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Die ökonomischen Voraussetzungen unserer Verfassung

In seinem Beitrag stellt Konstantin Chatziathanasiou einige Überlegungen zum Verhältnis von Verfassung und ökonomischer Ungleichheit vor. Insbesondere interessiert ihn die Begrenzung von Armut, noch mehr aber die Frage nach der Begrenzung von Reichtum.

Der Umgang mit ökonomischer Ungleichheit gehört zu den großen Herausforderungen unserer Zeit. Für die Leser*innen dieses Blogs klingt dieser Satz alles andere als neu. Vermutlich entlockt er ihnen nur ein müdes Lächeln. Aus Sicht eines Rechtswissenschaftlers liegt die Sache aber weniger klar. Denn die Rechtswissenschaft hält sich in Bezug auf das Thema ökonomischer Ungleichheit eher zurück. Es gibt zwar eine Reihe beachtlicher Ausnahmen, diese diagnostizieren aber auch eine Leerstelle. 1 S. Boysen/A.-B. Kaiser/F. Meinel (Hg.), Verfassung und Verteilung, 2015; C. Röhner, Ungleichheit und Verfassung 2019; J. Croon-Gestefeld, Piketty und die Rechtswissenschaft im 21. Jahrhundert, JZ 74 (2019), S. 340; K. Pistor, The Code of Capital. How the Law Creates Wealth and Inequality, 2019.

Die Erklärung für diese Zurückhaltung ist naheliegend. Verteilungsfragen sind politische Fragen. Für einen Juristen gehören sie deshalb ins Parlament, nicht vor die Richterbank. Gewichtige normative Gründe sprechen für diese Aufgabenteilung. Nichtsdestotrotz täte die Rechtswissenschaft sich – und der Gesellschaft – aber keinen Gefallen, wenn sie als Konsequenz die Augen vor der Problematik verschlösse. Zum einen kann ökonomische Ungleichheit für das Recht nämlich weitgreifende Folgen haben. Zum anderen hat die Rechtswissenschaft zu diesen Folgen aber auch etwas zu sagen. Rechtsdogmatisch kann sie politische Gestaltungsräume ausweisen, rechtstheoretisch kann sie über mögliche Risiken informieren und zumindest Problembewusstsein schaffen.

In diesem Beitrag möchte ich einige Überlegungen zum Verhältnis von Verfassung und ökonomischer Ungleichheit vorstellen, die ich an anderer Stelle ausführlicher und mit mehr Nachweisen dargelegt habe. 2 Chatziathanasiou, Sozio-ökonomische Ungleichheit: Verfassungstheoretische Bedeutung, verfassungsrechtliche Reaktionen, Der STAAT (60) 2021, 177–210 (https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=4155885).  Die übergreifende Forschungsfrage, die mich dabei beschäftigt hat, geht dahin, wie der Umgang mit Verteilungsfragen zur Stabilität einer Institution beiträgt, die sich zum eigenen Erhalt nur bedingt auf Sanktionen stützen kann. Der folgende Beitrag beginnt mit einigen theoretischen Überlegungen zu den Wirkungen von Verteilung auf Verfassung. Dann streife ich den Diskurs zur sozio-ökonomischen Ungleichheit in Deutschland, um mich ausführlicher dem verfassungsrechtlichen, praktischen Umgang mit ökonomischer Ungleichheit zu widmen. Mich interessiert dabei die Begrenzung von Armut, noch mehr aber die Frage nach der Begrenzung von Reichtum.

Konstantin Chatziathanasiou

Konstantin Chatziathanasiou ist Habilitand und Akademischer Rat a.Z. an der Universität Münster. Die Schwerpunkte seiner Forschung liegen im Öffentlichen Recht und in der (experimentellen) Rechtsökonomik. Auf Twitter findet man ihn unter @kosti_chatzi.

Verfassungstheoretische Bedeutung von sozio-ökonomischer Ungleichheit

Es lohnt, sich der Frage nach der Bedeutung von ökonomischer Ungleichheit für die Verfassung zunächst theoretisch zu nähern. Welche Wirkungen sind denkbar? Hat eine Verfassung ökonomische Voraussetzungen?

Hier ist eine Hypothese besonders relevant. Ökonomische Gleichheit könnte eine faktische Legitimationsvoraussetzung für eine Verfassung sein, also eine Bedingung ihrer Anerkennung. Rechtswissenschaftler sprechen vom „Selbststand“ der Verfassung und meinen damit, dass eine Verfassung keine äußere Durchsetzungsinstanz kennt. In der politischen Ökonomie ist die Rede davon, dass eine Verfassung „selbst-vollziehend“ sein müsse. 3 R. Hardin, Why a Constitution?, in: B. Grofman/D. Wittman (Hg.), The Federalist Papers and the New Institutionalism, 1989, S. 100; B. R. Weingast, The Political Foundations of Democracy and the Rule of the Law, American Political Science Review 91 (1997), S. 245.  Die Adressaten einer Verfassung müssen davon ausgehen, dass es unter der Verfassung besser um sie bestellt ist als außerhalb. Welche Umstände führen nun dazu, dass sich Bürger*innen unter einer Verfassung besser aufgehoben fühlen und keinen Anreiz haben, die Verfassung zu ignorieren oder sich einem Verfassungsbrecher anzuschließen? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Aber unter den möglichen Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit der Akzeptanz einer Institution erhöhen, liegt auch die Verteilungsgerechtigkeit (bzw. Fairness), deren Herstellung mit der Institution assoziiert wird. Das Argument kann historisch geführt werden, wir können aber auch auf experimentelle Evidenz auf individueller Ebene zurückgreifen. 4 Siehe: Chatziathanasiou/Hippel/Kurschilgen, Property, Redistribution, and the Status Quo – A laboratory study, Experimental Economics (24) 2020, 919-951; Chatziathanasiou/Hippel/Kurschilgen, Does the threat of overthrow discipline the elites? Evidence from a laboratory experiment, The Journal of Legal Studies, im Erscheinen (https://dx.doi.org/10.2139/ssrn.3734217).

Eine weitere Überlegung hat eine lange – und wechselvolle – Tradition in der politischen Theorie. Ökonomische Gleichheit kann als Funktionsbedingung einer Demokratie verstanden werden. 5 D. S. King/J. Waldron, Citizenship, Social Citizenship and the Defence of Welfare Provision, British Journal of Political Science (18) 1988, S. 415.  Zum einen können Verteilungskämpfe als Belastungsprobe einer Demokratie verstanden werden, zum anderen kann in einer bestimmten ökonomischen Stellung des Einzelnen eine Voraussetzung gesehen werden, um frei von Abhängigkeiten politisch handeln zu können. Die letzte Überlegung wurde früher eher herangezogen, um Exklusion zu rechtfertigen. Ein modernes Demokratieverständnis folgert aus ihr hingegen das Bedürfnis, Menschen in den entsprechenden Stand zu versetzen, eigenverantwortlich politisch zu handeln. Neben der Befähigung der ökonomisch Schwachen liegt aber eine weitere Herausforderung darin, dem überproportionalen Einfluss der ökonomisch Starken zu begegnen. Schon die Wahlbeteiligung fällt unter den Schwächeren niedriger aus. Dazu kommt, dass die Bessergestellten etwa durch Lobbyarbeit ihre Interessen besser vertreten können. Das führt dazu, dass die Präferenzen der ersteren gegenüber den Interessen letzterer politisch unterrepräsentiert sind. 6 Zum „preference/policy link“ im Fall der USA M. Gilens, Affluence and Influence. Economic Inequality and Political Power in America, 2012; zu Deutschland: L. Elsässer, Wessen Stimme zählt? Soziale und politische Ungleichheit in Deutschland, 2018.  Hier lauert ein sich selbst-verstärkender Teufelskreis.

Sozio-ökonomische Ungleichheit in Deutschland

Ausgeklammert habe ich bis hierher, was unter ökonomischer Ungleichheit eigentlich genau zu verstehen ist. Die Beantwortung ist alles andere als trivial. Es stellt sich zunächst die Frage, was überhaupt gemessen werden soll: Einkommen, Vermögen, soziale Mobilität, Chancen? Bei der Operationalisierung dieser Gegenstände stellen sich Herausforderungen. Dann stellt sich die Frage, wie der Vergleich umgesetzt werden soll: Verlässt man sich auf den Gini-Koeffizienten oder wählt man ein sensibleres Maß? Die Leser*innen dieses Blogs dürften mehr als nur eine Ahnung von den hier lauernden Schwierigkeiten haben. Damit ist auch schon zu erahnen, dass sich auch für Rechtswissenschaftler, die mit Bewertungen – sei es theoretisch oder rechtsdogmatisch – an diese Ungleichheitsmaße anknüpfen wollen, Herausforderungen auftun. Für unseren Kontext sollen aber zwei Befunde genügen, die als gemeinhin anerkannt gelten dürfen: Deutschland ist – auch aufgrund des starken wohlfahrtsstaatlichen Eingriffs – verhältnismäßig einkommensgleich. 7 Siehe nur OECD, Income Distribution Database – Key indicators, Version 25 February 2020: Deutschland ist mit 0,29 in Sachen Einkommen ungleicher als Belgien (0,263), Tschechien (0,249), Dänemark (0,261), Finnland (0,266), Norwegen (0,262) und Schweden (0,282), aber gleicher als Kanada (0,310) und Italien (0,334). Deutlich höhere Gini-Koeffizienten kennzeichnen notorisch ungleiche Länder wie die USA (0,390), die Türkei (0,404), Mexiko (0,458) oder Brasilien (0,470).  Relativ hoch ist hingegen die Ungleichheit der Vermögen, was jüngere Forschung noch einmal unterstreicht. 8 Siehe nur: T. N. H. Albers/C. Bartels/M. Schularick, The Distribution of Wealth in Germany, 1895–2018, ECONtribute Working Paper, 2020

Verfassungsrechtliche Reaktionen unter dem Grundgesetz

Wie werden nun verfassungstheoretische Überlegungen und datenbasierte Beschreibungen im geltenden Verfassungsrecht verarbeitet? Der Textbefund des Grundgesetzes ist recht dürftig, insbesondere im Vergleich zur Weimarer Verfassung. Das Sozialstaatsprinzip ist in Art. 20 Abs. 1 GG („demokratischer und sozialer Bundesstaat“) und Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG („republikanischer, demokratischer und sozialer Rechtsstaat“) verankert. In den Worten des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet es den Gesetzgeber, „für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen“. 9 BVerfGE 22, 180 (204) – Jugendhilfe (1967).  Die Konkretisierung liegt jedoch in den Händen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers. Das Bundesverfassungsgericht betont dessen Spielraum, formuliert aber Mindestanforderungen.

Begrenzung von Armut

Die erste Mindestanforderung, die ich hier ansprechen möchte, liegt in der Begrenzung von Armut. Das Bundesverfassungsgericht leitet aus Menschenwürdegarantie und Sozialstaatsprinzip ein „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ ab. 10 BVerfGE 125, 175 – Hartz IV (2009).  Hierbei geht es aber nicht nur um „nacktes Leben“. Dieses Grundrecht umfasst es auch „diejenigen materiellen Voraussetzungen“, die „für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind“. 11 So der erste Leitsatz.  In diesem normativen Gedanken spiegelt sich also die theoretische Erwägung, dass politische Teilhabe auf ein gewisses ökonomisches Minimum angewiesen ist. Das Verfahren, wie dieses Minimum zu bestimmen ist, wird aber im Wesentlichen der Politik überlassen. Das Gericht beschränkt sich auf eine Rationalitätskontrolle, verlangt vom Gesetzgeber also eine nachvollziehbare Vorgehensweise. Bisweilen gibt es aber auch dort Impulse, wo die Situation politisch verfahren erscheint, etwa im Bereich der „Sanktionen“ für Empfänger von Arbeitslosengeld II. 12 BVerfG, U. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16 – Hartz-IV-Sanktionen.

Begrenzung von Reichtum

Die Begrenzung von Armut ist als grundgesetzliches Anliegen also anerkannt. Was aber gilt für die Begrenzung von Reichtum? Wir hatten oben angesprochen, dass die politische Repräsentation von Interessen auch durch Reichtum verzerrt werden kann. Reagiert das Verfassungsrecht auf diese theoretische und empirische Herausforderung? Durchaus. Ein interessantes Beispiel für eine Reaktion auf die Gefahren ungleicher Teilhabe liegt etwa im Bundesverfassungsgerichtsurteil zu Parteienfinanzierung. 13 BVerfGE 85, 264 (314 f.) – Parteienfinanzierung II (1992)  Hier möchte ich gerne ein Sondervotum hervorheben, das die (damaligen) Richter*innen Susanne Baer, Reinhard Gaier und Johannes Masing zur Erbschaftsteuer-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2014 verfasst haben. 14 BVerfGE 138, 136 (252 ff.) – Erbschaftsteuer (2014).

In Sondervoten drücken Verfassungsrichter ihre Abweichung von der Senatsmehrheit aus. Diese Abweichung kann sich auch nur auf die Gründe einer Entscheidung beziehen. In der Senatsentscheidung zur Erbschaftsteuer ging es um die erbschaftsteuerliche Privilegierung von Betriebsvermögen, die der steuerlichen Beratungspraxis eine Reihe von Gestaltungsmöglichkeiten zur Minimierung der Erbschaftsteuer erlaubte. Die Privilegierung wurde damit gerechtfertigt, dass Unternehmen vor Liquiditätsproblemen bewahrt und Arbeitsplätze gesichert werden sollten. Das Gericht erklärte die pauschale Privilegierung für Unternehmen jeglicher Größenordnung und ohne Bedarfsprüfung jedoch für unverhältnismäßig und unvereinbar mit dem Gleichheitssatz (Art. 3 Absatz 1 GG). 15 BVerfGE 138, 136 (137) – Erbschaftsteuer (2014).

Die Dissenter trugen das Urteil im Ergebnis zwar mit, wollten die Entscheidungsgründe aber um eine Bezugnahme auf das Sozialstaatsprinzip erweitern. 16 Sondervotum Baer/Gaier/Masing zu BVerfGE 138, 136 (252) – Erbschaftsteuer (2014).  Die Erbschaftsteuer sei auch ein sozialstaatliches Instrument, um der herkunftsbedingten Akkumulation von Reichtum in den Händen weniger vorzubeugen. Die Vermögensungleichheit habe laut DIW aber zugenommen. 17 Das Sondervotum beruft sich hier auf den DIW-Wochenbericht, Anhaltend hohe Vermögensungleichheit in Deutschland, 9/2014, wonach die Vermögensverteilung in Deutschland ungleicher ausfalle als im Rest der Eurozone und im Durchschnitt der OECD.  Vor diesem Hintergrund wirke die Erbschaftsteuer 

„der Gefahr entgegen, dass durch eine zunehmende Ungleichverteilung von Mitteln die Chancen auf gesellschaftliche wie politische Teilhabe auseinanderdriften und sich so letztlich Einfluss und Macht zunehmend unabhängig von individueller Leistung verfestigen und an Herkunft gebunden sind. Mit diesem Zweck ist die Erbschaftsteuer ein Instrument, mit dem der Staat ungleichen Lebenschancen entgegenwirkt.“ 18

In der Argumentation des Sondervotums finden sich also die oben angeführten verfassungstheoretischen Überlegungen wieder. Das gilt zum einen für die Warnung vor einer Konzentration von ökonomischer und politischer Macht, zum anderen knüpft der Gedanke „ungleicher Lebenschancen“ aber auch an die angeführten faktischen Legitimitäts- bzw. Fairnesserwägungen an.

Die rechtswissenschaftliche Einordnung des Sondervotums gerät damit aber anspruchsvoll. Wir hatten bereits gesehen, dass die textlichen Anknüpfungspunkte im Grundgesetz für das Soziale eher überschaubar sind und als vage gelten müssen. Eine verfassungsrechtliche Gebotenheit einer Egalisierung mag sich auf dieser Grundlage nicht annehmen lassen, gleichzeitig ist das Anliegen der Reichtumsbegrenzung verfassungsrechtlich aber auch nicht ausgeschlossen. Schon Ernst-Wolfgang Böckenförde hatte in einem eigenen Sondervotum der „Sankrosanktstellung“ des Eigentums und seiner Akkumulation eine Absage erteilt, da sonst die Gefahr bestehe, „daß sich die Ungleichheit ungezügelt potenzieren kann und sich darüber die freiheitliche Rechtsordnung selbst aufhebt.“ 19 Sondervotum Böckenförde zu BVerfGE 93, 121 (163) – Einheitswerte II (1995).  Eine extreme Vermögenskonzentration fordert unser Verständnis einer vornehm-liberalen Zurückhaltung des Grundgesetzes also heraus. 

Aber handelt es sich bei solchen Erwägungen um Verfassungsrecht oder um Verfassungstheorie? Stark verkürzt lautet die Antwort: Es kommt darauf an, wer spricht. Als Rechtswissenschaftler tun wir gut daran, darauf hinzuweisen, wo das Recht unterbestimmt ist, welche Spielräume sich auftun und wie diese Spielräume aus theoretischer Perspektive sinnvoll gefüllt werden sollen. Kurzum: Ich würde die hier angestellten Überlegungen zunächst der Verfassungstheorie zuordnen. Verfassungsrichter aber befinden sich in einer besonderen Rolle. Sie sind gerade dazu berufen, die Verfassung in Anbetracht sich wandelnder Herausforderungen – und unter Rückgriff auf wissenschaftliche Vorleistungen – aktualisierend auszulegen. 20 A. Voßkuhle, Stabilität, Zukunftsoffenheit und Vielfaltssicherung — Die Pflege des verfassungsrechtlichen „Quellcodes“ durch das BVerfG, JZ 64 (2009), S. 917 (919–923).  Es wäre also nicht aufgabengerecht, hier dieselben Maßstäbe anzusetzen. Gerade Sondervoten können bei der Aktualisierung verfassungsrechtlicher Inhalte eine Vorreiterrolle einnehmen, worauf etwa Andreas Voßkuhle hinweist. 21 A. Voßkuhle, Stabilität, Zukunftsoffenheit und Vielfaltssicherung — Die Pflege des verfassungsrechtlichen „Quellcodes“ durch das BVerfG, JZ 64 (2009), S. 917 (922).

Bei alldem stellt sich jedoch eine weitere Herausforderung, die den Leser*innen dieses Blogs wieder vertraut vorkommen dürfte: Auch die vom Sondervotum in Bezug genommenen Berechnungen zur ökonomischen Ungleichheit bedürfen der kritischen Einordnung. Dies gilt erst recht vor dem Hintergrund, dass diese Berechnungen hier Teil der Begründungsstrategie werden, mit der das normativ unterbestimmte Sozialstaatsprinzip aufgewertet bzw. konkretisiert werden soll.

Laut DIW liegt die Vermögensungleichheit in Deutschland über dem OECD-Durchschnitt – aber die Aussagekraft dieser Statistik ist bekanntlich beschränkt: Die gängige Kritik weist zum einen darauf hin, dass die Eigenheimrate in Deutschland im internationalen Vergleich sehr niedrig ist. Zum anderen sind in dieser Statistik keine Rentenansprüche berücksichtigt. 22 Siehe nur P. Hufe/A. Peichl/M. Stöckli, Ökonomische Ungleichheit in Deutschland – ein Überblick, Perspektiven der Wirtschaftspolitik 19 (2018), S. 185 (189). Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der wohlfahrtsstaatlich „moderierten“ Einkommensungleichheit dürfte in Deutschland noch kein Risiko anzunehmen, dem in einem grundlegenden Sinne Verfassungsrelevanz zugesprochen werden könnte. Das bedeutet jedoch auch nicht, dass sich die Einschränkung von Lebenschancen nicht in bestimmten Bereichen andeutet: Man denke nur an die mögliche Verschärfung der Vermögensungleichheit im Zuge anstehender Erbschaften oder auch an die Herausforderungen, die sich schon für mittlere Einkommen auf den Wohnungsmärkten stellen.

Fazit

Sozio-ökonomische Ungleichheit hält für die Verfassungsrechtswissenschaft mehrere Herausforderungen bereit. Bestimmte theoretische Annahmen müssen als zumindest plausibel gelten: Sozio-ökonomische Gleichheit ist eine wichtige Legitimitätsressource einer Verfassung. Daneben gehen mit sozio-ökonomischer Ungleichheit fundamentale Herausforderungen für die demokratische Willensbildung einher. Es gibt also gute Gründe, den ökonomischen Ungleichheitsdiskurs auch aus rechtswissenschaftlicher Sicht zu verfolgen. Umgekehrt dürfte es sich auch lohnen, aus ökonomischer Sicht (kritisch) zu beobachten, wie Rechtswissenschaft und Verfassungsrechtsprechung ökonomische Befunde normativ verarbeiten.