Die Wirtschaft als soziale Maschine
Auch wenn die Vereinnahmung Adam Smiths seitens der Neoklassik mehr als fragwürdig ist, gibt es doch ein Wesensmerkmal, das beide verknüpft: Smith überträgt die Methode Newtons auf die Analyse der Ökonomie – und verlangt von den Marktteilnehmer, dass sie von ihrer konkreten Erfahrung abstrahieren. Der überbewusste Markt bedarf der unbewussten Anteilnahme.
Adam Smith gilt als der Ahnvater der Nationalökonomie. Neoliberale sehen in ihm etwa den Entdecker „der unsichtbaren Hand des Marktes“ – das steht in vielen Lehrbüchern der Mikro- und Makroökonomie. Aber solche Deutungen sind historisch gesehen mehr als fragwürdig. Oft pickt man sich einzelne Werke (meist nur den Wealth of Nations) oder gar nur einzelne Textpassagen heraus und verwendet sie als Beleg für eigene Meinungen. Will man Smith gerecht werden, dann muss zumindest zweierlei beachtet werden. Zum einen ist auf die Einheit und Eigenart der vielen Theorien bei Smith abzuzielen. Zum anderen muss versucht werden, grundlegende Begriffe aus und in ihrem historischen Kontext zu verstehen.
Smith nimmt Anleihen bei Newton
Ein bedeutender historischer Kontext ist eine Methode, die damals in hohem Ansehen stand: die Methode Newtons. Der Universalgelehrte Smith versteht (wie in den Lectures on Rhetoric and Belles Lettres formuliert) den Ansatz, den er in Newtons Mechanik verwirklicht sieht, als die eigentliche wissenschaftliche Methode. Die „Newtonsche Methode“ zeichnet sich nach ihm dadurch aus, dass zu Beginn der Analyse grundlegende Prinzipien postuliert werden, um dann schrittweise ein immer komplexeres System zu entwerfen. Dieses Verfahren wendet Smith auf die Sozial- bzw. Moralwissenschaften an. Newton geht in seiner Principia von der Existenz einzelner materieller Körper aus, die mit „essentiellen Eigenschaften“ wie der Trägheitskraft ausgestattet werden. Smith wiederum geht in seinen sozialwissenschaftlichen Ansätzen von der Existenz einzelner Individuen aus. Ihnen werden fixe „essentielle Eigenschaften“ zugeordnet. In der Theory of Moral Sentiments (TMS) besitzen die Individuen „original passions of human nature“ (social, unsocial and selfish passions) und Fähigkeiten wie der imagination. Darauf aufbauend entwirft Smith schrittweise sein Bild der Gesellschaft. In Wealth of Nations (WN) geht Smith von „naturgegebenen“ propensities (wie der „propensity to truck, barter, and exchange“) und Fähigkeiten (wie den productive powers of labour) aus. Sie sollen allen Menschen als anthropologische Konstante zukommen und dienen als Bausteine zur Formulierung seines komplexen Systems der Ökonomie.
Silja Graupe
Ordnung und Freiheit
Smiths Systembilder geben Antwort auf eine im 18. Jahrhundert vieldiskutierte Frage: Wie kann eine stabile Ordnung durch Individuen hervorgebracht werden, die über einen freien Willen verfügen? Müsste eine „liberale Ordnung“ nicht unmittelbar zu Chaos und Bürgerkrieg führen, wie dies Thomas Hobbes im Leviathan behauptet hat? In der Analogie zu Newton liegt für Smith eine Antwort. In dessen Himmelsmechanik halten bekanntlich anziehende und abstoßende Kräfte die Planeten auf stabilen Umlaufbahnen um die Sonne. Dementsprechend konzipiert Smith soziale „Systeme“ so, dass sie unter idealen Bedingungen die Fähigkeit besitzen, sich selbst zu steuern und stabil zu bleiben. Dazu müssen ihre systeminternen „Kräfte“ so arrangiert werden, dass sie gemeinsam ein „Gleichgewicht“ zustande bringen. In diesem Erklärungsrahmen ergibt sich die Stabilität eines sozialen Systems als Eigenschaft des Systems selbst. Ein „äußerer Eingriff“, wie durch einen Herrscher (wie im Absolutismus), durch den Staat (wie bei Hobbes) oder durch die Natur (wie bei den Physiokraten) wird nicht mehr benötigt.
Smiths soziale Theorien beschreiben Gleichgewichtssysteme. In WN bezeichnet ein commercial system eine sich selbst stabilisierende Ordnung. In Differenz zu den Physiokraten wird der Bereich der Produktion in das neue System von Wirtschaft integriert. Die zentrale Kraft kommt aus der Produktion, nämlich aus der „produktiven Arbeit“, hier liegt die Quelle des ökonomischen Reichtums. In der TMS entsteht eine stabile Gesellschaft aus den Wertungen, die Menschen kraft ihrer „natürlichen“ Fähigkeit zur imagination vornehmen. Sie bewerten andauernd (und unbewusst) andere und sich selbst. Auf diese Weise bildet sich in jedem Individuum die innere Instanz eines spectators, der bei gelungener Sozialisation zu einem impartial spectator wird. Bei Smith entsteht und stabilisiert sich die Gesellschaft durch wechselseitige moralische Bewertungen. Das Ergebnis bildet ein emotionales Gleichgewicht – ein solches System gleicht einer Maschine („the great, the immense fabric of human society”), dabei ist die Tugend der Gerechtigkeit verwirklicht. Dieses Merkmal findet sich auch in Smiths Konzept einer commercial society. Smith entwickelt gleichsam die Vision eines moralischen Kapitalismus, der wie eine Maschine läuft.
Systeme sind abstrakt – und unbewusst
Aber diese Deutung sollte nicht vorschnell auf aktuelle Moraldiskurse bezogen werden. Denn Smith erfasst die Wirtschaft in einem abstrakten Konzept, das den Naturwissenschaften des 18. Jahrhunderts entlehnt ist. Dabei müssen sich die Wissenschaftler:innen nicht nur von sich verlangen, dass sie von jeder unmittelbaren Lebenswirklichkeit absehen; sie müssen sich auch vorstellen, dass alle wirtschaftlichen Akteur:innen es ihnen darin gleichtun. Jenseits aller konkreten Erfahrung sollen alle Menschen eine „Maschine des Reichtums“ imaginieren und diese Imagination soll ihnen Erkenntnis- und Handlungsantrieb sein. Sehen wir genauer hin (vgl. dafür umfassender: Silja Graupe: Gefangene der Bilder in unseren Köpfen). In der TMS (182ff.) macht Smith etwa deutlich, dass die Armen jede Erfahrung von Hunger, Kälte und Ausbeutung, und die Reichen beispielsweise die Erfahrung der Leerheit ihrer Reichtümer ausblenden sollen. Insbesondere der Arme soll sich „verzaubern“ lassen „von der entrückten Idee einer Glückseligkeit“.
Walter O. Ötsch
It appears in his fancy like the life of some superior rank of beings, and in order to arrive at it, he devotes himself forever to the pursuit of wealth and happiness.
Abstrakte Vorstellungen von Reichtum treiben also Menschen an, auch wenn Smith explizit darum weiß, dass sie dabei Trugbildern aufsitzen, die sie daran hindern, ihrer eigenen unmittelbaren und konkreten Lebenslage, die stets nur im rastlosen Streben nach Reichtum, niemals aber in dessen Erlangen besteht, gewahr werden zu können:
For this purpose [the pursuit of wealth and greatness, W.Ö. & S.G.] he makes his court to all mankind, he serves those whom he hates, and is obsequious to those whom he despises. Through the whole of his life he pursues the idea of a certain and artificial and elegant repose which he may never arrive at, for which he sacrifices a real tranquility that is at all times in his power, and which, if in the extremity of old age he should at last attain to it, he will find to be in no respect preferable to that humble security and contentment which he had abandoned for.
Wenn Menschen ihren eigenen Zustand von Leid, Schmerz, Verletzungen und Enttäuschungen reflektieren, so wären sie in der Lage zu durchschauen, dass Reichtum nicht als Mittel zum Zweck körperlichen oder geistigen Wohlbefindens dienen kann:
Power and riches appear then to be, what they are, enormous and operose machines contrived to produce a few trifling conveniences to the body, consisting of springs the most nice and delicate, which must kept in order with the most anxious attention, and which in spite of all our care are ready every moment to burst into pieces, and to crush in their ruins their unfortunate possessor. […] They keep off the summer shower, not the winter storm, but leave him always as much, and sometimes more exposed than before, to anxiety, to fear, and to sorrow; to diseases, to danger, and to death.
Doch genau diese Reflexion will Smith nicht zulassen. Statt dass Menschen sich auf ihre eigenen Erfahrungen stützen, um den Reichtum als Illusion zu durchschauen, sollen sie sich vielmehr von imaginären Vorstellungen über diesen Reichtum leiten lassen. Und mehr noch: Auch den Reichtum sollen sie sich nicht konkret vorstellen, sondern sich von der Imagination einer bloß abstrakten Vorstellung der Ordnung leiten lassen, „the regular and harmonious movement of the system, the machine or oeconomy by means of which it is produced.“
Wesentlich ist dabei, dass Smith die Entscheidung über eine solche abstrakte Vorstellung der Wirtschaft nicht dem freien Willen der Menschen überlässt, sondern vielmehr davon auszugehen scheint, dass Menschen sie unbewusst treffen. So heißt es etwa in der TMS (183):
We naturally confound it [the beauty of the system, W.Ö. und S.G.] in our imagination with the order, the regular and harmonious movement of the system, the machine or oeconomy by means of which it is produced. The pleasures of wealth and greatness, when considered in this complex view, strike the imagination as something grand and beautiful and noble, of which the attainment is well worth all the toil and anxiety which we are so apt to bestow upon it.
Der überbewusste Markt
Smith verweist in seiner “Handlungstheorie“ auf einen „inneren“ impartial spectator. Dieser verkörpert die gesellschaftlich dominanten Moralregeln und entfaltet unbewusst seine Wirkung. Dabei beziehen sich die Individuen nicht auf ihre konkreten Erlebnisinhalte, sondern auf abstrakte Vorstellungen, auch über das System der Wirtschaft selbst. Das Unbewusste ist für Smith die Voraussetzung für die Existenz einer sozialen Maschine, die ja durch die gemeinsamen Imaginationen der Individuen zustande kommt. Smith spricht unbewusste Vorgänge an, löst sie aber nicht kritisch-reflektorisch auf. Der zentrale Konflikt von Freiheit und Ordnung findet seine „Lösung“ im Verweis auf unbewusste Prozesse. Smith kann ein geordnetes und stabiles System, das einem aus der Mechanik entlehnten Denkschema folgt, nur dadurch konzipieren, dass er die Systemebene direkt in das Unbewusste der Individuen verlagert – und zwar als ein kollektives, d.h. allen gemeinsames Unbewusstes.
Dieses Konzept macht den Weg einerseits frei zu einer Entwicklung, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zur Neoklassik (worin es kein genuines „Innenleben“ mehr gibt) und im 20. Jahrhundert zu neoliberalen Deutungen führt, wo (wie in Hayeks Wissenskonzept) die Akteure unbewusst den Preisvorgaben „des überbewussten Markt“ folgen und folgen müssen – zugleich wird ihnen verwehrt, bewusst über „den Markt“ reflektieren zu können (vgl. dazu: Walter Ötsch: Mythos Markt, Mythos Neoklassik). Andererseits verschließt dieses Konzept sämtliche Zugänge, um zu verstehen, wie Menschen in und aus Erfahrungen lernen und ihr Zusammenleben gemeinsam sinnstiftend gestalten können. In unseren hochgradig ungewissen und komplexen Zeiten, in denen gerade Illusionen zerschellen, Wirtschaft und Gesellschaft könnten am Ende doch noch wie vorhersehbare maschinelle Systeme gestaltet sein, ist dies keine gute Nachricht.