Die Krise des demokratischen Kapitalismus

Wie konnte der fröhliche Optimismus von 1989 in den skeptischen Pessimismus unserer heutigen Zeit umschlagen? In seinem Beitrag argumentiert der US-Historiker Fritz Bartel, dass Finanzmärkte seit dem Kalten Krieg Regierungen unter Druck setzen, ihre Volkswirtschaften an die Anforderungen des globalen Markts anzupassen – und dadurch die Möglichkeit einer besseren Politik beschränken.

Irgendwann in der Vergangenheit ist der demokratische Kapitalismus entgleist, und seither rasen wir von einer Krise zur nächsten. Wann genau ist das passiert? Und warum? Die Antworten auf diese beiden Fragen sind meist miteinander verknüpft. Wer auf die letzten Jahre blickt, könnte sagen, dass das Leben nach 2020 nie mehr dasselbe war: COVID-19, die Lockdowns und die darauffolgende Inflation, der Sturm auf das Kapitol am 6. Januar in den USA, Russlands Invasion in die Ukraine, die anschließende Energiekrise in Europa und Trumps schockierende Rückkehr ins Weiße Haus – all das traf mitten ins Herz des demokratischen Kapitalismus, erschütterte unser Vertrauen in seine Stabilität und seine Legitimität.

Millennials, die um die Jahrtausendwende erwachsen wurden, würden stattdessen vielleicht auf das Jahr 2008 verweisen: Es sei in Wahrheit die globale Finanzkrise gewesen, würden sie sagen, die den Boden für die Austeritätspolitik in der Eurozone bereitete, den Aufstieg des Populismus im Westen und den revanchistischen Kurs Russlands und Chinas. Wieder andere würden 2001 und 2003 als die entscheidenden Wendepunkte benennen: Damals reagierten die Vereinigten Staaten auf die Terroranschläge des 11. September mit einem globalen Wutausbruch, der zur Invasion des Irak führte, zwei Jahrzehnte »Krieg gegen den Terror« einläutete und eine lange Reihe destabilisierender Erschütterungen auslöste, deren Folgen bis heute nachwirken.

Nur wenige würden auf das Jahr 1989 und das Ende des Kalten Krieges als Ursprung unserer heutigen Probleme verweisen. Der Kalte Krieg brachte die Welt an den Rand eines Nuklearkriegs und entfachte verheerende Gewalt im Globalen Süden, sein Ende verlief jedoch, zumindest auf den ersten Blick, erstaunlich friedlich. Entgegen allen Erwartungen begannen die Supermächte Mitte der 1980er Jahre das Risiko eines Atomkriegs durch mutige persönliche Diplomatie zu senken. Michail Gorbatschow ermöglichte den Ostblockstaaten ihr Schicksal in die Hand zu nehmen, worauf Menschenmassen im Ostblock auf die Straße gingen, um für ein Ende der autoritären Einparteienherrschaft zu demonstrieren. Als dann die Berliner Mauer 1989 fiel, war dies ein so überwältigendes Ereignis, dass Beobachter von einem annus mirabilis gesprochen haben, einem Wunderjahr. Im Gegensatz zu der zunehmenden Unordnung und Unmenschlichkeit in unserer heutigen Zeit wirkt das Ende des Kalten Krieges wie ein seltenes und viel zu kurzes Ereignis der Öffnung und Hoffnung.

Diese Sichtweise ist nicht falsch. Das friedliche Ende eines vierzigjährigen, von Atomwaffen bestimmten Konflikts zwischen zwei Supermächten war zweifellos ein welthistorisches Ereignis, das allen Grund zur Freude bot. Aber wenn wir nicht verstehen, wie es zu dieser erstaunlichen Wendung der Weltgeschichte kommen konnte – und warum diese Geschichte womöglich weniger Anlass zur Freude bietet, als es zunächst scheint –, dann können wir auch nicht begreifen, wie der frohe Optimismus von 1989 in den skeptischen Pessimismus unserer heutigen Zeit umschlagen konnte.

Fritz Bartel

Fritz Bartel ist Assistenzprofessor an der Bush School of Government and Public Service der Texas A&M University. 2025 erschien sein Buch »Gebrochene Versprechen« bei der Hamburger Edition (»The Triumph of Broken Promises«, Harvard University Press, 2022). Als Dissertation wurde sein Buch von der Society for Historians of American Foreign Relations 2018 mit dem Dissertationspreis ausgezeichnet.

Der Wettbewerb politischer Versprechen

Die zentrale Aufgabe von meinem Buch Gebrochene Versprechen besteht darin, die Geschichte dieses Umschlags zu erzählen. Das Buch beginnt damit, den Kalten Krieg neu zu definieren. Als der Konflikt in den 1940er Jahren begann, beteiligten sich sowohl die demokratisch-kapitalistischen als auch die staatssozialistischen Regierungen an dem, was ich die »Politik der Versprechen« nenne: Sie überboten sich gegenseitig darin, ihren Bevölkerungen ein besseres Leben zu versprechen – und dieses Versprechen einzulösen.

In der Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden Wohlfahrtsstaaten im Westen, die die wirtschaftlichen Erträge des Marktes umverteilten. Außerdem haben westliche Regierungen die Gewerkschaften gestärkt, damit die Arbeiterklasse gerecht am Wohlstand des industriellen Kapitalismus teilhaben konnte. Im Osten verkündete der sowjetische Führer Nikita Chruschtschow vor dem Hintergrund eines bemerkenswerten Wirtschaftswachstums und großer wissenschaftlicher Fortschritte in den 1950er Jahren, dass die Sowjetunion den Kommunismus – die höchste Entwicklungsstufe in der marxistisch-leninistischen Ideologie – im Jahre 1980 erreichen werde. Auf dem Weg dorthin, so versprach er, werde der Staat das Land durch eine gelenkte Industrialisierung modernisieren und allen Bürgerinnen und Bürgern einen sicheren Arbeitsplatz, Wohnraum, soziale Aufstiegschancen, reichlich Nahrungsmittel, hochwertige Bildung und eine gute Gesundheitsversorgung, längere Urlaube und kürzere Arbeitszeiten bieten.

Diese Versprechen bildeten das Fundament politischer Legitimität nach dem Zweiten Weltkrieg, und beide Seiten im Kalten Krieg begründeten ihren Anspruch auf Überlegenheit mit der Fähigkeit ihrer Regierungen, den Menschen ein gutes Leben im Zeichen der industriellen Moderne zu ermöglichen.

Die Wende

Die globalen ökonomischen Erschütterungen der 1970er-Jahre machten diese »Politik der Versprechen« jedoch unhaltbar. Als die Ölkrise von 1973 den Preis der weltweit wichtigsten Ressource vervierfachte und innerhalb weniger Monate die Finanzmärkte zur Finanzierung immer wichtiger wurden, verwandelte sich der Kalte Krieg – von einem Wettstreit um die Ausweitung des Gesellschaftsvertrags – in einen Wettstreit der ökonomischen Disziplinierung.

Energie- und Finanzmärkte setzten Regierungen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs massiv unter Druck, ihre Volkswirtschaften an die Anforderungen des globalen Marktes anzupassen. Anstatt weiterhin Versprechen zu geben, sahen sich die Regierungen gezwungen, ihre alten Versprechen zu brechen. Diese gebrochenen Versprechen nahmen viele Formen an: das Schließen unrentabler Staatsbetriebe, Massenentlassungen, die Einführung von monetärer und fiskalischer Austerität, die Liberalisierung von Handel und Kapitalströmen – und generell eine politische Neuausrichtung zugunsten des Kapitals und zulasten der Arbeit.

Nach 1973 wurde diese neue »Politik gebrochener Versprechen« zum zentralen Schlachtfeld des Kalten Krieges zwischen demokratischem Kapitalismus und Staatssozialismus. Die Einsätze in diesem neuen Kampf waren existenziell: Nur jene Regierungen, denen es gelang, ökonomische Disziplin durchzusetzen, ohne dabei eine destabilisierende soziale Gegenreaktion zu provozieren, konnten überleben. Die anderen würden zusammenbrechen.

Im Jahre 1989 brach dann der Ostblock zusammen. Seit den 1970er Jahren hatten die Ostblocksstaaten rund 90 Milliarden Dollar Schulden bei westlichen Banken und Regierungen angehäuft. Bis Ende der 1980er Jahre gerieten sie dadurch unter enormen Druck, im Inland Sparmaßnahmen durchzusetzen, um ihre Schulden bei westlichen Gläubigern zurückzuzahlen. Bereits gemachte Erfahrungen mit innenpolitischen Unruhen infolge von Preiserhöhungen – etwa für Lebensmittel – zeigten den staatssozialistischen Regierungen, dass ihre Bevölkerungen Austerität nicht widerspruchslos hinnehmen würden. So machten führende Politiker in Polen und Ungarn ab 1988 ein kühnes Angebot: Sie würden ihre politischen Systeme liberalisieren – unter der Bedingung, dass die Gesellschaft im Gegenzug die Sparmaßnahmen friedlich akzeptierte. Auf dieser Grundlage entstanden die Runden Tische von 1989.

Der Triumph gebrochener Versprechen

Das Ende des Kalten Krieges war somit ein Triumph gebrochener Versprechen – denn letztlich war es die Herausforderung, Austerität durchzusetzen, also Versprechen zu brechen, die den Konflikt beendete. Der demokratische Kapitalismus ging als Sieger aus dem Kalten Krieg hervor, weil er in der Lage war, Versprechen zu brechen und ökonomische Disziplin durchzusetzen. Der Staatssozialismus hingegen scheiterte, weil er dazu nicht imstande war.

Der Neoliberalismus hingegen erstarkte in der Spätphase des Kalten Krieges, weil seine marktorientierte, individualistische Ideologie den Regierungen ein Deutungsmuster an die Hand gab, ihre gebrochene Versprechen ideologisch zu rechtfertigen. »Es ist nicht der Staat, der eine stabile Gesellschaft erzeugt«, erklärte Margaret Thatcher 1980 den britischen Bürgerinnen und Bürgern. Vielmehr sei »eine große Nation« das Ergebnis »unzähliger mutiger Handlungen und persönlicher Eigenverantwortung«. In der Sprache der Neoliberalen ließ sich die Durchsetzung von Austerität als Befreiung des Individuums von einem ausschweifenden und übergriffigen Staat umdeuten. Und in Systemen mit parlamentarischer Demokratie konnten gebrochene Versprechen als legitimes Resultat demokratischer Entscheidungsprozesse und des Volkswillens dargestellt werden.

Oft jedoch war das nur Fassade. Regierungen, die nach den 1970er Jahren zunehmend auf westliche Kredite angewiesen waren, um ihre Gesellschaftsverträge zu finanzieren, dienten zwei Herren: dem Volk und dem Markt – oder anders gesagt: Kapital und Arbeit. Je stärker sich Staaten auf Finanzmärkte stützten, desto mehr verlagerten sie ihre Loyalität: Der Schutz der Interessen der Arbeit trat zunehmend in den Hintergrund, während der Schutz der Interessen des Kapitals zur Priorität wurde. Demokratische Wahlen – auch jene, die 1989 das Ende des Staatssozialismus besiegelten – dienten nicht selten dazu, diesen Kurswechsel demokratisch zu legitimieren.

Vielleicht liegt in dieser Entwicklung ein zentraler Widerspruch im Zusammenbruchs des Kommunismus: 1989 wurde die Regierungsgewalt offiziell an das Volk zurückgegeben – doch nur, um dessen Widerstandskraft gegen staatliche Austerität auszuschalten. Das Ende des Kalten Krieges war paradoxerweise zugleich der Höhepunkt der Volkssouveränität und der Moment ihrer Überwindung.

Die Herrschaft der globalen Finanzmärkte

Heute erleben wir eine Art Aufstand gegen die Form des demokratischen Kapitalismus, die der Kalte Krieg uns hinterlassen hat. Spätestens seit der Finanzkrise von 2008 regt sich in weiten Teilen der westlichen Welt Widerstand gegen eine demokratische Fassade, hinter der sich wirtschaftliche Stagnation und strukturelle Blockaden verbergen – das Vermächtnis der Spätphase des Kalten Krieges.

Die Menschen sehnen sich nach einer glaubhaften Rückkehr zu einer »Politik der Versprechen«, doch Regierungen zeigen sich entweder unfähig oder unwillig, darauf zu antworten. In der deutschen Politik – und auch in der EU – spukt die Angst vor einer zu hohen Staatsverschuldung, die lähmend auf die Politik wirkt. Die russische Invasion der Ukraine brachte nicht nur menschliches Leid im Osten Europas, sondern auch eine fundamentale Energiekrise im Zentrum des Kontinents. Die COVID-19-Pandemie löste eine weltweite Inflationswelle aus, die sowohl den Lebensstandard als auch das Vertrauen in staatliche Institutionen erschütterte.

Populisten rund um den Globus – allen voran Donald Trump – haben die daraus entstandene Instabilität gezielt genutzt, um das politische Gleichgewicht zu ihren Gunsten zu verschieben. Übrig bleibt uns heute der brutale und chaotische Versuch des aktuellen US-Präsidenten, die globale Wirtschafts- und Weltordnung neu zu gestalten. Sowohl der maßlose Anspruch als auch die sich häufenden Fehlschläge in den ersten Monaten von Trumps Präsidentschaft zeigen, wie verzweifelt die Suche nach Alternativen zum neoliberalen Kapitalismus inzwischen geworden ist – und wie schwierig es sein wird, nach Trump eine gerechtere und nachhaltigere globale Ordnung zu schaffen.

Als weltweit die Aktienmärkte am 2. April ins Rutschen gerieten, nachdem Trump seine sogenannten »Befreiungstags«-Zölle angekündigt hatte, verkündete er selbstbewusst, dass es ihn nicht kümmere, wie die Börsen auf seine Politik reagieren werden. Doch als die Märkte für US-Staatsanleihen – das zentrale Instrument, über das uns das globale Kapital seine Meinung kundtut – ins Straucheln gerieten, knickte Trump wieder ein. Die Anleihenmärkte seien »ein bisschen nervös geworden«, sagte er zu seiner Erklärung. 1 https://edition.cnn.com/2025/04/09/politics/trump-tariffs-retreat-bond-market In Wahrheit aber war es Trump selbst, der Angst bekommen hatte – so wie viele Staats- und Regierungschefs im Kalten Krieg vor ihm.

Nachdem Trump wieder zurückgerudert war, stellten Kommentatoren offen die Frage – so etwa John Ganz –, ob »der Markt vielleicht die letzte verbliebene Form von Rationalität ist und somit das Einzige, worauf wir hoffen können, um dem Trump’schen Wahnsinn etwas entgegenzusetzen«. 2 https://edition.cnn.com/2025/04/09/politics/trump-tariffs-retreat-bond-market  Sollte das zutreffen, dann ist unsere globale Lage heute ein direktes Erbe des Kalten Krieges. Auch die Welt des Kalten Krieges war voller Irrationalität – teils durch ideologischen Fanatismus angetrieben, teils durch schlichten Opportunismus, Inkompetenz oder Machtstreben. Doch in den letzten zwei Jahrzehnten des Konflikts waren es die Realitäten des Weltmarkts, die das Ausmaß der Irrationalität verringert und den Konflikt zu einem Ende gebracht haben. 

Das brachte greifbare politische Fortschritte mit sich: Die jahrzehntelange Auseinandersetzung zwischen den Supermächten endete und die autoritäre Herrschaft der Einparteienstaaten im Osten, von der einige glaubten, sie würde niemals enden, wurde schließlich doch überwunden. 

Doch der Preis dafür war hoch. Wie Trump im Frühjahr selbst erfahren musste: Wer versucht, Kapitalinteressen zu unterlaufen oder deren Vorrang infrage zu stellen, wird schnell zur Ordnung gerufen. Wer heute eine Alternative zur ungezügelten Dominanz des globalen Kapitals entwickeln will, muss dies zur Kenntnis nehmen. Die Geschichte vom Ende des Kalten Krieges legt nahe: Der erste Schritt zur Erneuerung des demokratischen Kapitalismus besteht darin, wieder Kontrolle über jenes globale Finanzsystem zu erlangen, das oft entscheidet, welche Versprechen Regierungen einlösen – und welche sie brechen.

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Otmar Tibes.