Großes Kino

In ihrer Replik auf Mark Schieritz erinnert Carlotta Voß mit Leo Strauss daran, dass eine liberale Demokratie mehr braucht als Selbstzufriedenheit: nämlich das Bemühen, ihre Kritiker zu verstehen, statt sie bloß zu belehren. Ein Plädoyer für intellektuelle Redlichkeit – und für politisches Denken, das den Namen verdient.

»Wer Aufregung will, soll ins Kino gehen« – so rief es Mark Schieritz mit vornehmer Herablassung jüngst all jenen zu, die in seiner Lesart politische Systemsprenger sind: den Utopisten von »Rechtsaußen« und von »Linksaußen« gleichermaßen. 1 https://www.zeit.de/politik/2025-06/wahlverhalten-politische-rechte-linke-5vor8. Schieritz hält ihnen ein Lob auf den politischen Status quo entgegen: Der möge »langweilig« sein, aber er sei eben – in seiner Rechtsstaatlichkeit, in seiner Wohlfahrtsstaatlichkeit – eine historische Errungenschaft. Er sei außerdem – im Vergleich zum »Chaos« der Alternative, das für Schieritz an der Trump-Regierung ansichtig wird – außerordentlich problemlösungskompetent in ökonomischen und gesellschaftlichen Fragen. 

Nun muss sich jeder Text die folgende Frage gefallen lassen: Wer sind seine Adressaten? Schieritz’ Text richtet sich in erster Linie an zwei Gruppen: Erstens an die Systemsprenger und ihre Sympathisanten – sie will er überzeugen von der Futilität und sittlichen Unreife ihres »radikalisierten Veränderungswillens«. Zweitens an die liberale »Mitte«, die sich politisch in Abgrenzung zu »links« und »rechts« verortet und die sich dem bundesrepublikanischen Status quo verbunden fühlt – ihr will er Argumente liefern gegen den utopistischen Überschuss der sogenannten Ränder.

Aber was hat der Text diesen beiden Gruppen zu sagen? Im Hinblick auf die selbstgefühlte »Mitte« sei an dieser Stelle nur leise angemerkt: Schieritz’ launiges Urteil über Verantwortungslosigkeit und Undankbarkeit der Systemkritiker von links wie rechts mag gefühlsmäßig jene abholen, die sich im Status quo wohlfühlen und habituell auf bürgerliche Contenance und preußische Tugenden halten. Argumente für den Status quo respektive die Republik liefert der Text aber nicht; dafür sind Schieritz Begriffe zu grob und polemisch. Wann wird Veränderungswille »radikal«? Wer ist darüber zu Urteilen befugt? Was ist »Chaos«? Und inwiefern wird die herrschende Ordnung der »Ordnung« im normativen Sinne gerecht?  Hierzu hat der Text nichts zu sagen.

Carlotta Voß

Dr. Carlotta Voß ist politische Referentin in Berlin. Zu ihren Veröffentlichungen gehören: »Ironie und Urteil. Ironische Historiographie und die Entdeckung des Politischen bei Thukydides«, Vandenhoeck & Ruprecht 2024, und »The Riddle of the Great-Souled eiron. Virtue, Deception and Democracy in the Nicomachean Ethics«, Elenchos 44/2 (2023). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Politischen Theorie der Antike und des frühen 20. Jahrhunderts.

Wie funktioniert der Text als Replik auf die Systemsprenger? Eine direkte Antwort auf diese Frage setzt voraus, jene ex negativo definierte Gruppe zu verstehen: in ihren Leidenschaften, in ihren Vorwänden und Gründen für die Ablehnung der Republik. Mark Schieritz selbst ist aber wenig um Verstehen bemüht: Linke wie rechte Systemkritik erscheint bei ihm als Dekadenzsymptom, als Ennui, der zu tadeln und zu bekämpfen, nicht zu verstehen ist. 

Ein Blick in die Geschichte hilft – wie so oft – die Dinge hinreichend zu verkomplizieren, um sich gegen allzu einfache Erzählungen zu immunisieren. 1941 hält Leo Strauss im US-amerikanischen Exil einen Vortrag, in dem er einer ähnlichen Frage nachgeht wie Schieritz – aus einer anderen historischen Position allerdings: Strauss fragt nur wenige Jahre nach dem Untergang einer Republik, nämlich der Weimarer Republik, warum diese Ordnung so rasch hinweggefegt werden konnte von einer Gruppe Systemsprenger, die außer Zerstörung des Bestehenden ideell wenig zu bieten hatten. Er nennt sie: die »deutschen Nihilisten«. Gemeint sind ausdrücklich nicht nur – und nicht einmal vornehmlich – die Nationalsozialisten in Parteigestalt, sondern die Spengler-Schmitt-Jünger-lesenden jungen Männer, die in den 1920er- und 30er-Jahren mit Wort und Tat gegen die Moderne als moralische Idee, gegen die offene Gesellschaft, gegen die junge Weimarer Republik mobil machten.

Wie kommt es, fragt Leo Strauss, dass die liberalen Kräfte ihnen nichts entgegensetzen konnten? Und seine Antwort ist: Weil die Verteidiger der Republik nicht einmal versucht hätten, die Leidenschaften und Antriebe ihrer Herausforderer zu verstehen. Vielmehr hätten sie sich intellektuell wie moralisch über die inhaltliche Inkonsistenz der Disruptionswütigen erhoben – und im defensiven Modus der Apologie die Republik als Bollwerk gegen »Chaos« verteidigt. 

Leo Strauss tritt mit seinem Vortrag an, die versäumte Arbeit nachzuholen. Er versucht, den »deutschen Nihilismus« tatsächlich zu verstehen: mit historischen, ideengeschichtlichen, soziologischen Mitteln. Er versucht zu identifizieren, inwieweit die artikulierte Kritik an der »Moderne« legitim war und wo sie in den »Nihilismus« respektive Faschismus kippte. Viel an seiner Tiefenbohrung hält Erkenntnispotential auch für die (»postliberalen«, anarcho-libertären – you name it!) Systemsprenger bereit. Vor allem aber ist die Tiefenbohrung als solche vorbildlich: als Aufforderung, die politische Gegenwart und ihre Akteure in ihren historischen Bedingungen zu verstehen und die Gegner der Republik ernst zu nehmen. Bei Politik & Ökonomie versuchen wir einen Beitrag dazu zu leisten. 2 Ebenfalls in der ZEIT ein Anfang macht auch Robert Pausch, vgl. https://www.zeit.de/2025/26/strategie-afd-maximilian-krah-goetz-kubitscheck-gruene

Strauss bemerkt übrigens, dass (Ideen-)Geschichte und Soziologie Mittel des Verstehens unter anderen sind. An einer Stelle seines Vortrags seufzt er: »Man müsste die Begabung eines dichterischen Reporters besitzen, die mir völlig abgeht, um denen, die nicht viele Jahre im Deutschland der Nachkriegszeit [gemeint ist hier die Zeit nach dem 1. Weltkrieg] gelebt haben, einen angemessenen Eindruck der Leidenschaften zu geben, die dem deutschen Nihilismus unterlagen.« 3 Leo Strauß, On German Nihilism (1941), S. 359, meine Übersetzung. 

Diese Arbeit des Beschreibens und Verstehens für die Gegenwart zu leisten – das wäre großes journalistisches Kino. Und ein echter Verdienst nicht am Status quo, sondern an der Republik mit ihrem ganzen Fortschrittspotential.