanzmärkten in die Hände zu legen.

Die Institutionalisierung des Neoliberalismus

Im September 1979, sechs Jahre nach dem Putsch, erklärte Pinochet die »Reformen« für abgeschlossen. Allerdings ist das nur die halbe Wahrheit. Ein Projekt, das bis heute Gegenstand politischer Auseinandersetzungen bleibt, ist die Einführung einer neuen Verfassung. Die monetaristische Gangart, unter der Führung der Chicago Boys, herrschte bis 1978. Danach setzte eine andere Form der neoliberalen Modernisierung ein, die bis heute nachwirkt und nicht auf Chicago, sondern auf Theorien, die von der Universität Virgina geprägt wurden. Dort entstand die sogenannte Public-Choice-Theorie, für die das »Staatsversagen« im Mittelpunkt des Interesses steht. Die Ökonomen James Buchanan, Gordan Tullock 10 Auf ihn geht die Selbstbezeichnung »ökonomischen Imperialismus« zurück; vgl. Gordon Tullock: Economic Imperialism, in: Theory of Public Choice. Political Applications of Economics, hrsg. v. James M. Buchanan/Robert D. Tollison, Ann Arbor 1972, S. 317–329. und Karl Brunner hatten eine radikale Ökonomisierung der Politik vor Augen. Vor allem Jaime Guzmán, Führer der Gremialistas-Bewegung, drängte auf die neue Verfassung, »La Constitución de la Libertad«, die er an Hayeks Buch »Die Verfassung der Freiheit« von 1960 anlehnte. Der Neoliberalismus bekam damit Verfassungsrang. So herrschte ab 1980 ein »neoliberaler Konstitutionalismus« 11 Eine Begriff, den Stephen Gill für die EU mit der Einführung des Euro in die Debatte brachte: European Governance and New Constitutionalism. Economic and Monetary Union and Alternatives to Disciplinary Neoliberalism in Europe, in: New Political Economy 3/1998, S. 5–26. in Chile. Diese Verfassung gilt noch immer, und der jüngste Versuch, eine neue zu erarbeiten und diejenige der Militärdiktatur zu ersetzen, ist im ersten Anlauf gescheitert. 12 Jakob Graf erörtert die Gründe für den Aufstieg der Linken in Chile sowie die Ursachen ihrer jüngeren Rückschläge: Erneuerung durch Protest. Erfolge und Rückschläge der Linken in Chile, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 4/2022, S. 649–668, https://doi.org/10.32387/prokla.v52i209.2017. Hierzu auch die Dokumentation von Carola Fuentes und Rafael Valdeavellano von 2022: https://www.arte.tv/de/videos/101910-000-A/chile-das-volk-gegen-die-chicago-boys/.

Friedrich August von Hayek äußerte sich anlässlich der 1981 in Chile stattfindenden Tagung der Mont Pèlerin Society gegenüber der Zeitung El Mercurio wie folgt über die Diktatur Pinochets und den Grundgedanken der neuen Verfassung: 13 Zit. n. Dieter Plehwe/Bernhard Walpen: Wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Produktionsweisen im Neoliberalismus. Beiträge der Mont Pèlerin Society und marktradikaler Think Tanks zur Hegemoniegewinnung und -erhaltung, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft PROKLA 2/1999, S. 203–235, hier: S. 230, https://doi.org/10.32387/prokla.v29i115.813.

Eine freie Gesellschaft benötigt eine bestimmte Moral, die sich letztlich auf die Erhaltung des Lebens beschränkt: nicht auf die Erhaltung allen Lebens, denn es könnte notwendig werden, das eine oder andere individuelle Leben zu opfern zugunsten der Rettung einer größeren Anzahl anderen Lebens. Die einzig gültigen moralischen Maßstäbe für die ›Kalkulation des Lebens‹ können daher nur sein: das Privateigentum und der Vertrag.

»Hegemonietheoretisch betrachtet«, so die Autoren Plehwe und Walpen, »lancierten die Staatsapparate unter Pinochet eine weitreichende Attacke gegen die Arbeiterbewegung und die anderen in der Zivilgesellschaft organisierten Kräfte der Opposition. Es handelte sich um eine langandauernde, konzertierte Zersetzung und Transformation der Zivilgesellschaft, die in Chile sehr stark und vor allem links gewesen war. Neben direkter Repression wurden dazu auch indirekte, aber langfristig sehr effektive Wege der Veränderung gesellschaftlicher Institutionen bestritten. Die Einschränkung gewerkschaftlicher Organisationsrechte und der Tarifautonomie gehörte ebenso zu den grundlegenden Vorstellungen des neoliberalen Ordnungsmodells wie die Auflösung wohlfahrtsstaatlicher Sicherungssysteme. In äußerst autoritärer Form wurden ›Wettbewerbskonzepte‹ gegen gesellschaftliche Solidaritätspraxen durchgesetzt.« 14 Zit. n. Bernhard Walpen/Dieter Plehwe: »Wahrheitsgetreue Berichte über Chile« – Die Mont Pelerin Society und die Diktatur Pinochet, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 16/2001, S. 42–70, hier: S. 59

Dass die Diktatur in der liberalen Tradition als notwendiges Übel und »permanente Option« eingeschrieben ist, wenn Privateigentum und Vertragsfreiheit – und damit das »Recht auf Profit« – in Gefahr zu sein scheint, zeigt Ishay Landa in seiner instruktiven Studie »Der Lehrling und sein Meister«. 15 Ishay Landa: Der Lehrling und sein Meister. Liberale Tradition und Faschismus, Berlin 2021.  Demzufolge ist Chile keine Ausnahme, sondern Ausdruck der Potenzialität. Kein Sündenfall, wie Rainer Hank in der FAS meint, sondern »gehört zur liberalen DNA«. 16 Ebd., S. 245.  1981 gibt Hayek zu Protokoll: 17 Zit. n. ebd., S. 245.

Manchmal ist es für ein Land notwendig, für eine gewisse Zeit auf eine Form der diktatorischen Macht zurückzugreifen. Wie Sie verstehen werden, ist es für einen Diktator möglich, liberal zu regieren. Und ebenso ist es für eine Demokratie möglich, ohne jeden Liberalismus zu regieren. Ich persönlich ziehe einen liberalen Diktator einer demokratischen Regierung ohne Liberalismus vor. Mein persönlicher Eindruck – das gilt für Südamerika – ist, dass wir beispielsweise in Chile den Übergang von einer Diktatur zu einer liberalen Regierung erleben werden. Während dieses Übergangs werden bestimmte Instrumente der Diktatur aufrechterhalten bleiben müssen; nicht als etwas Dauerhaftes, sondern als vorübergehende Regelung.

Friedman unterstreicht selbst 20 Jahre später, in seinem neuen Vorwort zur Jubiläumsausgabe von »Kapitalismus und Freiheit«: 18 Milton Friedman: Capitalism and Freedom, Chicago 2002, S. ix.

Während die wirtschaftliche Freiheit eine notwendige Voraussetzung für die bürgerliche und politische Freiheit ist, ist die politische Freiheit, so wünschenswert sie auch sein mag, keine notwendige Voraussetzung für die wirtschaftliche und bürgerliche Freiheit.

Hayek und Friedman sind hier Erbe der klassisch liberalen Tradition, so Landa, »die die kapitalistische Diktatur ziemlich konsequent nicht nur einer antikapitalistischen Diktatur, sondern auch einer antikapitalistischen Demokratievorzog. Diese Haltung hat dementsprechend sehr wenig mit der liberalen Verteidigung der ›Rechtsordnung‹ gegenüber revolutionären Gesetzesbrechern zu tun. Das Gegenteil ist der Fall: Die Rechtsordnung wird strikt als Verteidigung des Liberalismus definiert, und sobald sie diese Funktion aufgibt, wird sie automatisch null und nichtig.« 19 Landa: Lehrling und sein Meister, S. 245.

Während Mises, Hayek und andere zu Zeiten des Kalten Krieges noch auf den Staatssozialismus der Sowjetunion zeigten, flackert für manche liberalen Fahnenträger heute die Gefahr bereits bei »zu viel« Demokratie auf, etwa für Rainer Hank in der FAS: 20 Hank: Sündenfall der Neoliberalen.

Es ist der historische Irrtum der ›neoliberalen‹ Ökonomen – oder soll man von Schuld sprechen? –, aus berechtigter Sorge vor dem Umschlag eines demokratischen Regimes in den Totalitarismus blind gewesen zu sein gegenüber diktatorischen Unrechtsstaaten wie Chile oder Portugal. Das ändert indes nichts daran, dass der Auftrag, die Demokratie rechtsstaatlich einzuhegen, heute wieder höchst aktuell ist. Eine Verabsolutierung der Demokratie wird die Freiheit abschaffen.

In Chile wurde ein Klassen- und tief greifender gesellschaftlicher Konflikt militärisch gelöst – mit kriegerischen Mitteln. Aus einer politischen Krise wurde eine Staatskrise: Das Militär richtete sich gegen die demokratisch gewählte Regierung. Zwar ging dem Putsch eine ökonomische Krise voran. Sie war aber vonseiten des Kapitals und politischen Kräften mitinitiiert worden. Der Putsch kann »bonapartistisch« gedeutet werden: Aufgrund eines Klassengleichgewichts war die Bourgeoisie bereit, die politische Macht zugunsten einer autoritären Ordnung aufzugeben, um ihre soziale Macht zu erhalten. 21 Zum marxschen Konzept »Bonapartismus« und einigen aktuellen Länderanalysen vgl. Martin Beck/Ingo Stützle: Die neuen Bonapartisten. Mit Marx den Aufstieg von Trump & Co. Verstehen, Berlin 2018.  Ideologisch artikulierten sich diese Widersprüche als Angriff liberaler Ökonomietheorien auf alles, was dem Staat eine gestaltende ökonomische Rolle zusprach, auf Politik, die die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zugunsten der arbeitenden Klassen verschob – und damit auf die Demokratie. 22 Dass Marktradikale den Traum vom »Kapitalismus ohne Demokratie« noch immer nicht ausgeträumt haben und wie er gegenwärtig ganz ohne Militärdiktatur praktiziert wird, zeigt Quinn Slobodian in seinem gleichnamigen Buch (Berlin 2023), das die Tage auf Deutsch erscheint. Die sogenannten Chicago Boys waren verantwortlich dafür, nach der Konsolidierung der politischen Macht, der Restauration der Klassenmacht des Kapitals, die »stumme Gewalt der ökonomischen Verhältnisse« einzusetzen – mit Verfassungsrang. Zum politischen Terror gesellte sich von nun an die ökonomische Disziplin.