In Alternativlosigkeit sterben?
Die Debatte um den Liberalismus steht vor einem Dilemma: Entweder man verteidigt ihn so, wie er ist, oder man verwirft ihn komplett. Aber sind das wirklich die einzigen Optionen, die wir heute haben? Mit seinem Buch »Liberalism Against Itself« verneint Samuel Moyn diese Frage und stellt damit auch zur Debatte, ob nicht ein besserer Liberalismus vorstellbar wäre.
Ist der Liberalismus noch zu retten? In den USA ist nach dem ersten Wahlsieg von Donald Trump ein Streit um diese Frage entbrannt. Angestoßen wurde sie von dem Notre-Dame-Professor Patrick Deneen. In seinem Buch »Why Liberalism Failed« (2018) hat dieser die Krise der liberalen Demokratie auf den Liberalismus selbst zurückgeführt. Durch seinen ungezügelten Individualismus habe der Liberalismus die gesellschaftlichen Grundlagen der Demokratie zerstört. Religion, Nation und gute Staatsbürgerschaft wurden nach und nach entwertet. Zugleich hat der neoliberale Kapitalismus für eine immer stärkere ökonomische Spaltung der Gesellschaft gesorgt. So sind die Bedingungen für den Aufstieg von Donald Trump entstanden. Heute befindet sich die liberale Demokratie in einem unaufhaltsamen Zerfallsprozess, behauptet Deneen.
Auf der anderen Seite der Debatte steht der altbekannte Intellektuelle Francis Fukuyama. Er betont, dass das Herzstück des Liberalismus der Individualismus ist. Um den Menschen in einer liberalen Gesellschaft freie Entfaltung zu ermöglichen, müsse sich der Staat aus persönlichen Lebensbereichen heraushalten und die Autonomie des Einzelnen durch Grund- und Freiheitsrechte schützen, andernfalls würden die Bürger den Übergriffen staatlicher Macht überantwortet. Anstatt den Liberalismus also zu verdammen und für gescheitert zu erklären, argumentiert Fukuyama, sollte man ihn wieder zelebrieren 1 Fukuyama 2022, S. I: »I believe that liberalism is under severe threat around the world today; while it was once taken for granted, its virtues need to be clearly articulated and celebrated once again.« und gegen seine Feinde – Rechtspopulisten, aber auch linke Aktivisten – verteidigen.
Ein falsches Dilemma
So wirkt die Debatte um den Liberalismus leider festgefahren und wenig produktiv. Es stehen nämlich nur zwei Optionen im Raum: Entweder man ist für den Liberalismus so, wie er real existiert, oder man ist gegen ihn. Wenn man aber gegen den Liberalismus ist, dann ist man für einen Illiberalismus. Man könnte deshalb auch sagen, dass die Debatte alle Beteiligten vor ein Dilemma stellt: Entweder man verteidigt den Liberalismus so, wie er heute ist, oder man verwirft ihn komplett. Hop oder top, tertium non datur. Aber sind das wirklich die einzigen Optionen, die wir heute haben?
Eine dritte Position vertritt Samuel Moyn — Ideenhistoriker und Professor an der Yale Law School. In seinem neuen Buch »Liberalism Against Itself« (2023) kritisiert er, dass die gegenwärtige Debatte um den Liberalismus nicht weiterhilft, da seine Verteidigung immer noch in den Begriffen des sogenannten »Cold War Liberalism« formuliert wird. Dieser minimalistische und ängstliche Liberalismus, der in der Mitte des 20. Jahrhunderts entstand, hat den Liberalismus nachhaltig geprägt. Bis heute dauert sein starker Einfluss noch an, obwohl der Kalte Krieg seit Jahrzehnten vorbei ist. Hieran kritisiert Moyn nicht einfach, dass dieser Einfluss heute anachronistisch ist, vielmehr kritisiert er die Selbstverständlichkeit, mit welcher Kritiker und Befürworter den heutigen Liberalismus für alternativlos halten 2 Moyn 2023, S. 173 :
Otmar Tibes
Deneen’s essay led the way in opening a new era of passionate argument about the fate of liberalism in our age. […] Read carefully, Deneen’s arguments were most credible in their attacks not on liberalism […] but on Cold War liberalism and its successors, neoconservatism and neoliberalism. And yet Deneen’s opponents tended to defend Cold War liberalism without thinking about why it bred such discontent and found itself perpetually embattled, not just in its own right but also because of its devastating progeny. Both sides seemed to take for granted that condemning and rescuing liberalism could never involve reinventing it beyond its Cold War form.
Das ist eine interessante Intervention. Anstatt sich auf die ein oder andere Seite zu schlagen, hinterfragt Moyn eine stille Prämisse der aktuellen Debatte. Diese Prämisse ist tückisch, denn sie impliziert, dass der Liberalismus in seiner heutigen Form bereits zu Ende gedacht ist. Über die bestehenden Doktrinen – Individualismus, negative Freiheit und negative Geschichtsphilosophie – hinaus gibt es nichts mehr, was dem Liberalismus noch fehlt. Der Liberalismus wirkt daher vollendet und wie der Weisheit letzter Schluss oder, aus der Sicht seiner Feinde und Kritiker, wie ein ganz und gar gescheitertes Projekt.
Liberalismusstreit
Ein Vorankommen in der Debatte scheint so kaum noch möglich. Patrick Deneen hat sich in seiner Position fest verschanzt: Für ihn hat der Liberalismus sich nach seinem historischen Sieg von 1989 politisch vollendet 3 Deneen 2022: »1989 wasn’t the End of History; it was the beginning of the end of liberalism.« . Dieser Sieg war jedoch ein Pyrrhussieg, da die politischen Ideen des Liberalismus, so Deneen, grundverkehrt sind. Je erfolgreicher sie umgesetzt wurden, desto klarer mussten auch ihre inneren Widersprüche zutage treten. Demnach begründet der politische Erfolg des Liberalismus zugleich auch seinen Niedergang; die Krise der liberalen Demokratie ist nichts anderes als die logische Folge seines Triumphs 4 Deneen 2018, S. 3-4: »Liberalism has failed-not because it fell short, but because it was true to itself. It has failed because it has succeeded. As liberalism has „become more fully itself,“ as its inner logic has become more evident and its self-contradictions manifest, it has generated pathologies that are at once deformations of its claims yet realizations of liberal ideology.« .
Die Ursachen der Krise verortet Deneen damit in den Doktrinen des Liberalismus selbst. Eben diese These versucht Fukuyama abzuwehren. Im Gegensatz zu Deneen behauptet er, dass die Doktrinen des heutigen Liberalismus nach wie vor richtig sind 5 Fukuyama 2022, S. IX: »Populists on the right and progressives on the left are unhappy with present-day liberalism not, I would argue, because of a fundamental weakness in the doctrine. Rather, they are unhappy with the way that liberalism has evolved over the last couple of generations.« . Die Krisenursache liegt daher nicht in den liberalen Ideen, sondern in einer falschen Umsetzung derselben. In seinem Buch »Liberalism and It‘s Discontents« (2022) setzt Fukuyama sich kritisch mit dem Neoliberalismus auseinander und kommt zu dem Schluss, dass die Exzesse des neoliberalen Kapitalismus schädlich für die liberale Demokratie gewesen sind. Indem sie einen gefährlichen Anstieg ökonomischer Ungleichheit gefördert haben, setzten sie die Bedingungen für den Aufstieg von Donald Trump.
Historisch räumt Fukuyama damit ein, dass der Neoliberalismus zum Erfolg von Donald Trump beigetragen hat, allerdings weigert er sich die ideologischen Konsequenzen daraus zu ziehen. Angeblich sind die politökonomischen Ideen des Neoliberalismus mit den Doktrinen des klassischen Liberalismus unvereinbar, da sie extreme Fehlinterpretationen derselben sind 6 Fukuyama 2022, S. X-XI: »These threats to liberalism are not symmetrical. The one coming from the right is more immediate and political; the one on the left is primarily cultural and therefore slower-acting. Both are driven by discontents with liberalism that do not have to do with the essence of the doctrine, but rather with the way in which certain sound liberal ideas have been interpreted and pushed to extremes.« . So externalisiert Fukuyama die Ursachen der Krise jedoch, da er sie auf die »Irrtümer« seiner Anhängerinnen und Anhänger zurückführt, nicht auf den Liberalismus selbst. Der Neoliberalismus war, so könnte man mit anderen Worten auch sagen, bloß ein historischer Irrtum.
Obwohl Deneen und Fukuyama einander fundamental widersprechen, kommen beide stillschweigend darin überein, dass ein »besserer« Liberalismus weder möglich noch nötig sei. Deneen hält es für unmöglich, weil die widersprüchlichen Doktrinen des Liberalismus sowieso zum Scheitern verurteilt sind. Für ihn war der Neoliberalismus kein Irrtum oder Unfall, sondern eine folgerichtige Umsetzung liberaler Ideen 7 Deneen 2022: »The noteworthy phrase in [Fukuyamas] claim is “properly understood,” the ultimate keep of the fantastist presented with contradictory empirical evidence. Only liberalism without its attendant pathologies is real liberalism, that is, liberalism “properly understood.” A liberalism that generates our deep and pervasive discontents is merely based on a misunderstanding.« . Fukuyama hingegen hält eine Erneuerung des Liberalismus für unnötig, weil dieser sich historisch bewährt habe — trotz historischer Irrtümer und Fehlentwicklungen 8 Fukuyama 2020: »Classical liberalism is perfectly compatible with a strong state that seeks social protections for populations left behind by globalization, even as it protects basic property rights and a market economy. Liberalism is necessarily connected to democracy, and liberal economic policies need to be tempered by considerations of democratic equality and the need for political stability.« .
Wo Fukuyama irrt
Offensichtlich gibt es ein paar Probleme mit Fukuyamas Krisenanalyse. Denn sie läuft auf eine paradoxe Lösung hinaus: die Krise des Liberalismus soll mit demselben oder einem ganz ähnlichen Liberalismus geheilt werden, wie er heute existiert. In einer Rezension zu Fukuyamas Buch hat Moyn das 2021 kritisch kommentiert 9 Moyn 2021 :
At stake is whether it is possible to save the 19th-century liberal project from its complacent and compromising alliance with the wrong economics. (In fairness, Mill, having once seen markets producing the conditions for originality, recognized that the plan wasn’t working and moved closer to socialism.) If liberalism’s core aim was to reclaim the politics of personal and collective meaning from outworn tradition, while skirting soulless materialism in the process, the results have fallen far short of perfect. And if liberalism has failed so badly in both the past and the present, is it plausible to think it can pivot now?
Darüber hinaus kann der Neoliberalismus und Cold War Liberalismus ideologisch nicht einfach voneinander getrennt werden. Dem späteren Triumphzug des Neoliberalismus (und Neokonservatismus) hat der Cold War Liberalismus schließlich Aufschub geleistet 10 Moyn 2023, S. 5: »Cold War liberalism grew up in the presence of the most egalitarian and emancipatory state liberals ever built, but failed to defend it in theory, leaving it exposed and vulnerable in our time. And if Cold War liberals are to blame for failing to defend the welfare state, they were at one with the neoliberals in castigating modernity as proto-totalitarian, treating the Enlightenment as a rationalist utopia that precipitated terror and the emancipatory state as a euphemism for terror’s reign. No wonder the associations and silences alike of this body of thought, whatever the intent of those who built it, helped cast the die for a later era.« . Nicht nur indem er seine politökonomischen Vorstellungen unhinterfragt akzeptiert hat, sondern auch indem er ganz ähnliche Doktrinen vertrat – Individualismus, negative Freiheit und Antietatismus. Letztlich haben beide Liberalismen den emanzipatorischen Staat als Terrorstaat verleumdet und die Aufklärung als proto-totalitär verdammt. Es ergibt daher keinen Sinn, nur den Neoliberalismus abzulehnen und den Cold War Liberalismus beizubehalten. Man kippt dann das Badewasser aus, behält aber das Problemkind 11 Moyn 2023, S. 5 :
The way to keep freedom alive was by abandoning hope and confronting transgression. And beyond all these limitations, Cold War liberalism also gave rise to successor movements that have defined our times in even more restrictive terms: neoliberalism and neoconservatism. Like the mythological character who angered the gods and was condemned to give birth to monsters in consequence, Cold War liberalism is worth examining in its own right, and for what came next.
Wo Deneen irrt
Wie Deneen verortet also auch Moyn die Ursachen der Krise im Liberalismus selbst. Allerdings sieht er den holistischen Ansatz von Deneen kritisch; er nimmt ihm seine »postliberale« Fundamentalkritik schlicht nicht ab. In einer Rezension zu »Why Liberalism Failed« bemerkt er, dass sich auch Deneen an liberalen Werten orientiert, wenn er den Liberalismus kritisiert. Selbst wenn Werte wie ökonomische Gleichheit oder soziale Gerechtigkeit heute nicht unbedingt als liberal gelten, gehören sie ideengeschichtlich zur liberalen Tradition dazu. Erst mit dem Aufstieg des Cold War Liberalismus in der Mitte des 20. Jahrhunderts wurden sie als »illiberal« diffamiert. Warum also den Liberalismus verabschieden, wenn man an wichtigen Elementen seiner Tradition festhalten will? In seiner Rezension hält Moyn Deneen diesen Widerspruch kritisch entgegen 12 Moyn 2018 :
[Deneen] not only concedes that liberalism conserves some good things from the past, but also that is a permanent bequest for any future. And while arguing that liberalism has self-destructed, in the end Deneen, unlike some other critics of liberalism, is sensitive to the high costs of many foreseeable alternatives, starting with our current leader’s [Donald Trump] politics. For both reasons, it turns out that Deneen is an advocate of saving liberalism from its own worst tendencies. Once you drop his incredible premise that there is some unified system producing these pathologies through its own workings, a system that will stand or fall as a unit, it turns out that he recognizes the real challenge of today as to isolate the bad and replace it with the good.
Dieses Argument trifft Deneen an einer empfindlichen Stelle. Denn: Wie lässt sich der Liberalismus überwinden, wenn man auf dessen eigene Werte zurückgreifen muss, um ihn zu kritisieren? Wendet man den Liberalismus dann, um es mit dem Titel von Moyns Buch zu sagen, nicht »gegen sich selbst«? Die provokante Selbstbezeichnung »postliberal« wirkt etwas zu hoch gegriffen. Trotz seiner Liberalismuskritik bleibt Deneen ein Liberaler. Zwar plädiert er für eine »postliberale Ordnung« und wirbt für konservative Werte wie Religion, Familie und Patriotismus, doch lehnt er Revolutionen kategorisch ab und fordert auch keine Überwindung des Kapitalismus, sondern lediglich eine stärkere Einhegung desselben. Seine Position verdient zweifellos das Prädikat »konservativ«, bleibt letztendlich aber ein konservativer Liberalismus. Nicht ohne Grund wird Deneen auch von postliberaler Seite kritisiert, zu liberal zu sein 13 Vermeule 2018: »At the stage of diagnosis, Deneen is masterful; at the stage of prescription, he relapses into liberalism (or more accurately, as I will explain, into liberalism’s false image of itself).« .
The Making of Our Times
Doch welche Erklärung hat Moyn für die Entstehung der heutigen Krise anzubieten? In seinem Buch führt er die Ursachen auf den Cold War Liberalismus und dessen Nachfolger zurück, die sich seiner Ansicht nach verheerend auf den Liberalismus ausgewirkt haben. Dieser habe nicht nur die ideologische Ausrichtung des Liberalismus negativ verändert, sondern ihn auch auf verheerende Weise entstellt.
Wie konnte das passieren? Mitte des 20. Jahrhunderts blickten liberale Intellektuelle pessimistisch auf die Welt mit ihren verheerenden Weltkriegen, den mörderischen Totalitarismen und der Atomkriegsgefahr. Sie kamen zu dem fragwürdigen Schluss, dass die »optimistischen« Ideale der Aufklärung für die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts verantwortlich waren. Progressive Ideale wie die Perfektibilität wurden als illiberal und protototalitär verleumdet, da auch Sozialisten und Kommunisten sich auf sie beriefen. Denker wie Rousseau, Hegel und auch Marx sind in Verruf gebracht worden, weil ihre Ideen angeblich die politischen Verbrechen des 20. Jahrhunderts begründet haben. Vorwürfe wie diese waren ausschlaggebend dafür, allerlei klassische Werke aus dem liberalen Kanon zu verbannen und in einen Antikanon zu sortieren.
Auf diese Weise haben sich Liberale wichtiger intellektueller Ressourcen entledigt. Das Ergebnis war ein sterilisierter und depotenzierter Liberalismus. War der Liberalismus seiner positiven Ideale nämlich erstmal beraubt, konnten Liberale die Freiheit nur noch negativ denken: als eine vom Staat ewig bedrohte Errungenschaft, die vor diesem geschützt und bewahrt werden muss. Auch emanzipatorische Projekte wurden als eine ständige Gefahr für die Freiheit angesehen. Wo immer sie aufkamen, ob im Westen oder im globalen Süden, hat man ihnen eine politische Absage erteilt. Ihre praktische Umsetzung würde nämlich sonst — Achtung: Geschichtsphilosophie! — unweigerlich in den Totalitarismus führen. So haben Liberale ihre Ideale im Kalten Krieg aufgegeben, anstatt sie gegen ihre Feinde zu verteidigen. Sie haben sie verraten, weil es urliberale Ideale sind.
An die Stelle der Verwirklichung von Freiheit ist im Zuge dieser Umwälzung ein ängstlicher Liberalismus getreten. Heute besitzen Liberale ein vergleichsweise limitiertes — man müsste sagen: amputiertes — Freiheitsverständnis. Dieses entbehrt nicht nur politischer Visionen, wie liberale Gesellschaften mit mehr Freiheit einmal aussehen könnten, es verknüpft jeden politischen Anspruch auf die Verwirklichung solcher Gesellschaften mit katastrophalen Erwartungen, nicht mit Hoffnung. Wenn Fortschritt überhaupt noch denkbar sein soll, dann ist dieser nur technologisch oder ökonomisch denkbar, aber eben nicht politisch. Politisch bleibt den Menschen nichts anderes mehr zu hoffen, als ein Erhalt des Status quo. Der Cold War Liberalismus hat nicht nur einen ängstlichen und pessimistischen Liberalismus geschaffen, sondern einen zutiefst konservativen.
In Alternativlosigkeit sterben?
So muss der heutige Liberalismus jede politische Alternative von vornherein ausschließen. Oder mit anderen Worten: There is no alternative. Eben diese Alternativlosigkeit steht heute, dreißig Jahre nach dem historischen Sieg des Liberalismus, infrage. Denn es hat sich in den Jahren nach 1989 eine politische Alternative aufgetan, mit der kaum ein Liberaler gerechnet hat: die Möglichkeit einer illiberalen Demokratie. Dass diese Alternative ausgerechnet im Westen populär geworden ist, bringt Liberale in Erklärungsnot. Denn eigentlich dürfte es diese Alternative nach dem »Ende der Geschichte« gar nicht geben. Die Feinde der liberalen Demokratie sind jedoch derart erstarkt, dass die liberale Demokratie nach den Krisen der letzten Jahre — globale Finanzkrise, Brexit, Donald Trump — selbst in eine Krise geraten ist. Sie wird von Rechtspopulisten und sogar von Faschisten bedrängt. Ob sie sich gegen diese Feinde behaupten kann, ist völlig offen.
Oder vielleicht auch nicht? Momentan sieht es nicht danach aus, als wüssten Liberale den Angriffen von Faschisten und Rechtspopulisten wirklich etwas entgegenzusetzen. Sie sehen zwar, wie die Lage immer schlimmer wird und das Lager ihrer Feinde immer stärker. Zugleich wirken sie aber ratlos, wie sie dieser Gefahr begegnen können. Anstatt ihre politische Vorstellungskraft wiederzuentdecken, krallen sie sich umso fester an ihre überkommenen Glaubenssätze fest. Das verwundert kaum, wenn man an die Entwicklung des Liberalismus seit 1989 denkt. Während Liberale in der Nachkriegszeit um den Erhalt erreichter Freiheiten fürchteten, glauben sie heute, dass das historische Menschheitsziel der Freiheit nur noch im Bestehenden erreichbar ist — oder eben gar nicht. Das sogenannte »Ende der Geschichte«, wie Fukuyama 1989 schrieb, liegt nicht mehr in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit. Gemäß dieser Geschichtsphilosophie verteidigen Liberale den Status quo umso verbissener.
Aber was ist, wenn genau diese Haltung zur Gefahr für die liberale Demokratie wird? Wenn Liberale also – horribile dictu! – selbst zur Bedrohung für die Freiheit werden? Vor dieser Gefahr warnt auch Samuel Moyn in seinem Buch 14 Moyn 2023, S. 7: »Worst of all, judged by its consequences not just in its time but ever since, Cold War liberalism has failed. Every day, more and more, we see that its approach bred as much opposition as it overcame, and created the conditions not for universal freedom and equality but for the waves of enemies such liberals keep finding at the gates-or already inside them. Its anxious, minimalist approach to the preservation of freedom in a perilous world has been inimical to freedom itself, not merely to other ends like creativity, equality, and welfare. It is time to reexamine Cold War liberalism, rather than revive it yet again.« . Anstatt dogmatisch an den heutigen Doktrinen festzuhalten, ruft er Liberale dazu auf, die Doktrinen des heutigen Liberalismus zu überdenken. Nicht um den Liberalismus zu verwerfen, sondern um ihn zu retten. Vielleicht erkennen Liberale dann auch, dass sie an der Entstehung der heutigen Krise nicht unschuldig sind. Vielfach haben sie für den Aufstieg ihrer Feinde mit gesorgt. Diesen historischen Zusammenhang können sie aber nicht begreifen, so lange sie den Rechtspopulismus und Faschismus als das komplett Andere der liberal-demokratischen Ordnung verstehen, und die Krisenursachen damit externalisieren. Die historische Entstehung der Krise — und ihre weitere Zuspitzung — muss ihnen so lange rätselhaft bleiben, wie sie ihren kritischen Blick nicht auf sich selbst und den Liberalismus richten 15 Letztendlich könnte diese Blindheit Liberalen zum Verhängnis werden. »Heilmittel« wie Privatisierungen, Haushaltskonsolidierungen oder Steuersenkungen für Spitzenverdiener (etc.) können die gesellschaftlichen Entwicklungen, die den Aufstieg des Rechtspopulismus gezeitigt haben, nicht korrigieren. Sie werden die Polarisierung der Gesellschaft nur noch weiter verstärken. Für den Erfolg Populismus ist diese aber eine ganz entscheidende Bedingung. .
In dieser kritischen Lage sollten Liberale also Abstand zum heutigen Liberalismus gewinnen. Andernfalls drohen sie den Kampf um den Erhalt der liberalen Demokratie zu verlieren. Heute laufen der Liberalismus und die liberale Demokratie Gefahr, so zugespitzt muss man es sagen, in Alternativlosigkeit zu sterben. Allerdings schreibt Moyn in seinem Buch, dass der Cold War Liberalismus nicht das Schicksal des Liberalismus sein muss. Anstatt bei diesem stehenzubleiben und intellektuell zu stagnieren, können Liberale den Liberalismus auch anders — und besser — denken 16 Moyn 2023, S. 11 :
Yet Cold War liberalism is not our fate. If the great debate about liberalism of the past few years continues, we should consider pluralizing our options. Our best chance to save liberalism will be by reaching back to before the Cold War creed we have inherited for the sake of an entirely new version. Reexamining the makings of Cold War liberalism reminds us that it matters less that we preserve and rescue traditions than that we exercise our freedom to reconfigure them beyond their limitations for the sake of our collective future.
Literatur
Deneen, Patrick J. (2018): Why Liberalism Failed. Yale University Press.
Deneen, Patrick J. (2022): The End of Fukuyama, in Postliberal Order, 22. Mai, https://www.postliberalorder.com/p/the-end-of-fukuyama, letzter Zugriff: 02.11.2024.
Fukuyama, Francis (2020): Liberalism and Its Discontents, in Persuasion, 05. Oktober, https://www.persuasion.community/p/liberalism-and-its-discontent, letzter Zugriff: 02.11.2024
Fukuyama, Francis (2022): Liberalism and Its Discontents. Profile Books Ltd.
Moyn, Samuel (2018): Neoliberalism, Not Liberalism, Has Failed, in Commonweal Magazine, 03. Dezember, https://www.commonwealmagazine.org/neoliberalism-not-liberalism-has-failed, letzter Zugriff: 02.11.2024
Moyn, Samuel (2021): The Left’s Due—and Responsibility, in Persuasion, 25. Januar, https://www.persuasion.community/p/the-lefts-due-and-responsibility, letzter Zugriff: 02.11.2024
Moyn, Samuel (2023): Liberalism Against Itself. Cold War Intellectuals and the Making of Our Times. Yale University Press.
Vermeule, Adrian (2018): Integration From Within, in American Affairs, https://americanaffairsjournal.org/2018/02/integration-from-within/, letzter Zugriff: 02.11.2024