Die Politische Theologie von J.D. Vance

Donald Trumps Vizepräsident J. D. Vance bezeichnet sich gern als »Postliberalen«. Was erwartet uns bei einem postliberalen Systemwechsel? Und was hat es mit »ordo amoris« auf sich? Carlotta Voß untersucht die politische Theologie, die sich hinter dem klingenden Label des »Postliberalismus« verbirgt.

Am 30. Januar 2025 – zehn Tage nach der Amtseinführung von Donald Trump als 47. Präsident der Vereinigten Staaten – gab J. D. Vance der Weltöffentlichkeit auf Elon Musks Kommunikationsplattform X einen Auftrag: »Just google ordo amoris«. Es war seine Erwiderung auf Kritik an der Ankündigung der Trump-Regierung, unverzüglich die Festnahme und Ausweisung von »illegal immigrants« anzuordnen. Wer der Vance’schen Aufforderung nachkommt und tatsächlich »ordo amoris« in die Google-Suchmaschine eintippt, der findet inzwischen eine große Menge erklärender Artikel von Leitmedien. Die Leserin erfährt darin, dass »ordo amoris« ein antikes bzw.mittelalterliches oder schlicht: altes katholisches Konzept sei, verbunden mit den Namen Augustinus und Thomas von Aquin; dass es sich mit »order of love« übersetzen lasse und eine Hierarchie moralischer Verpflichtungen beschreibe: Die dem Christenmenschen aufgetragene Nächstenliebe sei in konzentrischen Kreisen zu denken – sie gelte zuerst der Familie, dann der unmittelbaren Nachbarschaft, schließlich der Nation und zuallerletzt dem Fremden jenseits nationaler Grenzen.

J. D. Vance’ Tweet ist ein Lehrstück erfolgreicher »postliberaler« Ideologiearbeit. Just google ›ordo amoris‹. Mit diesem einen Satz ist es Vance gelungen, zentrale Referenzpunkte seiner politischen Theologie in den medialen Diskurs einzuspeisen und die Referenzpunkte im Diskurs um Migration im Sinne dieser politischen Theologie zu verschieben. Und das mit einem einfachen Trick: »Just google it« übersetzt sich im Zeitalter der Suchmaschinen in einen Appell an den gesunden Menschenverstand; es besagt: Mein Bezugspunkt ist Allgemeinwissen; wer meinem Argument nicht folgen kann, ist entweder verbildet oder ungebildet. Das lateinische Zitat reichert den beschworenen common sense mit der Gravitas alter Weisheit in Goldschnitt-Büchern an. 

Vance’ Verweis auf »ordo amoris« wurde umstandslos von C.C. Pecknold (im Hauptberuf Associate Professor für Theologie) kommentiert: In einem zuerst in der Washington Post abgedruckten Interview 1 Der Washington Post, die bekanntlich neuerdings auf Geheiß ihres Besitzers Jeff Bezos nur noch Meinungsartikel publiziert, die mit Bezos’ ideologischen Überzeugungen übereinstimmen erklärt Pecknold »ordo amoris« zum ultimativen Ausdruck der griechisch-römisch-christlichen Ethik des Gemeinwohls, um dann eine Fundamentalopposition dieser Ethik zum »Liberalismus« zu behaupten. In einem dritten Schritt ordnet er Vance‘ Bezug auf »ordo amoris« in eine Geschichtsphilosophie ein: Auf dem Boden der Werte der klassischen Antike und des Christentums sei die westliche Zivilisation erbaut worden, die der Liberalismus zersetze – die Rückkehr der Trump-Administration zu den Quellen alter Weisheit sei insofern Anlass zur Hoffnung auf eine bessere Zukunft des Abendlands. 2 Vgl. C. C. Pecknold, J. D. Vance and the Pursuit of American Happiness, in: The Postliberal Order [Online-Magazin], 13.03.2025, https://www.postliberalorder.com/p/j-d-vance-and-the-pursuit-of-american: »[N]either the classical nor the Christian account of the ordo amoris fits with liberalism, which gives primacy to individual rights, not to common virtues. Liberalism gives primacy to idealistic abstractions over concrete obligations to those with whom we already share principles. At its heart, then, ordo amoris signals an opposition between the classical and Christian values that built Western civilization, and the political liberalism which has slowly eroded it«. Später fügt Pecknold hinzu: »One thing is clear to me: the White House is filled with Catholics now who take the same approach to Christian statecraft that J.D. Vance does — and whatever conflicts or misunderstandings might arise, this new approach is good news for most people. Returning to classical and Christian wisdom about good governance has historically not resulted in tyranny, but in faith, freedom, and civic happiness. It’s too early to predict the future, but the initial signs are promising.« Die alte Weisheit, die Pecknold meint, erschöpft sich freilich nicht in einzelnen normativen Konzepten. Sie meint einen Paradigmenwechsel im Nachdenken über und in der Gestaltung von Politik und Gesellschaft. Sie meint kurz gesagt: Politische Theologie.

Schmittianische Gespenster. Politische Theologie als Diskursstrategie

Was ist Politische Theologie? Der Sache nach: Ein Nachdenken über Politik und über die beste politische Ordnung, das die Wahrheit göttlicher Offenbarung als Ausgangspunkt nimmt. Die Postliberalen selbst nutzen den Begriff kaum; ihr strategisches Drehbuch aber trägt die Handschrift des Mannes, der den Begriff in der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts groß gemacht hat: Carl Schmitt. Schmitt veröffentlicht 1922 ein schmales Buch mit dem Titel »Politische Theologie«. Es enthält seinen vielzitierten Satz: »Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe«. 3 Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 2015 [1922], S. 43.

Das ist eine begriffsgeschichtliche These und es ist außerdem eine Diskursstrategie. Schmitt weiß, dass der Bezug auf die Wahrheit der göttlichen Offenbarung und auf ihr Gebot zum Gehorsam im politischen wie akademischen Diskurs der Moderne ins Abseits stellt: »Im positivistischen Zeitalter macht man seinem wissenschaftlichen Gegner gern den Vorwurf, dass er Theologie und Metaphysik treibe«, stellt er fest. 4 Ebenda, S. 45. Sein Säkularisierungs-Theorem neutralisiert und kontert diesen Vorwurf, insofern es das »positivistische Zeitalter«, respektive die gesamte (liberale) politische Theorie, selbst der Theologie bzw. Metaphysik überführt. Gleichzeitig bestimmt er das Feld der Auseinandersetzung um die gute politische Ordnung neu: als Feld des Glaubenskampfes, »in dem der rechte Glaube den tausend Spielarten des Irrglaubens gegenübertritt«. 5 Vgl. in diesem Sinne Heinrich Meier: Was ist Politische Theologie?, Einführende Bemerkungen zu einem umstrittenen Begriff, in: Marie-Christine Kajewski/ Jürgen Manemann (Hrsg.): Politische Theologie und Politische Philosophie, Baden-Baden 2016, S. 55-66, hier: S. 60.  Von diesem Feld gibt es kein Entkommen: Die Frage nach dem Gebot der göttlichen Wahrheit zwingt zur Positionierung.    

Carlotta Voß

Dr. Carlotta Voß ist politische Referentin in Berlin. Zu ihren Veröffentlichungen gehören: »Ironie und Urteil. Ironische Historiographie und die Entdeckung des Politischen bei Thukydides«, Vandenhoeck & Ruprecht 2024, und »The Riddle of the Great-Souled eiron. Virtue, Deception and Democracy in the Nicomachean Ethics«, Elenchos 44/2 (2023). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Politischen Theorie der Antike und des frühen 20. Jahrhunderts.

Die Postliberalen folgen Schmitts Spuren: »We must never ask whether the religion of the city is secular or religious; rather, the only question we must ask is whether the religion of the city is true or false«, ist ihr Mantra. 6 5 C.C. Pecknold, The Religious Nature of the City, in: The Postliberal Order [Online-Magazin], 24.01.2022, https://www.postliberalorder.com/p/the-religious-nature-of-the-city. Der Verweis auf Tradition und Geschichte dient den Postliberalen hier (und grundsätzlich) als zusätzlicher Beweis für ihre These. Eine typische Argumentation in diesem Sinne lautet wie folgt: „[I]t’s been incredibly normal for rulers to turn to biblical texts [… ]. What’s not been normal is the secular separationist who wants to exclude all of this […]. Church teaching […] has illuminated many nations long before ours even existed. It’s time to return to the normal give-and-take of governance that makes regular public reference to God […] Returning to classical and Christian wisdom about good governance has historically not resulted in tyranny, but in faith, freedom, and civic happiness“ (C. C. Pecknold, J. D. Vance and the Pursuit of American Happiness, in: The Postliberal Order [Online-Magazin], 13.03.2025, https://www.postliberalorder.com/p/j-d-vance-and-the-pursuit-of-american. Auch sie wissen, dass die Überzeugungskraft ihrer Politischen Theologie davon abhängt, die Einwände der liberalen politischen Theorie gegen das theologische Fundament ihres Projekts zu neutralisieren. Frisch machen sie sich ans Werk: Der Eröffnungs-Zug postliberaler Texte besteht in der Beschreibung des »Liberalismus« als (anti-christliche) Pseudo-Religion, 7 C. C. Pecknold, J. D. Vance and the Pursuit of American Happiness, in: The Postliberal Order [Online-Magazin], 13.03.2025, https://www.postliberalorder.com/p/j-d-vance-and-the-pursuit-of-american als »progressive civic-religious regime«, 8 C.C. Pecknold, The Religious Nature of the City, in: The Postliberal Order [Online-Magazin], 24.01.2022, https://www.postliberalorder.com/p/the-religious-nature-of-the-city  und in der Bewertung derselben als Häresie. Wer zuhört, erfährt: Political correctness folgt der Logik von Blasphemie-Gesetzen; 9 Ebenda. die Pride Parade ist ein zentraler liturgischer Akt des liberalen Glaubens 10 Darel Paul, The Liturgy of Pride, in The Postliberal Order [Online-Magazin], 11.07.2023, https://www.postliberalorder.com/p/the-liturgy-of-pride. Der Autor bezieht sich hier via Vermeule explizit auf Schmitt: »Following the German jurist Carl Schmitt, Vermeule contends that all concrete social orders rest upon a political theology, in turn incorporating distinctive soteriologies, eschatologies and ecclesiologies. So, too, do they incorporate distinctive liturgies, with the »liturgy of liberalism« standing as Vermeule’s particular interest.« und die amerikanische Linke eine »radicalized messianic party«; 11 Patrick Deneen, Russia, America, and the Danger of Political Gnosticism, in: The Postliberal Order [Online-Magazin], 02.03.2022, https://www.postliberalorder.com/p/russia-america-and-the-danger-of. Abtreibung folgt der Logik von  Menschenopfern, die auf dem »false altar of liberty« geopfert werden. 12 C.C. Pecknold, What I said at the Lincoln Memorial, in: in: The Postliberal Order [Online-Magazin], 27.06.2023, https://www.postliberalorder.com/p/what-said-at-the-lincoln-memorial.  

Herzstück dieser postliberalen Liberalismus-Interpretation ist die liberale Geschichtsphilosophie, genauer: ein Holzschnitt derselben, der den Namen des »Fortschrittsglaubens« verdient. Hier entlarvt sich der metaphysische Kern des Liberalismus in den Augen der Postliberalen in besonderer Weise – und mit ihm die Gefährlichkeit des liberalen Projekts. 2022, unmittelbar nach der russischen Vollinvasion der Ukraine, erschien auf dem Postliberal Order-Substack ein Text von Patrick Deneen. Deneen erklärt darin die NATO-Osterweiterung, die interventionistische US-amerikanischen Außenpolitik, und den liberalen Internationalismus zum Ausdruck eines Progressivismus, den er zugleich als Gnostizismus identifiziert. »Gnostizismus« ist ihm kein historisches Phänomen, sondern ein Gespenst der Heilsgeschichte: Eine Häresie, die ihren ideellen Kern in dem Irrglauben hat, es sei möglich, mit politischen Mitteln den Himmel auf Erden zu errichten. Mit Eric Voegelin, der den Begriff der Gnosis benutzt, um den Totalitarismus der Moderne zu begreifen, beschreibt Deneen den Liberalismus der Gegenwart als Nachfolger der totalitaristischen Ideologien des 20. Jahrhunderts. 13 Ebenda.

Cold-War-Liberalism in concert

Im Gewand dieser theologischen Begriffe (»Gnostizismus«, »Häresie«) klingt die Liberalismus-Darstellung der Postliberalen dem liberalen Ohr im ersten Moment fremd; tatsächlich aber schmiegt sie sich an Diskurse der liberalen Ideengeschichte an. Die kulturpessimistische Beschreibung der freiheitlich-liberalen Gesellschaft als wahlweise nihilistisch, anarchisch oder dekadent wird in der Krisendiagnostik der europäischen Zwischenkriegszeit vorweggenommen, und das nicht nur bei dezidiert konservativen Denkern, sondern auch im Kontext liberaler Selbstreflexion. 14 Vgl. dazu Jens Hacke, Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit, Berlin 2018. Die Sorge vor den fanatisch-totalitaristischen Kipppunkten einer fortschrittsorientierten Geschichtsphilosophie hat wiederum die Texte zentraler liberaler Vordenker in der Phase des Kalten Krieges geprägt: Cold-War-Liberals hat Samuel Moyn sie kürzlich genannt und den großen Einfluss ihres schmallippig-defensiven »Liberalismus der Furcht« auf die Gegenwart liberaler Politik nachgezeichnet.  

Tatsächlich zeigt sich: Wo (zivilgesellschaftliche) Akteure zuletzt anspruchsvolle politische Projekte formuliert haben, die im Zeichen nicht allein der Verteidigung von bürgerlichen Abwehrrechten, sondern der gemeinsamen Gestaltung geteilter Freiheit stehen, da werden sie von selbsterklärten Liberalen alsbald der totalitären Anwandlungen angeklagt. Unzählig sind inzwischen die Einlassungen über die vermeintlich totalitären Schlagseiten des »Wokeismus« oder alternativ »der Klimabewegung«. Und noch ein zweiter Vorwurf wird in diesem Zusammenhang gern laut: Der Vorwurf der Politischen Theologie. Die Rede von der »Klima-Religion«, von Wokeness als »neuer Religion« gehört inzwischen zum gepflegten liberal-libertären Salongespräch. Der Boden für die postliberale Umdeutung des Liberalismus in toto als verkappte Theologie war damit schon bereitet. 

Ordnung soll sein: Die postliberale Kosmologie

»Politische Theologie« als Mittel der Entlarvung und Überführung des liberalen Gegners als religiösem Konkurrenten ist freilich nur die erste Ebene der postliberalen Politischen Theologie. Die Postliberalen ziehen den Liberalismus nicht nur auf das Feld des Glaubenskampfes: Sie treten dort auch mit eigenem Aufgebot zum Kampf an. Der Postliberal Order-Substack hat als selbsterklärtes Ziel, die normativen und materiellen Konturen einer postliberalen Ordnung zu zeichnen und damit ein substanzielles Politikangebot zur Wahl zu stellen. Im Unterschied zu den Tech-Akzelerationisten, die für den Umsturz der bestehenden Ordnung nur eine Methode anzubieten haben – Kettensäge, Beschleunigung und Disruption –, auf die Frage nach der Gestalt des Neuen aber verstummen, geben die Postliberalen Antworten. 15 Vgl. dazu auch Diedrich Diederichsen: Das Rohe und das Kettengesägte, in: Berlin Review [Online-Magazin], 12.02.2025, https://blnreview.de/ausgaben/2025-03/diederichsen-voelkisch-libertaer-faschismus-kettensaege, »In gewisser Weise haben beide immer aufeinander gewartet: Neotraditionalismus hat kein genuines politisches Rezept, nur Idealbilder (traditionelle Familie, Märchenwald, unsere gute alte pure Ethnie); Libertäre haben keinen Inhalt und kein Bild, nur eine Methode (den Staat aus der Wirtschaft raushalten, Technologie und Innovation ankurbeln, Futurismus im faschistischen Sinne).« Von Schmitt wissen sie, dass das »metaphysische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt macht, […] dieselbe Struktur [hat] wie das, was ihr als Form ihrer Organisationen ohne weiteres einleuchtet«. 16 Schmitt 2015 [1922], S. 50.   

Entsprechend steht im Kern ihrer politischen Arbeit die Darlegung einer postliberalen Kosmologie – die mit dem Begriff des »Naturrecht« normativ aufgeladen wird. 17 Vgl. etwa Philip Pilkington, What Comes After the Ruins of Liberalism, in: The Postliberal Order [Online-Magazin], 01.01.2024, https://www.postliberalorder.com/p/what-comes-after-the-ruins-of-liberalism, »Postliberals know that societies thrive, and human happiness is fulfilled the more it adheres to the natural law. This is not a scientific judgement – although empirical social science will always show it to be true – rather is is a metaphysical judgement. It speaks to something fundamental in the structure of our world«. Ausgehend vom lateinischen Schlagwort des »ordo« beschreiben postliberale Texte die Welt als göttliche Schöpfung und hierarchisches Gefüge, an dessen Spitze der Mensch steht. In seiner Gottesebenbildlichkeit ist er zur Freiheit berufen, die sich in einer Entscheidungssituation konkretisiert: Er ist vor die Wahl von Gut und Böse, Tugend und Sünde, Gottesfürchtigkeit und Glaubensabfall gestellt. Gottesfürchtigkeit konkretisiert sich in der postliberalen Theologie in dem Willen, im Seienden den göttlichen Plan zu erkennen und sich ihm zu unterwerfen.  

Den politischen Raum konzeptualisieren die Postliberalen in Analogie zu dieser theologischen Anthropologie: als das ewige Ringen eines Gemeinwesens um Gottgefälligkeit, das heißt: um wohlgeordnete Verhältnisse. Geschichte wird aus dieser Perspektive zu einem zyklischen Geschehen, in dem sich Phasen der inneren Ordnung, Harmonie, Gesundheit eines politischen Gebildes mit solchen der Unordnung, Verwirrung, Krankheit abwechseln. Dass die Degeneration eines Gemeinwesens zum Sündenpfuhl, zu Sodom und Gomorrha, stets droht: das folgt für die Postliberalen aus der Sündhaftigkeit und Versuchbarkeit des Menschen – und die Gegenwart der freiheitlichen Welt ist ihnen jüngstes Beispiel dafür.  

In der Frage, wie diese freiheitliche Gesellschaft geographisch und historisch einzugrenzen ist, bleiben die Postliberalen allerdings notorisch vage. Grundsätzlich ist der Bezugspunkt ihrer Geschichtsbetrachtung im Unterschied zur liberalen Geschichtsphilosophie nicht »die Menschheit«, sondern das im Heilsplan präfigurierte Gemeinwesen. In der Konkretion identifizieren die Postliberalen als solches mal die USA, mal Europa als Einheit, mal das Abendland: die western civilization. Letztere ist auch die zentrale Figur in der postliberalen Interpretation der Heilsgeschichte: Die griechisch-römische Antike wird darin zur Vorgeschichte eines rechtgläubig-christlichen (»Augustinian«) Zeitalters, das in der postliberalen Erzählung von der Konstantinischen Wende bis zur Aufklärung reicht. Die vierzehn turbulenten Jahrhunderte zwischen 313 und 1700 mit ihren Kriegen, Verfolgungen, politischen Experimenten verschwinden im postliberalen Diskurs hinter einem Mittelalter-Wimmelbild, in dem weise Könige im wahren Glauben die Regierungsgeschäfte führen, Klosterbrüder im Kerzenschein Augustinus exzerpieren, Gläubige in weiträumigen Kathedralen die Knie beugen, die Stände zufrieden unter sich bleiben, und Familien sich des Abends um das Feuer versammeln; kurz, in dem jede und jeder die Grenzen anerkennt, die seinen oder ihren Platz in der göttlichen Ordnung bestimmen.  

Welcher Natur die zentralen Grenzen dieser Ordnung aus postliberaler Perspektive sind, erschließt sich ex negativo in der postliberalen Gegenwartskritik: Das lebensunwürdige Chaos, das die freiheitliche Gesellschaft in ihren Augen ist, manifestiert sich für die Postliberalen insbesondere in der Überschreitung der Grenzen, die vermeintlich das biologische Geschlecht und die vermeintlich das Abendland als präfigurierte heilsgeschichtliche Einheit setzt.

Freiheit, Ungleichheit, Brüderlichkeit: Konturen postliberaler Politik 

Auf der Ebene konkreter policies bewegen sich die Postliberalen vornehmlich auf dem Feld der Gesellschaftspolitik: Postliberale fordern familienfreundlichere Politik, weil die Familie (in der vermeintlich naturgemäßen Form von Mutter-Vater-Kind) die Keimzelle der gottgefälligen Ordnung sei; Postliberale fordern die Umgestaltung des öffentlichen Raums zum Ort der »Erbauung«, weil das die Integration des Gemeinwesens verbessere; Postliberale fordern eine Ausrichtung der wissenschaftlichen Forschung an göttlicher Wahrheit, die Stärkung religiöser Feierlichkeiten, die Einführung religiöser Prozessionen, die Rückkehr von Blasphemie-Gesetzen und des Morgengebets in den Schulen, weil das die Verbreitung des wahren Glaubens fördere. Sie fordern restriktivere Abreibungsgesetze, Scheidungsgesetze, Migrationsgesetze. Sie fordern mehr Subsidiarität – freilich erst perspektivisch: nachdem durch einen starken Staat ein postliberaler Mentalitätswechsel vermittelt worden ist (für den »social planning« mittels moderner Regierungstechniken für die Postliberalen ein Mittel der Wahl ist 18 Philip Pilkington, What Comes After the Ruins of Liberalism, in: The Postliberal Order [Online-Magazin], 01.01.2024, https://www.postliberalorder.com/p/what-comes-after-the-ruins-of-liberalism. ). Wir sind damit beim Schlüsselpunkt postliberaler Theoriebildung angelangt:  der Frage nach der Organisation und Rechtfertigung politischer Herrschaft. 

Vorbild der rechten politischen Ordnung ist in der postliberalen Lesart das hierarchische Gefüge der göttlichen Schöpfung. Dessen natürliches Spiegelbild finden die Postliberalen in der Familie schon realisiert, bzw.: in einem konkreten Familienbegriff, der die väterliche Autorität, den »pater familias« (Grundregel postliberaler politischer Kommunikation: Verwende lateinische Zitate, wo es nur irgend möglich ist!), ins Zentrum stellt. 19 C.C. Pecknold, The Religious Nature of the City, in: The Postliberal Order [Online-Magazin], 24.01.2022, https://www.postliberalorder.com/p/the-religious-nature-of-the-city In ihr glauben sie den Erweis der natürlichen Ungleichheit der Menschen erbracht. Als zusätzliches Autoritätsargument fungieren Texte antiker Politischer Theorie: Insbesondere Patrick Deneen bezieht sich affirmativ auf die antike Unterscheidung von aristoi und demos und entwirft antikisierend die Idee einer Mischverfassung, in der die natürlichen Tugenden und Laster dieser beiden Gruppen  einander ausgleichen und ergänzen. In der Schlüsselfrage, was die aristoi zu aristoi macht – welche natürlichen Eigenschaften ihnen Herrschaftslegitimation verleihen –, bleibt Deneen so vage wie Postliberalen insgesamt. Es findet sich in postliberalen Texten die Überlegung ausgedrückt, dass Geschlecht (konkret: biologische Männlichkeit) ein Marker von Herrschaftslegitimation ist. 20 Vgl. Evelyn Whitehead (2025): Fragility of Feminism, in: The American Postliberal [Online-Magazin], 12.02.2025, https://www.americanpostliberal.com/p/emotivity-to-empowerment. Davon absehen aber wird der, der nach den Eigenschaften der aristoi fragt, abgespeist mit dem Ungefähren antiker Tugendbegriffe (sophia!, prudentia!) und mit Exempla konkreter aristoi, die die Postliberalen bezeichnenderweise vornehmlich in den christlichen Kaisern und Königen der Spätantike und des Mittelalters finden 21 C.C. Pecknold: Out of the Feverish City: Part Two, in: The Postliberal Order [Online-Magazin], 18.08.2022, https://www.postliberalorder.com/p/out-of-the-feverish-city-part-two. :  

[Y]ou do need a new elite who dare to rule in a way that leads us out of the feverish city  — people like Constantine and Theodosius — men who can tear down the images which disorder us, and who bind themselves to the great Christian reservoir of grace recognize that will make happy the soul and city alike.

Auf den ersten Blick steht die offensiv anti-egalitäre Stoßrichtung des postliberalen Projekts im Widerspruch zu dem Populismus, der nicht nur J. D. Vance‘ Reden kennzeichnet, sondern auch in postliberalen Texten immer wieder aufscheint: Der demos begegnet hier als Hort der widerständigen Rechtgläubigkeit gegen die moralische Korruption der liberalen Elite. Bei genauer Betrachtung lassen die Postliberalen indes keinen Zweifel: Die aufrührerische Kraft des demos ist in ihren Augen notorisch ungerichtet; der demos braucht heute und grundsätzlich der Lenkung durch eine gute Elite: durch die, die zum Führen und Herrschen geboren sind.  

Dezisionistische Anwandlungen

Die Postliberalen beschreiben eine neue politische Welt und sie beschreiben die Gegenwart als Schwelle, in der die Überschreitung stattfinden wird: von einer Epoche abendländischer Geschichte in die nächste. Ihre Theorie des sozialen Wandels beschränkt sich indes auf die Idee des Abfalls: der Degeneration von Gemeinwesen als Konsequenz der Sündhaftigkeit des Menschen. Fraglich bleibt, wie aus einer Situation der Degeneration – als die im postliberalen Blick die Gegenwart sich entdeckt – die Rückkehr auf den Pfad der Tugendhaftigkeit praktisch möglich wird.  

Dort, wo es um die Konturen der postliberalen Ordnung geht, ist das Vokabular der postliberalen Texte eines von Maß und Mitte; von sophia und prudentia; von gelingendem Leben und Harmonie; Einklang und Resonanz; Gnade und Demut; Trost und Familienidylle; Ausgleich und Vergebung. Militant bis zur Kreuzzugs-Rhetorik wird der Ton indes dann, wenn es um die liberale Ordnung und ihre Vertreter geht – diese »thousand globalists, who have let the barbarians through the gates«, 22 Vgl. C. C.  Pecknold, The Briefing Room vom 17. Februar, The Postliberal Order [Online-Magazin], 17.02.2025, https://www.postliberalorder.com/p/the-briefing-room. diese stolze »laptop class« 23 Patrick Deneen, Russia, America, and the Danger of Political Gnosticism, in: The Postliberal Order [Online-Magazin], 02.03.2022, https://www.postliberalorder.com/p/russia-america-and-the-danger-of. , diese korrupte, häretische Elite, die Anarchie und Unordnung über die Welt gebracht hat. Carl Schmitt schreibt in seiner »Politischen Theologie« 24 Schmitt 2015 [1922], S. 59. :  

Überall, wo die katholische Philosophie des 19. Jahrhundert sich in geistiger Aktualität äußert, hat sie in irgendeiner Form den Gedanken ausgesprochen, dass eine große Alternative sich aufdrängt, die keine Vermittlung mehr zulässt. No medium, sagt Newman, between catholicity and atheism. Alle formulieren ein großes Entweder-Oder, dessen Rigorosität eher nach Diktatur klingt als nach einem ewigen Gespräch.

Entweder-Oder: Das ist die große Frage, die mit wachsender Aussicht, sie (via J. D. Vance) tatsächlich politisch entscheiden zu können, in wachsender Dringlichkeit und martialischer Schärfe in den postliberalen Texten intoniert wird. Wo es Gut und Böse gibt, den wahren Glauben und die Häresie, da kann es Vermittlung prinzipiell nicht geben (und vermeintliche Seitengefechte wie jene zwischen Klassen oder den Geschlechtern auch nicht). 

Für die politische Praxis heißt das: Der Postliberale kann sich mit Reformen und Reförmchen nicht begnügen. Er will das bestehende politische System nicht verbessern, er will es sprengen: der regime change ist das erste und oberste Ziel postliberalen Strebens in der Gegenwart. Folgerichtig ist die Zweckgemeinschaft mit den Tech-Akkzelerationisten: Disruption als Prinzip mag den Postliberalen fremd sein; sie denken Politik in Jahrhunderten und Weltzeitaltern. Aber Disruption ist ihnen Gebot der Stunde: Ein notwendiges Übel wie schon der Glaubenskampf gegen die Häresie. In der ihnen eigenen medieval-core-Sprache 25 C.C. Pecknold, The Religious Nature of the City, in: The Postliberal Order [Online-Magazin], 24.01.2022, https://www.postliberalorder.com/p/the-religious-nature-of-the-city. :  

The progressive altar was erected by human hands, and it can be smashed by human hands, just as Theodosius smashed the foul altars of the ancient city. But like Constantine, Theodosius, Charlemagne and Blessed Karl before us, we but also lend our hands to return the altars of the city to God.