Die Idee des Staates und die Freiheit 

Wem bin ich verpflichtet? Mir selbst oder dem Staat? Die Umwälzungen der geopolitischen Weltlage erzwingen wieder eine öffentliche Auseinandersetzung mit dieser Frage. Im dritten Teil seiner Kolumne zeigt Daniel-Pascal Zorn, warum der wehrhafte Bürger sich nicht zum Untertan macht, sobald er freiwillig einen Staat verteidigt, der historisch zwar oft genug instrumentalisiert wurde, aber dessen Aufrechterhaltung Bedingung jedes künftigen Fortschritts ist.

Die veränderte geopolitische Lage, in der sich die USA zunehmend als Systemgegner der europäischen Staaten in Stellung bringen, hat eine alte bundesrepublikanische Debattenlage wieder zum Vorschein gebracht: die Diskussion um Wehrdienstverweigerung und Pazifismus in Zeiten, in denen beides innen- und außenpolitisch unter Druck gerät. Anders aber, als es die vor allem von links geführten Meinungen und Argumente suggerieren, kann diese Debatte nicht einfach unterschiedslos aus der Ideengeschichte zusammengeklaubte Begriffe voraussetzen, damit sie sinnvoll wird. 

Die Bedrohung der Ukraine durch Russland und die – auch durch das Verhalten der USA ermöglichte – konsekutive mögliche Bedrohung der NATO-Staaten durch eine von Russland geführte Koalition erzwingt schon ihrer Sachlogik nach einen Vergleich der Staatsmodelle: autoritärer Aggressor dort, demokratisch-republikanischer Verteidiger hier. Allerdings machen es sich manche linke Beiträger zu einfach, wenn sie im Zirkel von der prinzipiellen Gleichartigkeit der Staatsmodelle ausgehen, um so schon per Prämisse den wesentlichen Grund zum Verschwinden zu bringen, für den eigenen Staat zu kämpfen. 

Neben dieser grundsätzlichen logischen Schwierigkeit ist diese einschlägige Debattenposition aber auch deswegen zu kurz gesprungen, weil ihre geschichtsphilosophische Verzeichnung des Staatsbegriffes diesen Linken eine – gerade für ihre Perspektive – ganz wesentliche Einsicht verdeckt: Sie sind historisch selbst Teil desjenigen politischen Liberalismus, der gegen einen älteren, autokratischen Wirtschaftsliberalismus angetreten ist. Damit ist dieser Konflikt die vernachlässigte Bedingung in ihrer Argumentation. 

Anachronismus und Polemik

Das von vielen Linken gemalte, vulgärmarxistische Bild von der Entgegensetzung ›Staat – Untertan‹ und dem Staat als Büttel einer überhistorischen finanzstarken Elite ist eine ahistorische Illusion. Vermengt werden in diesem Bild gleich mehrere Staatsentwürfe. Aus deren Konflikt aber lässt sich die gegenwärtige Lage verstehen. Schon eine grobe historische Einteilung macht das deutlich:

Der spätmittelalterliche Ständestaat, der seine Herrschaft auf verschiedene Instanzen verteilte, war auf eine einheitliche christliche Religion zugeschnitten. Mit der Reformation und der auf sie folgenden Trennung der Reichsstände in protestantische und katholische wurde das Konfliktpotenzial geschaffen, das sich dann im  30-Jährigen Krieg verwirklichte. Der Religionskrieg verband sich mit den Interessen verschiedener europäischer Machthaber und schuf neue, vor allem autokratische Herrschaftskonzepte, etwa in der älteren Figur des Condottiere, die zum autokratischen Warlord aufstieg 1 Münkler

Die Vordergründigkeit des Religionskonfliktes und seine beispiellose Grausamkeit machten seine Vermeidung als Rechtfertigung einer neuen Staatsidee plausibel, die das 19. Jahrhundert in der Rückschau ›absolutistisch‹, ›Absolutismus‹ nennt, obwohl das eine Einheit suggeriert, die es nie gab. In dieser Staatsidee wird die Herrschaft auf den Souverän konzentriert, dem die Untertanen Gehorsam leisten und der sie dafür befriedet und schützt. 

Daniel-Pascal Zorn

Daniel-Pascal Zorn ist promovierter Philosoph, Historiker und Literaturwissenschaftler. Er ist Autor beim Klett-Cotta-Verlag. Dort erschienen sind »Logik für Demokraten«, »mit Rechten reden« und »Das Geheimnis der Gewalt«. Im März 2022 ist sein Buch »Die Krise des Absoluten« erschienen.

Das ist, im Grunde, die Staatsidee, die bei extremeren Linken und Rechten gemeint ist, wenn ›der Staat‹ gesagt wird: Für die Rechten ist er, ganz der Rhetorik der Gegenrevolution im 19. Jahrhundert folgend, das starke Ideal, von dem die moderne Demokratie, wenn überhaupt, nur der schwache Abklatsch ist. Für die Linken, vor allem die des späteren 20. Jahrhunderts, ist dieser absolutistische Staat, der im 16. Jahrhundert entworfen und Mitte des 17. Jahrhunderts in verschiedenen Graden verwirklicht wurde, die Blaupause für alles Folgende, insbesondere für den modernen republikanisch-demokratischen Verfassungsstaat. 

Das ist freilich seltsam anachronistisch. Denn dieser absolutistische Staat ist identisch mit dem ›Ancien régime‹, gegen das sich die bürgerlichen Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts richten – ›Linke‹ und ›Rechte‹, als bürgerliche politische Bewegungen, setzen die Verabschiedung dieses älteren Staatsmodells voraus; sie definieren sich geradewegs durch die Negation dieses Modells seit der Französischen Revolution. Beide verwechseln zeitgenössische Polemiken mit der historischen Situation – mit gravierenden Folgen für eine realistische Einschätzung auch der gegenwärtigen Situation. 

Im absolutistischen Staat stehen sich nämlich verschiedene Fraktionen gegenüber. Der souveräne Herrscher ist, in all seiner Machtfülle, durch Sachzwänge gebunden und der öffentlichen Beurteilung ausgesetzt. Er muss sich zudem des Adels erwehren, der an die Macht drängt, und stärkt daher zunächst das unternehmerische Bürgertum als Opposition des Adels. Als dieses Bürgertum zu stark wird und selbstbewusst auf politische Teilhabe besteht, schließen die Herrscher Bündnisse mit dem Adel gegen das Bürgertum (etwa in Preußen nach 1820). Etwas später werden sich Herrscher, Adel und Bürgertum gegen die mobilisierten Arbeiter verbünden, die seit Mitte des 17. Jahrhunderts, also schon im alten Polizeistaat, als bevölkerungspolitische Größe, als vernutzbare Ressource gedacht werden. 

Die Technokratie der Effizienz

Ihren Anachronismus könnte die Linke dort erkennen, wo sie – richtigerweise – das Ergebnis einer wesentlichen Verschiebung beschreibt, die exakt den gerade skizzierten Zeitraum von 1750 bis 1850 betrifft: den Staat, aber als Mittel ökonomischer Interessen einer finanzstarken Elite. Was die Linke sieht, ist das Ergebnis – was sie übersieht: wie diese Verschiebung  zustande kommt. 

Der vulgären Ideologiekritik und – wie gesagt – einem vulgären Marxverständnis folgend, ist aus Sicht der Linken das Verhältnis immer gleich, eine überhistorische Konstante, die es zu überwinden gilt: ökonomische Interessen als Motivation, Absicht, Ideologie – und staatliche Gewalt als Mittel zu ihrer Durchsetzung. Der Staat, so die Vorstellung, ist nur die Exekutive unterdrückerischer Interessen, die über ganze Weltalter hinweg ganze Völker unterjocht hat. Das ist nicht ganz falsch, aber es macht eine perspektivische Beschreibung zu einer Geschichtsphilosophie, die vielleicht zur Mobilisierung dient, aber die historische Situation in wesentlichen Punkten ignoriert.

Diese wesentlichen Punkte liegen in der Entstehung dieses Verhältnisses, ausgehend von einer Kombination aus philosophischen Ideen und realen gesellschaftlichen Problemlagen, die sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nach und nach zu einer Regierungstechnik integrieren. Diese Regierungstechnik wird gerechtfertigt durch einen Naturalismus, eine – im Ursprung – scholastische Metaphysik des Naturzustands und Naturrechts, die sich zugleich mit der Idee des Gesellschaftsvertrags entwickelt und ihm als Konzept diametral gegenübertritt.

Da ist zunächst einmal die Rede von ›Interessen‹ als sozialem Naturgesetz, also einer Gesellschaft von nutzenmaximierenden Individuen. Diese These hat ihren Ursprung bei den französischen Materialisten (Helvetius), die damit den Grundstein für die utilitaristische Neufassung des alten scholastischen Naturrechts liefern: Der Naturzustand, das ist der freie Markt der eigennützigen Interessen. Dieser neue, völlig säkulare Naturalismus wird als Versprechen von Effizienz und Rationalität zur Grundlage der wirtschaftsliberalen Regierungstechnik. Wichtiger jedoch: Er steht in direktem Widerspruch zur Idee des Gesellschaftsvertrags, der Vertragsidee der Verfassungen moderner Staaten. 2 Vgl. dazu und im Folgenden Vogl 2012, 47  

Der Gesellschaftsvertrag wird von seinen Theoretikern als bewusste Negation des Naturzustandes gedacht, der dort entsprechend als Zustand der Barbarei (Hobbes), bloß formaler göttlicher Gesetzmäßigkeit (Locke) oder als immer schon verlassenes Paradies (Rousseau) gefasst wird: Der Gesellschaftsvertrag sichert die Ordnung, die entweder immer schon verlassen ist oder durch ihn erst hergestellt wird. Der zeitgleich erdachte utilitaristische Naturzustand ist wiederum die perfekte Ordnung des Marktes, die durch jede Staatlichkeit immer schon verlassen ist. Wo also der moderne Gesellschaftsvertrag als Verfassung den Naturzustand als metaphysische Fiktion versteht, aus deren Negation der Staat hervorgeht, tritt die ökonomische Ordnung im utilitaristischen Naturzustand als diese Metaphysik dem Staat gegenüber. 

Die Idee eines marktförmigen Naturzustandes und seine naturalistische Anthropologie des nutzenmaximierenden Individuums verbindet sich in der Folge mit anderen Theoremen: mit der These der französischen Physiokraten etwa, dass der Markt seine eigenen, naturgesetzlichen Kausalketten hervorbringt, die es zu beachten gilt. Plausibilisiert wird diese Vorstellung durch die – in England seit 1694 – schrittweise Auslagerung der ökonomischen Funktion aus dem Hoheitsgebiet des Souveräns in eigene und eigengesetzliche ökonomische Institutionen: die Nationalbank oder Pseudostaatswesen in Übersee-Handelsgesellschaften. 

Es ist teils die Finanznot der absolutistischen Herrscher (Hof und Kriegsführung), teils der typisch merkantilistische Schutz der eigenen nationalen Ökonomien vor fremden Einflüssen, die diese Entwicklung weiter anheizen. Staatspleiten wegen verlorener Kriege (der  Siebenjährige Krieg etwa) verstärken die Dynamik und mit ihr die Not der europäischen Herrscher. In dieser Zeit treten die ersten Ökonomen als Politikberater auf. Sie empfehlen eine Umstellung des Systems: auf Freihandel, die radikale Freistellung der ökonomischen Funktionen. Der frühneuzeitliche Staat könne, argumentieren sie, Macht und nationale Ökonomie viel effizienter mit der neuen Regierungstechnik verteidigen. Der Streit mit anderen Staaten sei kein Nullsummenspiel – wenn zwei sich streiten, könnten beide auf ihre Weise gewinnen. 

Konjunkturen des Naturzustandes

Diese neue, gewissermaßen technokratische Effizienzlehre als Regierungstechnik macht sich den Staat zur Beute, noch bevor die ersten Unzufriedenen in Revolutionen auf die Barrikaden gehen. Sie bevorzugt das aufstrebende, unternehmerische Bürgertum auf Kosten von Herrschaft und Adel, aber sie braucht zugleich die Macht der Herrscher, um sich – übrigens stets von oben verordnet – durchzusetzen. Die neuen Unternehmer benötigen Arbeitskräfte, die an die Ländereien des Adels gebunden sind. Sie fordern Mobilisierung, die Auflösung der Zunft- und Ständeordnung, die dem Gewerbe Beschränkungen auferlegt, die Durchsetzung der Gewerbefreiheit. Für die Durchsetzung ihrer Forderungen braucht diese neue Unternehmerschicht das gesamte 19. Jahrhundert, weil sich Herrscher, Bürokratie und Adel zur Wehr setzen – und am Ende doch verlieren. 

Das ist die historische Situation, in der Marx ›den Staat‹ beschreibt: als Mittel zum Zweck einer technokratischen ökonomischen Ideologie. Die Beschreibung ist kritisch, sie versucht in den Begriffen der neuen Nationalökonomie die Entfremdung zu beschreiben, die den Machtinteressen des unternehmerischen Bürgertums dient. Aus der stellenweise schrankenlosen, an manchen Orten auch zögerlichen, Durchsetzung der Wirtschaftsfreiheit entsteht so die Idee der politischen Freiheit, der Emanzipation, des modernen Rechtsstaates und politischen Teilhabe. Sie ist die jüngere Idee, um 150 Jahre oder mehr jünger, die in den neu geschaffenen Freiheitsgraden auch politisch Potenzial für Fortschritt sieht. Freiheit, einmal als Maßstab etabliert, kritisiert stets ihre weniger konsequenten Vorstufen: Was der Wirtschaftsliberalismus etabliert, ist nur der alte Staat in neuem Gewand, so die zeitgenössische Polemik. 

Die wirtschaftsliberalen Maßnahmen sorgen am Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend für das Gegenteil dessen, was sie versprechen – die größeren Freiheitsgrade ermöglichen selbstbewusstere Willensäußerung, die soziale Frage ist auch nach einem halben Jahrhundert ungelöst, der internationale Finanzmarkt ist außer Kontrolle, der ungezügelte Liberalismus muss jede Befreiung mit mehreren Kontrollen umstellen, um sie effizient durchzusetzen. 

Am Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es daher – angetrieben auch durch den Ersten Weltkrieg – eine sozialliberale Konjunktur: relativer Wohlfahrtsstaat in England (gegen den Friedrich von Hayek anschreiben wird), Weimarer Republik in Deutschland. Dagegen verbünden sich alte und neue Kräfte: Konservative, Nationalliberale und neue Extremisten polemisieren gegen die Bedrohung des Sozialismus, Lenins und Stalins Russland ist ihnen ein willkommenes Negativbeispiel. Das Ergebnis der neuen Allianz ist bekanntlich der Zusammenbruch Europas, dem England nur knapp entkommt. Die USA werden zum Vorbild des Wiederaufbaus, denn die UdSSR gibt mit ihrer autoritären Durchsetzung des Gegenteils wirtschaftsliberaler Maßnahmen ein abschreckendes Beispiel.

Die BRD ist, in ihrer Gründungsidee ein Staat, der – wie seinerzeit die USA – am Reißbrett konzipiert wird und zwar unter Beachtung früherer Risiken. Ihr nominelles Vorbild ist die Weimarer Republik, nicht das Kaiserreich oder der französische Absolutismus. Ihre Staatsidee ist die einer demokratischen Republik, in der der Souverän das Volk ist, das aus teilhabenden Bürgern und nicht aus Untertanen besteht. Freilich: Wer der pubertären Utopie anhängt, er sei eigentlich selbst ein Atomstaat, ein Miniatursouverän von eigenen Gnaden und nur der eigenen Willkür verpflichtet, der wird – Libertärer oder Anarchist – auch in einem solchen Staatsentwurf nur Repression sehen. Das hat das Dogma der absoluten Freiheit so an sich: Es ist die ›Furie des Verschwindens‹ (Hegel), verschlingt jede Bedingung, am Ende auch sich selbst.

Die am wenigsten schlechte Option

Die grundsätzlichen Logiken des Staates seit der antiken Polis bleiben natürlich auch in der BRD erhalten: die Bürger verteidigen ihr Gemeinwesen. Deutschland gilt seit der Kaiserzeit, erst recht seit der NS-Zeit als militaristisch; die NATO ist auch dazu da, Deutschland einzuhegen. Die USA etablieren, mit viel Gewalt an der Peripherie, eine relative Friedensordnung in Europa, mit sich selbst als Hegemon. Wer in dieser Friedensordnung aufgewachsen ist, kann sie mit einer selbstverständlichen Voraussetzung verwechseln. 

Seit dem Krisenjahrzehnt der 1970er wurde die nach dem Krieg auf sozialliberal gedrehte Uhr wieder wirtschaftsliberal zurückgedreht. Einmal mehr bemächtigt sich der uralte Naturalismus des Staates, erobern wirtschaftsliberale Narrative und Regierungstechniken das politische System. Sie unterwerfen sich in den 1990ern das Sozial-, Gesundheits- und Bildungssystem und schaffen eine künstliche Nachfrage aus selbstgeschaffenen prekären Notlagen. Sie untergaben das parlamentarische System, indem sie ihm – auch europapolitisch – Alternativlosigkeit verordnen und interpretieren die liberale Fortschrittsidee als Indienstnahme der Zukunft zur Erhaltung der Gegenwart: das Ende der Geschichte. 

Was Linke wie Ole Nymoen, dieser in seinem neuen Buch »Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde«, am Status quo beschreiben, ist in dieser Hinsicht durchaus treffend: eine ungleiche, unsolidarische, von längst abgelegt geglaubten Ideologien zerrüttete Gesellschaft, geprägt von wirtschaftsliberalen Kontrollphantasien. Doch diese Gesellschaft und ihr Staat  sind – noch – keine frühneuzeitliche oder wirtschaftsliberal-oligarchische Autokratie. 

Richtig ist: Der viel älteren Regierungstechnik der Effizienz gegenüber verhält sich politischer Liberalismus und demokratischer Republikanismus als idealistischer Gegenspieler, der die geballte strukturelle und materielle Kraft und Macht wirtschaftsliberaler Techniken in Schach halten muss. Noch dazu ist dieser politische Liberalismus und Republikanismus auf den gleichen Fundamenten gebaut, enthält also stets den Keim seiner Zerstörung in sich selbst, was ihn zu rigoroser Selbstkritik verpflichtet. 

Gerade deswegen sind beide so leicht durch ahistorische, unsinnige Narrative, durch als Realismus maskierten Fatalismus, durch aufmerksamkeitsökonomische Demagogie im Internet-Zeitalter zu erschüttern: 

Der moderne Staat setzt darauf, dass er sich mit seinen Bürgern ideell und im konkreten Verteidigungsfall nicht als der bestmögliche Staatsentwurf, sondern als die am wenigsten schlechte Option verteidigen kann und muss. Seine Idee ist in jedem Moment umstellt, unter Druck, in der Kritik – und das gehört zu seinem konstitutiven Selbstverständnis dazu. Die republikanische Demokratie kann die Haltung, sie als Konzept zu verteidigen, ob im Argument oder mit der Waffe, in letzter Instanz nicht erzwingen, ohne selbstwidersprüchlich zu werden: das ist Böckenfördes Appell an sein katholisches Publikum – es braucht diejenigen, die pragmatisch das relativ Schlechtere und Bessere abwägen, anstatt es an Absolutheiten, Idealvorstellungen und Utopien zu messen. 

Die Voraussetzungen dafür sind anspruchsvoll: Man muss die Alternativen verstehen, ideell und materiell, die Geschichte dessen, was man da verteidigen soll – und man muss auf dieser Grundlage eine ethisch-pragmatische Haltung entwickeln, die sich im Krisenfall vor das am wenigsten Schlechte stellt und es gegen die stets schlechteren Alternativen verteidigt. Die Gewissensfrage, die durch den Staat prinzipiell nicht überspringbar ist, wenn dieser sich nicht selbst aufheben will, ist damit aber auch eine Frage der Bildung, des Ethos, der Mäßigung der eigenen Ansprüche – nicht aus Gehorsam, sondern aus Urteilskraft und Skepsis. 

Literatur

Conze, Werner / Meier, Christian / Bleicken, Jochen / Dipper, Christoph / Günther, Horst / Klippe, Diethelm: Art. „Freiheit“, in: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 425-542
Foucault, Michel: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, Berlin 52017
Foucault, Michel: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II, Frankfurt a. M. 2008
Kondylis, Panajotis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform, Berlin 32010
Kondylis, Panajotis: Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Berlin 2023
Kühl, Kristian: Art. „Naturrecht“, in: HWPh Bd. 6, Darmstadt 2019, Sp. 560-623
Schumpeter, Joseph A.: History of Economic Analysis, Abingdon 1994
Tilly, Richard H. (Hg.): Geschichte der Wirtschaftspolitik. Vom Merkantilismus zur Sozialen Marktwirtschaft, Wien 1993
Vogl, Joseph: Das Gespenst des Kapitals, Zürich 62012