
Patrick Deneen Imago/TT, Francis Fukuyama Wikipedia Commons/Gobierno de Chile, Cornel West © Princeton University, Deirdre McCloskey © Cato Institute
Ist der Liberalismus noch zu retten?
In den letzten Jahren ist ein langjähriger globaler Konsens zur Überlegenheit des Liberalismus zerbrochen. Hat der Liberalismus sein Versprechen gebrochen, für Stabilität und gemeinsamen Wohlstand zu sorgen? Und wenn ja, gibt es realistische Alternativen? Über die Zukunft des Liberalismus haben Francis Fukuyama, Patrick Deneen, Cornel West und Deirdre McCloskey miteinander diskutiert.
Das folgende Gespräch fand am 19. Oktober 2022 im Crosby Street Hotel in New York City statt. Christopher Beha, der Chefredakteur des Harper’s Magazine, moderierte die Diskussion.
I. Auf der Seite des Demos
CHRISTOPHER BEHA: Wir sind hier, um über die Krise des Liberalismus zu sprechen. Ich möchte mit einer allgemeinen Frage beginnen: Was bedeutet der Begriff »Liberalismus« für jeden von Ihnen? Bezieht er sich auf eine bestimmte Form der Ökonomie, ein politisches Regime, ein Bündel von Grundrechten und Garantien, oder auf eine Sichtweise der menschlichen Natur bzw. menschlichen Entwicklung? Was ist Liberalismus?
FRANCIS FUKUYAMA: Ich würde damit beginnen, zu sagen, was ich nicht unter Liberalismus verstehe. In den USA meint »liberal« jemanden, der links der Mitte steht, Gleichheit priorisiert und möchte, dass die Regierung mehr tut, um diese zu fördern. In Europa hingegen bedeutet »liberal«, dass jemand rechts der Mitte steht, Freiheit priorisiert und weniger Staateingriffe wünscht. Diese wirtschaftlichen Definitionen fassen den Kern des Liberalismus meiner Meinung nach nicht. Für mich dreht Liberalismus sich um die Grundannahme einer gleichen Würde, die für alle Mitglieder unserer Spezies gilt, sowie um die Idee, dass diese Würde letztlich auf moralischer Selbstbestimmung beruht. Also unserer Fähigkeit, selbst moralische Entscheidungen zu treffen. Liberalismus wird durch die Herrschaft des Rechts institutionalisiert, die politische Macht so einschränkt, dass Regierungen diese Selbstbestimmung nicht beeinträchtigen.
Seit seinen Anfängen im 17. Jahrhundert ist der Liberalismus eng mit einer bestimmten Denkart verbunden – dem der modernen Naturwissenschaft, die daran glaubt, dass es eine objektive Realität jenseits unseres subjektiven Bewusstseins gibt, eine Realität, die wir durch die wissenschaftliche Methode erkennen können. Mit diesem Wissen können wir die Realität manipulieren, von der Wissenschaft zur Technologie übergehen und schließlich ökonomisches und soziales Leben »ingenieurmäßig« gestalten. Wenn man den Begriff auf diese Weise verwendet, qualifizieren sich sowohl Schweden und Dänemark mit ihren großen sozialdemokratischen Staaten als auch die Vereinigten Staaten und Japan, die kleinere Wohlfahrtsstaaten haben, als liberal. Liberalismus hat also sehr viel mit der fundamentalen Anerkennung individueller Rechte zu tun.
PATRICK DENEEN: Ich stimme Frank zu, dass diese Auffassungen nicht das Wesen des Liberalismus treffen. Als politische Philosophie ist Liberalismus im Wesentlichen eine Zurückweisung der vormodernen Tradition, die besagt, dass der Mensch ein Telos bzw. einen Zweck hat, und dass wir eine Natur haben, und dass das Erste aus dem Zweiten hervorgeht. Das sieht man bei Aristoteles, bei Thomas von Aquin und bei vielen klassischen und christlichen Denkern. Die beiden Definitionen des Liberalismus, die Frank abgelehnt hat – der europäische Wirtschaftsliberalismus und der amerikanische Sozialliberalismus – sind zwei Manifestationen dieser Trennung von Telos und Natur.
In der klassischen liberalen Tradition, die mit Denkern wie John Locke beginnt, wird angenommen, dass Menschen kein Telos haben, aber eine feste Natur. Wir können diese Natur erkennen, wenn wir uns einen vorpolitischen Zustand vorstellen. Die Essenz dieses Naturzustandes ist die individuelle Freiheit jenseits und außerhalb der Politik. Die politische Ordnung wird also geschaffen, um die individuelle Freiheit zu maximieren und Bedingungen für relativen Frieden und Stabilität zu gewährleisten. Es geht hierbei um eine Freiheit, die jegliches Pflichtgefühl entbehrt. Das ist eine fundamentale Abkehr von der vormodernen Tradition, die Rechte immer mit Pflichten verband. Der klassische Liberalismus hat beides voneinander entkoppelt. Sein Schwerpunkt liegt auf ökonomischer Freiheit. Wie Frank schon sagte, gibt es auch einen starken Fokus auf Wissenschaft und Technologie. Wir nehmen die menschliche Natur als gegeben hin, behandeln die natürliche Umwelt aber als endlos manipulierbar.

Patrick Deneen
Der progressive Liberalismus hingegen basiert auf der Idee, dass es ein Telos gibt, aber keine menschliche Natur. Menschen besitzen eine Art Entwicklungspotenzial, das sich im Verlauf der Geschichte entwickelt. Um das volle Potenzial auszuschöpfen, müssen Menschen befreit werden, nicht so sehr als ökonomische, sondern als soziale Wesen. Sie müssen von gesellschaftlichen und informellen Zwängen befreit werden, da diese die Menschen nur daran hindern, zu den Geschöpfen zu werden, die sie sein könnten. Wissenschaft und Technologie wenden sich also nach innen, d.h. der Entwicklung und Manipulation menschlicher Eigenschaften zu. Da unsere Natur nicht festgelegt ist, soll sie technologisch verändert und angepasst werden. Um die Voraussetzungen für diese Anpassungen zu schaffen, braucht der Mensch die Hilfe des liberalen Staates.
In der heutigen Politik begegnen Wirtschaftsliberale und progressive Liberale einander oft als Gegenspieler. Tatsächlich ist das liberale Wirtschafts- und das Sozialprojekt aber gemeinsam entstanden. Beide Projekte verbindet ihre fundamentale Opposition zur veralteten Tradition, welche Telos und Natur miteinander verbunden hat. Letztendlich ist es das, was den Liberalismus auszeichnet: sein grundlegender Widerspruch zur klassischen Tradition, die Telos und Natur miteinander verband.
CORNEL WEST: Jedes Mal, wenn man einen Begriff wie »Liberalismus« gebraucht, sollte man ihn historisch einordnen, kontextualisieren und pluralisieren. Es gibt viele verschiedene Formen des Liberalismus. Einige dieser Liberalismen gehören zu den großartigen Errungenschaften der europäischen Epoche, grob gesagt von 1492 bis 1945. Angesichts der Unterdrückung durch Könige und Königinnen haben diese Traditionen individuelle Rechte und Freiheiten verteidigt. Sie begannen mit der Etablierung von Eigentumsrechten und der Freiheit vor willkürlicher politischer Macht. Mit der Zeit, als sich verschiedene republikanische und demokratische Experimente entwickelten, begann man, über grundlegende Rechte zu sprechen, die weit über die vorigen hinausgingen.
Die Sonnenseite des Liberalismus ist eine Verteidigung dieser unverzichtbaren Rechte und Freiheiten. Die Schattenseite des Liberalismus ist jedoch seine Blindheit gegenüber den Bedrohungen durch unterdrückende ökonomische Macht sowie durch Militarismus und Imperialismus. Es ist sehr wichtig, den Liberalismus nicht monolithisch oder homogen zu betrachten. Ich hoffe, dass wir in der Lage sind, eine Art dialektisches Verständnis zu entwickeln, um herauszuarbeiten, was wir an diesen verschiedenen Formen des Liberalismus wertvoll finden, und gleichzeitig seine Fehler und Schwächen im Blick zu behalten.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Für mich ist Liberalismus die soziale, politische und ökonomische Theorie einer Gleichheit der Erlaubnis – nicht Gleichheit der Chancen, was ich für ein inkohärentes Konzept halte, und sicherlich nicht das große sozialistische Ideal der Gleichheit der Ergebnisse. Es ist eine Gleichheit der Erlaubnis für alle Menschen. Wir sind uns alle der unvollständigen Verwirklichung des Liberalismus bewusst, aber die Idee ist sehr mächtig.
Die erste große Errungenschaft des Liberalismus war die Abschaffung der Sklaverei. Danach folgte die Abschaffung weiterer Formen der Versklavung. Ich verstehe Sklaverei als die physische Unterdrückung von Menschen, und Liberalismus ist, ideal gesprochen, das Ende der Hierarchie, das Ende der Unterordnung eines Menschen unter einen anderen. Einige sagen – aus meiner Sicht unplausibel –, dass der römische Katholizismus die Quelle des Liberalismus war. Aber ich glaube, der Liberalismus entstand im 18. Jahrhundert. Adam Smith – [McCloskey bekreuzigt sich scherzhaft] ich bekreuzige mich immer, wenn ich Smith erwähne [Gelächter] – ist mein Vorbild. Ja, es gibt Vorläufer, aber sicherlich keine christlichen Vorläufer. In diesem Sinne würde ich Patrick zustimmen, dass der Liberalismus eine Rebellion gegen – nun ja, gegen die Kirche ist.
Der Apostel Paulus war in dieser Hinsicht sehr klar. Er lebte in einer Gesellschaft, die Sklaven hielt, und sagte, dass wir alle Sklaven in Jesus Christus sind. Mehr als tausend Jahre lang haben wir mit der Vorstellung gelebt, dass wir Sklaven sind, also war Sklaverei keine große Sache. Man konnte schließlich auf ewige Erlösung hoffen. Was macht es da aus, wenn man sein Leben auf der Schattenseite des Lebens verbringt? Diese Anschauung endet mit der Säkularisation. Daher glaube ich, dass die große Wende des Liberalismus gegen das Christentum gerichtet war, obwohl ich selbst Christin bin.
Diese Umwälzung beschränkt sich nicht auf die Ökonomie. Ich glaube schlicht, dass Freiheit gleich Freiheit gleich Freiheit ist. Und um es mit Patrick zu sagen: Eine Einheit von Natur und Telos ist meiner Meinung nach extrem gefährlich. Meine Identität als Transfrau – oder auch als Professorin oder Ökonomin oder was auch immer – wird bedroht, wenn jemand anderes seine Vorstellung von meiner Natur oder seinem Telos auf mich projiziert. Genau das ist, was der Liberalismus zurückweist.
CORNEL WEST: Ich würde dem Liberalismus nicht zugestehen, eine Vorreiterrolle in der Abolitionistenbewegung gespielt zu haben. Das waren Christen. William Lloyd Garrison, Lydia Maria Child, Frederick Douglass, Harriet Tubman. Dort gibt es viel mehr Menschen mit einem Selbstverständnis, das durch und durch gemeinschaftlich und an Traditionen gebunden war. Es war nicht atomistisch. Diese Menschen waren keine Liberalen.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Moment mal. Schauen Sie sich das Jahr 1848 an und den Beginn der amerikanischen Frauenbewegung. Alle waren zuvor in der Bewegung gegen die Sklaverei aktiv.
CORNEL WEST: Absolut. Seneca Falls.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Und diese Leute argumentierten: »Wenn sie, warum dann nicht wir?« Das war schon immer die Devise – »Wenn sie, warum nicht wir?«. Es ist eine Ausweitung der Erlaubnisgleichheit, die immer weiter ausgedehnt wird. Es wurde nicht länger akzeptiert, dass unsere Versklavung durch Jesus Christus als Rechtfertigung für die Versklavung eines Menschen durch einen anderen dienen kann. Ich denke, dass Sie mir zustimmen werden, dass die Argumente für die Sklaverei in Amerika religiöser Herkunft waren.
CHRISTOPHER BEHA: Der Kontext dieses Gesprächs ist, dass es derzeit ein weit verbreitetes Gefühl gibt, dass der Liberalismus – mehr oder weniger so, wie wir ihn gerade definiert haben – bedroht ist, nachdem er eine lange Phase unangefochtener Vormachtstellung erlebt hat. Die größte dieser Bedrohungen scheint der Aufstieg sogenannter illiberaler Demokratien zu sein. Was ist die Beziehung zwischen Demokratie und Liberalismus? Brauchen die beiden einander?
DEIRDRE MCCLOSKEY: Nun, wenn man an Gleichheit der Erlaubnis glaubt, dann glaubt man auch an das, was Benjamin Constant »antike Freiheit« nannte – das heißt, das Recht, an der Gestaltung der Gesellschaft teilzunehmen. Das ist Demokratie.
FRANCIS FUKUYAMA: In den meisten Fällen ergänzen Demokratie und Liberalismus einander, allerdings sind sie nicht untrennbar miteinander verbunden. Es gibt auch illiberale Demokratien. Das ist, was Viktor Orbán in Ungarn zu errichten versucht. Und das ist auch der Weg, den Narendra Modi in Indien eingeschlagen hat. Es kann sogar liberale Autokratien geben. Ein klassisches Beispiel war das späte 19. Jahrhundert in Deutschland, das eine sehr starke Rechtsstaatlichkeit besaß, viele individuelle Freiheiten, aber keine demokratische Rechenschaftspflicht. Singapur ist ein zeitgenössisches Beispiel.
In der Regel gehören Liberalismus und Demokratie aber zusammen. Der Liberalismus geht von der Prämisse der universellen menschlichen Gleichheit aus, die besagt, dass keine bestimmte Gruppe gegenüber einer anderen Gruppe innerhalb einer Gesellschaft privilegiert sein darf, was eine grundsätzlich demokratische Prämisse ist. Ich glaube nicht, dass der Liberalismus irgendeine Beziehung zu Meinungsverschiedenheiten über die menschliche Natur oder die menschlichen Ziele hat. Liberalismus ist ein pragmatischer Weg, um zentralisierte Macht zu begrenzen. Wenn demokratisch gewählte Regierungen beginnen, liberale Machtbeschränkungen auszuhöhlen, kann man unter anderem feststellen, dass sie sich durch Gerrymandering oder Manipulation von Wahlprozessen für immer an der Macht halten können. Genau das geschieht in unserem Land. Man braucht also beides: die Herrschaft des Rechts, um die Macht zu begrenzen, und Demokratie, um den Glauben an Gesetze und die Notwendigkeit von Einschränkungen zu unterstützen.
PATRICK DENEEN: Der Liberalismus hat wenig mit der Begrenzung zentralisierter Macht zu tun. Heute haben wir eine extrem zentralisierten Regierungsapparat. Die Könige der Vergangenheit wären neidisch auf so viel militärische, ökonomische und exekutive Macht, die von dem ausgeübt wird, was ich ein liberales Regime nenne. Ich glaube also nicht, dass es viel damit zu tun hat, ob Macht zentralisiert oder autoritär ist. Liberale verwenden diese Begriffe gerne, wenn sie nicht einverstanden damit sind, wie Macht ausgeübt wird.
Meiner Ansicht nach ist Demokratie weitgehend ein Legitimationsmechanismus für den Liberalismus. Wenn die Demokratie – oder sagen wir, der Wille und die Meinung des Demos – in liberalen Formen ausreichend begrenzt oder bei Bedarf auch unterstützt und befürwortet werden kann, um liberale Ziele zu erreichen, kann man davon ausgehen, dass Liberalismus und Demokratie zusammenpassen. Aber im Großen und Ganzen funktioniert die Demokratie wie eine fortlaufende Performance der Einwilligung. Es handelt sich um eine Inszenierung, die den historischen Moment der Zustimmung nachstellt, als unsere Vorfahren den Gesellschaftsvertrag unterzeichneten, mit dem sie einem liberalen Regime zustimmten. Nimmt diese Form der Zustimmung jedoch eine illiberale Wendung, wird sie nicht mehr Demokratie genannt, sondern Populismus. Aber es ist objektiv dasselbe: der Wille des Volkes, der zum Ausdruck kommt. Innerhalb einer liberalen Ordnung wird einer dieser Ausdrücke als legitim angesehen, der andere als illegitim.
CORNEL WEST: Die Verteidigung von Rechten und Freiheiten durch den Liberalismus ist eine Voraussetzung für jedes demokratische Experiment in heterogenen Bevölkerungen. Das Problem, historisch gesehen, ist, dass frühere Formen des Liberalismus mit einigen sehr hässlichen Formen der Hierarchie kompatibel waren – imperialen, rassistischen, sexistischen und so weiter. Man braucht gegen die Mehrheit gerichtete Institutionen und eine Herrschaft des Rechts, um Rechte und Freiheiten zu verteidigen, damit diese Rechte und Freiheiten selbst nicht zum Gegenstand demokratischer Debatten werden. Denn der Demos kann fremdenfeindlich, engstirnig, provinziell sein – und so weiter. Aber die Eliten können das ebenfalls sein. In gewisser Weise stimme ich meinem lieben Bruder Patrick zu, obwohl wir unterschiedliche Ansichten haben.
FRANCIS FUKUYAMA: Wenn man sich die Lincoln-Douglas-Debatten ansieht, dann sagte Douglas damals: »Mich geht es nichts an, wie die Sache mit der Sklaverei entschieden wird. Es ist mir egal, ob sie abgeschafft oder beibehalten wird.« Er hielt den demokratischen Willen für das oberste Prinzip. Lincoln hingegen glaubte an ein höheres Prinzip als die demokratische Wahl. Dieses steht in der Unabhängigkeitserklärung: Alle Menschen sind gleich geschaffen. Wir denken nicht an Lincoln als einen führenden Liberalen, im Grunde formuliert er aber ein liberales Argument, wenn er sagt, dass Demokratie von einem höheren Prinzip – nämlich diesem Prinzip der Gleichheit – geleitet werden kann.
CORNEL WEST: Aber für Lincoln spielte auch die republikanische Tradition eine wichtige Rolle. Wir können dem Liberalismus leider nicht für alles Anerkennung zollen. Ich möchte klarstellen, dass, wenn wir überlegen, was wir aus diesen verschiedenen Formen des Liberalismus lernen können, sie alle aus sozialen Bewegungen hervorgegangen sind. Die europäischen Bewegungen im Namen von Rechten und Freiheiten gegenüber Königen und Königinnen waren bedeutende soziale Bewegungen, die unter bestimmten historischen Umständen stattfanden. Und die Vereinigten Staaten von Amerika bauen darauf auf, sie haben aber ihre eigene und spezifische Form.
PATRICK DENEEN: Von Anfang an gab es im Liberalismus eine doppelte Angst vor dem Demos. Die erste war eine ökonomische Angst, eine Angst vor dem Demos, der nach links rückt. Also die Angst vor einem linken Populismus, der Eigentumsrechte infrage stellet. Viel von dem, was wir heute erleben, ist dieser linke Populismus, der versucht, demokratische Mechanismen zu nutzen, um Formen der Umverteilung oder Begrenzung ökonomischer Macht durchzusetzen.
Die andere Form des Populismus, die der Liberalismus fürchtet, ist eine Art Rechtspopulismus, den wir heute verstärkt erleben. Das ist der Demos, der konservativ und traditionell ist, und der seine Lebensweise beibehalten will. Ich habe den Eindruck, dass die Bedrohung, die der Demos für den Liberalismus darstellt, einer ständigen Fluktuation unterliegt. Seit den Anfängen des Liberalismus musste der Demos eingeschränkt werden. Manchmal durch Formen der Regierung, wie zum Beispiel durch juristische Mechanismen in den USA. John Stuart Mill plädierte sogar dafür, dass Menschen mit höherer Bildung mehr Stimmen bei demokratischen Wahlen erhalten sollten. In den Vereinigten Staaten erhielten nur Menschen mit Eigentum das Wahlrecht. Es musste immer einen Mechanismus geben, um die Bedrohung, die der Demos für den Liberalismus darstellte, einzudämmen. Und um das klarzustellen, ich stehe hier auf der Seite des Demos, sowohl in seiner linken als auch in seiner rechten Form.
II. Nur Menschen, die Dinge kaufen und verkaufen
CHRISTOPHER BEHA: Deirdre, in Ihrem letzten Buch haben Sie geschrieben, dass Liberalismus »auf Ethik angewiesen ist« und der Liberalismus die Ethik gleichzeitig »nährt«. Ich nehme an, in unserer Runde sind alle mit dem ersten Teil dieser Behauptung einverstanden. Wie aber steht es mit der zweiten Hälfte? Patrick hat ausführlich argumentiert, dass der Liberalismus letztendlich genau die Werte untergräbt, die eine liberale Gesellschaft braucht, um zu gedeihen.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Es gibt viele Belege dafür, dass Gesellschaften, die auf Erlaubnisgleichheit und zunehmender Gleichheit basieren, auch bessere Menschen hervorbringen. Weder Linke noch Rechte scheinen das zu verstehen. Marxisten und Vertreter der Chicagoer Schule sind sich vielmehr einig, dass Märkte amoralisch seien, dass die einzige Tugend, die der Kapitalismus belohnt, Klugheit sei – verstanden als rücksichtsloser Egoismus. Ich komme aus der Chicagoer Schule und habe mit ihr und ihrem Unfug gebrochen. Denn Klugheit ist nicht die einzige Tugend im Marktgeschehen. Hoffnung, Glaube, Gerechtigkeit und Mut: All diese Tugenden werden durch den bürgerlichen Kapitalismus gefördert.
CORNEL WEST: Die Gefahr hier ist, dass wir, wenn wir zu viel über Werte reden, wieder bei einer atomistischen Vorstellung von Individuen landen, die einfach Güter kaufen ohne jeden Kontext oder Bezug auf Traditionen. Ich freue mich, dass Sie über Tugenden sprechen wollen. Sie sprechen aber über etwas, das in dynamischen Traditionen verankert ist, die Menschen nunmal formen und prägen. Bürgerliche Tugend muss mit jedem demokratischen Projekt einhergehen.

Deirdre McCloskey
DEIRDRE MCCLOSKEY: Da stimme ich zu. Und ich glaube, wir sind uns einig, dass Tugenden nicht spontan aus Märkten hervorgehen. Man kann nicht einfach sagen: »Alles, was wir brauchen, sind Märkte, und dann läuft alles bestens.«
PATRICK DENEEN: Niemand innerhalb des liberalen Lagers würde die Bedeutung von Werten und vielleicht sogar von Tugenden leugnen, je nachdem, wie man sie definiert. Aber es gibt ein strukturelles Problem. Es stellt sich heraus, dass Liberale die jeweiligen Tugenden letztlich untergraben, auf die sie ihre Hoffnungen setzen.
Ich selbst komme eher aus der Welt der Rechten. Und die Rechte, um es etwas vereinfacht zu sagen, sehnt sich nach einer Art Vision aus den Fünfziger- oder Achtzigerjahren: eine weitgehend offene kapitalistische Marktwirtschaft, kombiniert mit starken, traditionellen, gemeinschaftlichen, familiären und religiösen Strukturen. Das Problem, das wir beobachtet haben, ist nun aber, dass ein dynamisches, offenes und globales Wirtschaftssystem dazu neigt, genau die Institutionen zu untergraben, auf die diese rechts-liberale Ordnung angewiesen ist.
Die Linke hat einen ähnlich blinden Fleck. Als Reaktion auf die Verwüstungen des ökonomischen Individualismus ruft sie nach Solidarität, und sie schaut zum Beispiel auf Gewerkschaften oder auf ein Land wie Schweden als Vorbild für die Art von gesellschaftlicher Solidarität, die notwendig ist, um die rein utilitaristischen Tendenzen der Märkte einzudämmen. Aber der soziale Libertarismus der progressiven Linken untergräbt die Grundlage dieser Solidarität. Der Versuch, sich von Familie, Religion und Gemeinschaft zu befreien, um ein möglichst freies Individuum im sozialen Bereich zu sein, höhlt die Räume aus, in denen ein starkes Solidaritätsgefühl entstehen könnte.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Hier widerspreche ich. Ich glaube nicht, dass Märkte – die letztlich nur aus Menschen bestehen, die Dinge kaufen und verkaufen, zur Arbeit gehen und einen Job finden – diese zerstörerischen Auswirkungen haben. Wir haben schon immer Waren gehandelt, und Märkte haben mit ethischer Entwicklung koexistiert.
CORNEL WEST: Man kann nicht einfach sagen, meine liebe Schwester Deirdre, dass Märkte bloß für das Kaufen und Verkaufen von Waren stehen. Nein. Sie manipulieren und dominieren uns. Nicht umsonst gibt es ganze Werbeindustrien, die darauf abzielen, Menschen zum Konsum zu verleiten. Die Märkte, von denen Adam Smith sprach, sind qualitativ andere als die Märkte im 21. Jahrhundert.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Nun, sie sind nicht in jeder Hinsicht gleich, das stimmt. Aber große kapitalistische Märkte existieren seit Langem – im antiken Rom etwa für Fischsoße oder in China für Seide. Das waren hochmoderne, ausgefeilte Austauschsysteme.
CORNEL WEST: Das stimmt, diese Märkte waren in ihrer Organisation sehr ausgefeilt – aber nicht in dem Sinne, dass sie jeden Winkel der Kultur durchdrangen, nicht in dem Sinne, dass sie jeden Winkel der Psyche durchdrangen, nicht in dem Sinne, dass sie jeden Winkel der Seele durchdrangen. Wir haben es mit einer Kommodifizierung auf Steroiden zu tun.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Amsterdam im 17. Jahrhundert war ein liberales Paradies verglichen mit anderen europäischen Städten – weil es ein Handelsplatz war, ein Markt. Ich glaube nicht, dass die Erbsünde der Gier alle Übel in der Gesellschaft verursacht.
FRANCIS FUKUYAMA: Ich würde ebenfalls bestreiten, dass dieser soziale Zerfall, von dem Patrick spricht, unvermeidlich ist. Kulturen sind beständiger, als er glaubt. Es gibt viele Aspekte progressiver Kultur, die ich nicht mag, insgesamt denke ich aber, dass Kulturen stabil bleiben, da Menschen von Natur aus soziale Wesen sind, die sich an Normen anpassen. Die Vorstellung, dass der Liberalismus, einmal in der Welt, jede bestehende soziale Norm zersetzen wird, ist empirisch falsch. Mir scheint allerdings, dass die besondere Form der Globalisierung, die wir erlebt haben, die Hegemonie bestimmter traditioneller Kulturen in Frage stellt, weil es so einfach ist, Menschen, Ideen und kulturelle Mittel über Grenzen hinweg zu transferieren.
CORNEL WEST: Persönlich glaube ich, dass Gier, Hass und Neid die Höllenhunde schlechthin sind. Sie sind ideologisch und politisch promiskuitiv. Sie schmiegen sich an jedes System – Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus, was auch immer. Die Frage ist also: Wie sieht das in unserer Zeit aus?
CHRISTOPHER BEHA: Cornel, in Race Matters schreiben Sie: »Die meisten unserer Kinder – vernachlässigt von überlasteten Eltern und bombardiert von ökonomischen Botschaften profitorientierter Unternehmen – sind schlecht gerüstet, um ein Leben von geistiger und kultureller Qualität zu führen.« Wir können darüber streiten, inwieweit Marktkräfte tatsächlich eine solche Wirkung haben. Aber ich würde gerne darüber nachdenken, was es bedeutet, ein Leben mit spiritueller und kultureller Qualität zu führen. Ist es ein Versagen des Liberalismus, dass er keine einheitliche Vision des menschlichen Wohlergehens artikulieren kann? Oder ist es – wie viele Liberale meinen – eine der großen Stärken des Liberalismus, dass er eine so verbindliche Vision gerade nicht vorgibt, sondern es Individuen überlässt, ihre eigene Vorstellung davon zu haben?
DEIRDRE MCCLOSKEY: Ich bin der festen Überzeugung, dass wir, wenn wir miteinander auskommen wollen, nicht zulassen dürfen, dass andere Menschen uns ihre Ziele aufzwingen.
CORNEL WEST: Eine der Herausforderungen ist, dass wir einerseits einen größeren Rahmen brauchen, der eine Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven zulässt. Niemand soll einem anderen seine Sichtweise aufzwingen. Andererseits muss es aber genug »Klebestoff« geben: nicht nur Toleranz, sondern Respekt, nicht nur Respekt, sondern Demut. Es ist wie bei einem Jazzmusiker, der von anderen lernt und ihnen zuhört und weiß, dass keiner von uns die Wahrheit für sich allein gepachtet hat.
PATRICK DENEEN: Es gibt ein Buch von einem Jesuitenpater namens Jean Daniélou mit dem Titel Gebet als politisches Problem. Pater Daniélou vertritt die Auffassung, dass das Gebet für unser aller Leben wichtig ist. In einem säkularen Kontext könnten wir über das funktionale Äquivalent des Gebets sprechen – die Möglichkeit, Zeit zur Kontemplation zu haben. In unserer Zivilisation war es schon immer wichtig, wenigstens einen Tag zu haben, an dem der Markt nicht das Sagen hat, an dem die Hektik des Marktes und seine Ablenkungen nicht den Alltag bestimmen. Die Bibel nennt das den Tag der Ruhe, den Sabbat.
Um nun zu vermeiden, einen bestimmten Ruhetag festzulegen – und so die eine Tradition über die andere zu stellen, was aus liberaler Sicht unvereinbar ist – haben wir den Ruhetag ganz abgeschafft. Heute wollen wir nicht einmal darüber diskutieren, ob es einen Ruhetag geben sollte, weil wir nicht einen Tag dafür festlegen wollen. Eine solche Festlegung würde eine Form von Autorität und Unterdrückung bedeuten. Aber sehen Sie sich an, was wir stattdessen haben: Eine Gesellschaft, in der die professionelle Managerklasse viel eher in der Lage ist, die Zeit für das Äquivalent des Gebets zu finden – um nach Vail zu reisen und dort die Ruhe der Berge zu genießen, oder was auch immer. Dagegen werden immer mehr Aspekte des Lebens der Arbeiterklasse vom Markt beherrscht. Ihnen fehlen die sozialen Formen, die sie zu etwas Höherem führen könnten, abgesehen von den üblichen Ablenkungen und Unterhaltungsangeboten, die der Markt bietet.
Ich denke, dass das in mehrfacher Hinsicht einen Verrat der Eliten darstellt. Es war schon immer die Verantwortung der Eliten, eine Art spirituelle Gleichheit zu gewährleisten. Wie Christus sagte: Die Armen wird es immer geben. Aber es besteht die Möglichkeit spiritueller Gleichheit, die es den Menschen unabhängig von ihrem ökonomischen Status ermöglicht, Momente der Würde zu erleben und etwas Transzendentes zu erfahren.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Es gibt eine ganze Reihe von Problemen mit dieser Aussage. Eines ist, dass es einfach nicht stimmt, dass die Arbeiterklasse heute weniger Zeit für das Transzendente hat als früher. Sie hat viel mehr Freizeit, viel mehr.
PATRICK DENEEN: Ich spreche nicht nur von Freizeit. Neulich sprach ich mit meiner Briefträgerin und fragte sie: »Warum liefern Sie sonntags Post aus?« Und sie sagte: »Weil wir das tun müssen, sonst arbeitet Amazon künftig mit UPS zusammen, nicht mit der Post.« Damit Amazon weiterhin mit der Post arbeitet, muss meine Briefträgerin an jedem Tag der Woche Post austragen. Wir sollten wirklich darüber nachdenken, was es bedeuten würde, wenigstens einen Ruhetag für jeden Menschen in unserer Gesellschaft zu haben. In diesem Sinne spreche ich von einem Niedergang gesellschaftlicher Normen, die anspruchsvollere Formen der Freizeitgestaltung ermöglichten.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Ein professionelles Fußballspiel zu schauen, halten Sie vermutlich nicht für einen Ausdruck des Transzendenten, richtig?
PATRICK DENEEN: Nein.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Warum nicht? Wie Sie schon sagten, ist das Transzendente notwendig – da sind wir uns einig. Aber das Transzendente ist auch in anderen Formen als im Katholizismus erfahrbar. Es gibt Menschen, die im Zusammensein mit ihrer Familie oder ihren Freunden Transzendenz erfahren. Zu sagen, dass moderne Menschen keinen ausreichenden Zugang zur Transzendenz haben und deshalb nicht sonntags einkaufen gehen dürfen, halte ich empirisch für falsch.
PATRICK DENEEN: Nun, wenn Sie daraus eine empirische Frage machen wollen, dann möchte ich Sie Folgendes fragen: Hat unsere Gesellschaft Erfolg oder scheitert sie in Bezug auf messbare Aspekte der Gemeinschaftlichkeit? Zum Beispiel: Wie steht es um die Bildung und das Wohlergehen von Familien in unserer Gesellschaft? Wir können Familien ganz unterschiedlich definieren, aber nach so gut wie allen Indikatoren schneiden wir nicht besonders gut ab. Wie steht es um die Entwicklung und das Gedeihen von Freundschaften, von Gemeinschaften, von einem Pflichtbewusstsein? Auf den Punkt gebracht: Wie sehr und wie gut gedeiht unsere Gesellschaft?
Ich komme aus der Welt der Sozialwissenschaften, und ich kann Ihnen sagen, dass wir in fast allen diesen Bereichen ziemlich schlecht abschneiden. Wir florieren in Bezug auf Autonomie, Emanzipation, das Gefühl, voneinander losgelöst zu sein. Aber je freier, autonomer und losgelöster wir sind, desto elender und einsamer sind wir auch. Ganz eindeutig sind wir über das Ziel hinausgeschossen.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Ich möchte nicht so verstanden werden, dass einzig das Nationaleinkommen für mich wichtig sei. Wir sind uns einig, dass es andere Dinge gibt, die für gewöhnliche Menschen wichtig sind. Aber es ist auch wichtig, dass das Einkommen der Menschen heute etwa fünfundzwanzigmal höher ist als im Jahr 1800. Und die freie Zeit für das Transzendente hat sich enorm erhöht. Menschen arbeiten heute 40 Stunden pro Woche, nicht 80 Stunden wie Landwirte im vorletzten Jahrhundert. Sie genießen eine längere Kindheit und einen längeren Ruhestand.
Das ist eine enorme Veränderung. Es ist das zweitwichtigste säkulare Ereignis in der Menschheitsgeschichte. Die Erfindung der Landwirtschaft ist das erste, und die große Bereicherung seit 1800 ist das zweite. Und es gibt keinen Grund, warum dies nicht zum Geschenk für alle Menschen in den nächsten fünfzig oder hundert Jahren werden kann. Wenn wir aber Patricks Weg einschlagen, wird das Wirtschaftswachstum kleiner, und es wird zu diesem Geschenk nicht kommen. Es wäre wirklich tragisch, wenn wir die Chance auf eine umfassende menschliche Erfüllung wegwerfen.
CHRISTOPHER BEHA: Sie glauben also, dass das große Wirtschaftswachstum, das uns der Liberalismus in den letzten Jahrhunderten gebracht hat, im gleichen Tempo weiter wachsen kann?
DEIRDRE MCCLOSKEY: Ich wette sogar darauf. Bis zum Jahr 2100 wird das Pro-Kopf-Einkommen weltweit zwei- oder dreimal so hoch sein wie heute in den Vereinigten Staaten.
CORNEL WEST: Eine Sache, die unsere liebe Schwester hier voraussetzt, ist, dass es dann noch einen Planeten gibt.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Das stimmt. Wir können uns damit auch selbst ins Knie schießen.
PATRICK DENEEN: Liegt das denn noch in unserer Hand? Die Natur gibt uns da ziemlich eindeutige Hinweise. Die Explosion unseres Wohlstands fiel mit dem Zeitalter der fossilen Brennstoffe zusammen. Die Konsequenz unseres Konsums ist, dass wir uns nun mit den planetarischen Grenzen auseinandersetzen müssen. Wir sollten besser darüber nachdenken, wie wir in einer Welt leben können, in welcher die natürliche Ordnung mehr respektiert wird. Und das kann bedeuten, dass wir weniger reisen und weniger Transportmittel nutzen, die vielleicht billig erscheinen, sich langfristig aber als extrem teuer herausstellen.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Die globale Erwärmung ist bereits auf dem Weg, durch technologische Innovation gelöst zu werden – also durch genau diesen Kapitalismus, den Sie so verdammen, Patrick.
PATRICK DENEEN: Es gibt immer die Hoffnung, dass die Lösung für die Probleme des Liberalismus mehr Liberalismus ist. Ich halte es jedoch für wahrscheinlich, dass wir eine Reduzierung von dem erleben werden, was man Hyperliberalisierung der Märkte nennen kann. Also ein Ende der heutigen Globalisierung, die Wiedereinführung von Industriepolitik, die Erkenntnis, dass dieses Land Industrien benötigt, die Sicherheit gewährleisten, und wie wir mit COVID gesehen haben, dass wir Zugang zu Pharmazeutika brauchen. Wir brauchen Zugang zu militärischen Gütern, wir brauchen Zugang zu grundlegenden Produkten und Dienstleistungen, die in einer Welt, in der Konflikte zwischen den Nationen nicht verschwinden, nicht garantiert werden können.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Das klingt nach einer Rückkehr in die 1950er Jahre.
PATRICK DENEEN: Ich spreche nicht davon, zurückzugehen. Ich spreche davon, voranzugehen, indem wir aus der Vergangenheit und Gegenwart lernen.
CHRISTOPHER BEHA: Patrick, was genau sehen in der Zukunft? Eine Art Trade-Off? Müssen wir ökonomische Einbußen hinnehmen, um Ihre Vision zu verwirklichen?
PATRICK DENEEN: Erst einmal sollten wir anerkennen, dass unser heutiges Gespräch vor 25 oder 30 Jahren so nicht stattgefunden hätte. Wir führen dieses Gespräch, weil wir uns in einer Krise befinden. Die Arbeiterklasse sagt: »Wir wollen diese hyperliberale Wirtschaftsordnung nicht mehr. Wir wollen diese hyperliberale soziale Ordnung nicht mehr.« Diese Rufe erreichen und von linker und rechter Seite. Und die Liberalen steigen jetzt auf die Barrikaden und rufen: »Diese Bedrohung durch den Illiberalismus ist eine Form des Populismus, die alles gefährdet, was gut ist.« Aber genau dieses »Gute« hat uns in die Situation gebracht, in der wir heute sind.
Unkontrollierte Freiheit im ökonomischen und sozialen Bereich führt zu sozialen und politischen Verwerfungen. Sie führt zu genau den Problemen und Bedingungen, die wir heute haben. Ein großer Teil des Erfolgs des Liberalismus ist auf ein vorliberales Erbe zurückzuführen – auf Traditionen, Institutionen und Praktiken, die die schlimmsten Tendenzen des Liberalismus zügelten. Der Liberalismus hat ein Erbe angetreten, das er nicht erfüllen kann. Er hat sich als unfähig erwiesen, sich selbst zu zügeln und zu beschränken. Stattdessen hat er sich als sehr effizient darin erwiesen, noch immer extremer zu werden.
Kann der Liberalismus also erkennen, dass er sich selbst zügeln muss, um das Gute zu bewahren, das er hervorbringt? Wenn er das nicht kann, ist er dem Untergang geweiht.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Meine Sorge ist eben die, dass wir uns zügeln werden. Tragischerweise opfern wir dann die »goldene Gans«. In einer Art von feierlichem Rausch aus Neid und Hass.
III. Es hat zu einer Katastrophe geführt
CHRISTOPHER BEHA: In Ihrem jüngsten Buch, Frank, versuchen Sie – wie viele andere auch –, eine Unterscheidung zwischen Liberalismus und Neoliberalismus zu treffen. Sie sagen, dass viele Menschen, die heute auf der linken oder rechten Seite stehen und Kritik an liberalen Werten äußern, eigentlich eine spezifische Form des Liberalismus seit den 1970er Jahren kritisieren. Sie sind unzufrieden mit der heutigen Ausprägung des Liberalismus, nicht wegen einer grundsätzlichen Schwäche seiner Doktrinen, sondern wegen der Art, wie sich der Liberalismus entwickelt hat.
Dann stellt sich aber die Frage: Wie reguliert sich ein liberales System selbst? Was genau am Neoliberalismus ist mit dem Liberalismus unvereinbar? Was gestattet Dir, diese Unterscheidung zu treffen und zu sagen, dass der Liberalismus gut ist, der Neoliberalismus aber nicht?
FRANCIS FUKUYAMA: Ich bin der Meinung, dass Staaten notwendig sind, um Märkte zu regulieren. In manchen Sektoren sind sie wichtiger als in anderen. Der unregulierte Finanzmarkt zum Beispiel, dessen Grundlagen in den 1980er und 1990er Jahren geschaffen wurden, hat uns in eine Katastrophe geführt. Wir hatten vor der Sterling-Krise in den frühen 1990er Jahren keine großen Finanzkrisen – jedenfalls nicht seit der Great Depression. Was sich dann geändert hat, war die Anschauung, dass Märkte sich letztlich selbst regulieren. Im Finanzsektor war das leider völliger Unsinn. Aufgrund des Wesens der Finanzmärkte sowie des großen Schadens, den dieser der Realwirtschaft bescheren kann, muss man den Finanzsektor streng regulieren. Seine Deregulierung hat nämlich den Grundstein für eine Reihe von Finanzkrisen gelegt, die 2008 ihren Höhepunkt erreicht haben. Meiner Meinung hängt die große Finanzkrise auch direkt mit dem Aufstieg des Populismus zusammen, sowohl von dem linken mit Bernie Sanders als auch mit dem rechten von Donald Trump.

Francis Fukuyama
Es gibt diesen berühmten Aufsatz von Milton Friedman, wonach die Pflicht eines Unternehmens im Wesentlichen darin besteht, die Gewinne seiner Aktionäre zu maximieren – dafür wird ein rein ökonomisches Argument formuliert. Aber ich glaube nicht, dass wir das Ausmaß erkennen, in dem sich diese Ansicht an den Business Schools durchgesetzt hat und dann genau die Art von Tugenden untergräbt, welche kapitalistische Unternehmer zuvor hatten, nämlich dass sie tatsächlich soziale Verantwortung tragen – für ihre Angestellten, Kunden und Lieferanten. Im Grunde wurde ihnen gesagt: »Maximieren Sie einfach Ihre Gewinne. Tun Sie, was die Wall Street von Ihnen verlangt, das ist alles, was Sie tun müssen. Sie müssen sich keine Sorgen um die Gesellschaft als Ganze machen.«
Wir sehen heute, glaube ich, aber schon eine Korrektur, was die Rolle des Staates bei der Regulierung globaler Finanzmärkte betrifft. Die Regulierung müsste wahrscheinlich noch viel weiter gehen, aber der Prozess hat begonnen.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Darf ich noch eine kleine Anmerkung zu dem Aufsatz von Milton Friedman machen? Das berühmte Zitat aus dem Essay ist nur die erste Hälfte des Satzes: »Die soziale Verantwortung eines Unternehmens ist es, so viel Geld wie möglich zu verdienen.« Aber der zweite Teil des Satzes lautet: »… unter Einhaltung der ethischen und rechtlichen Regeln der Gesellschaft.« Dieser zweite Teil wird immer vergessen.
Auf der anderen Seite denke ich aber, dass Sie recht haben. Diese Denkweise wuchert heute in den Business Schools. Es hat eine Abkehr davon stattgefunden, Manager zu Profis zu machen – wie Anwälte, Professoren oder Ärzte, die eine ethische Verpflichtung gegenüber ihren Klienten, Studenten oder Patienten haben – hin zu einer Art »Scheißegal«-Mentalität.
FRANCIS FUKUYAMA: Tatsächlich möchte ich das nochmal aus einer anderen Perspektive betrachten. 1999 habe ich The Great Disruption veröffentlicht, ein Buch über die sozialen Zerfallserscheinungen, von welchen Patrick spricht: der massive Anstieg von Scheidungsraten sowie von alleinerziehenden Familien und die steigenden Kriminalitätsraten in den USA seit den 1960er Jahren. Aus meiner Sicht waren die Ursachen dafür technologische Veränderungen, die durch die Entwicklung des Kapitalismus hervorgerufen wurden, aber nicht durch den Neoliberalismus oder irgendeine spezifische ideologische Doktrin.
Von einer Industriegesellschaft haben wir uns in eine postindustrielle Gesellschaft verwandelt, in der es wertvoller ist, vor einem Computerbildschirm zu sitzen, als eine Spitzhacke zu schwingen. Offensichtlich ging diese Entwicklung mit einem massiven Anstieg von erwerbstätigen Frauen einher. Entwicklungsländer sind immer noch auf körperliche Arbeit angewiesen. Aber in jedem Land, das zu einer Wissensgesellschaft überging, sind Frauen viel öfter berufstätig und selbstständig. Die Pille erlaubte ihnen Sexualität und Kinderkriegen voneinander zu trennen. Die traditionelle Familie, in welcher der Mann der Versorger ist, beginnt durch eine Gesellschaft ersetzt zu werden, in welcher Frauen viel mehr ökonomische Macht besitzen. Es ist heute finanziell sogar möglich, dass Frauen ein Kind alleine großziehen. Auch China erlebt etwas Ähnliches gerade, und das liegt nicht unbedingt an sogenannten Marktkräften. Tatsächlich ist es die Technologie, die die Arbeitswelt verändert und damit auch die Geschlechterrollen, die dann die sozialen Strukturen verändern. Das wird von vielen als moralischer Verfall interpretiert.
Aber der Punkt, den ich in meinem Buch zu machen versuchte, lautet, dass wir uns niemals in einem Zustand des permanenten sozialen Niedergangs befinden. Wir werden neue Normen schaffen.
CHRISTOPHER BEHA: Aber besteht der Liberalismus nicht selbst aus einem Satz von Normen? Wenn es notwendigerweise zu einer Veränderung von Normen kommen muss, um die technologischen und sozialen Veränderungen zu bewältigen, werden die liberalen Normen dann noch mit den neuen Normen vereinbar sein? Oder gehören die liberalen Normen zu den Dingen, die zur Disposition stehen, wenn wir herausfinden, was eine stabile Gesellschaft unter diesen neuen Bedingungen erfordert?
FRANCIS FUKUYAMA: Ich frage mich da, was hinter der Globalisierung steckt? Zum Teil liberale Ideologie. Aber auch die Senkung von Transportkosten. Es ist heute viel einfacher, ein iPhone in Shenzhen zu produzieren und dann in die USA zu liefern, als es noch vor fünfzig Jahren der Fall gewesen wäre.
Welches System wird dem Einhalt gebieten oder die sozialen Auswirkungen dieser Art von Mobilität verringern? Ich weiß es nicht. Aber ich bin ziemlich zuversichtlich, dass die Menschen, die von Natur aus soziale Wesen sind, neue Normen entwickeln werden, um mit dieser Art von kultureller Fluidität umzugehen. Aber ich glaube nicht, dass man einfach von oben diktieren kann: »Ja, okay, so werden wir mit diesen sich verändernden technologischen Bedingungen umgehen.«
CORNEL WEST: Frank, schon ihre eigene intellektuelle Entwicklung – vom großen Intellektuellen des Neokonservatismus hin zu einer Form von progressivem Liberalismus in den vergangenen Jahren –, zeigt, dass es hier um mehr als nur Technologie geht. Es geht um einen echten Klassenkonflikt. Es geht um die Mobilisierung von Ressourcen gegen vulnerable Bevölkerungsgruppen. Die Profite steigen massiv, während die Löhne stagnieren. Das kann man nicht allein mit Technologie erklären. Die Angriffe auf die Gewerkschaften – das ist nicht technologisch, das ist politisch. Und der Versuch, die Löhne gering zu halten, ist auch nicht technologischer Art.
FRANCIS FUKUYAMA: Das stimmt. Ein Teil dessen, was ich sage, ist, dass wir uns jetzt ein Stück weit aus dieser neoliberalen Ära herausbewegen, viele neoliberale Politiken werden umgekehrt.
CORNEL WEST: Nun, hoffen wir das mal. Diese neoliberalen Politiken könnten auch nochmal zurückkehren.
FRANCIS FUKUYAMA: Ja, das könnten sie. Aber ich denke eben auch, dass es tiefere Ebenen des sozialen Wandels gibt, die man mit Politik allein nicht wirklich adressieren kann.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Sozialer und ökonomischer Wandel ist so unvorhersehbar – es ist wie Autofahren im Nebel. Vielleicht sollte man mit dem Wagen lieber stehen bleiben. Aber ich stimme Ihrer historischen Darstellung nicht zu. Es ist nicht wahr, dass die Realeinkommen für normale Menschen nicht weiter gewachsen sind.
CORNEL WEST: Im gleichen Tempo wie die Einkommen von CEOs?
DEIRDRE MCCLOSKEY: Das nicht, nein. Aber ich bezweifele, dass Neid eine gute Grundlage für eine Gesellschaft ist.
PATRICK DENEEN: Ein Teil dessen, was anzuerkennen wäre, ist, dass, ob man es nun Neoliberalismus, Hyperliberalismus oder einfach Liberalismus nennen will: Je mehr der Liberalismus realisiert wird, desto unerträglicher wird er für viele Menschen. Und insbesondere wird er für diejenigen unerträglich, die – selbst wenn sie heute 25-mal wohlhabender sind als früher – wissen, dass sie 100- oder 1.000-mal weniger wohlhabend sind als die reichsten Menschen in derselben Gesellschaft.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Kümmert die Menschen das denn?
PATRICK DENEEN: Natürlich kümmert es die Menschen. Es verletzt ihr Gefühl von Würde und Gerechtigkeit, zu wissen, dass ihre Mitbürger viel mehr Möglichkeiten haben – in Bezug auf die Bildung ihrer Kinder, den Einfluss auf politische Entscheidungen, den Kurs der Nation zu bestimmen und so weiter.
CORNEL WEST: Hier kommen wir auf die christliche Perspektive zurück, die wir schon angesprochen haben: Wie schaffen wir Kontexte, in welchen wir einander unabhängig von unseren Umständen als menschliche Wesen begegnen können, und wie stehen wir dazu, unseren Reichtum zu teilen? Jesus hat die Geldwechsler aus dem Tempel verjagt und wurde gekreuzigt. Warum? Nicht, weil er reiche Leute hasste, sondern weil er Gier hasste. Und er liebte die Armen.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Ja, er liebte die Armen und hasste die Gier. Aber das Problem mit dieser Vision von geteiltem Reichtum ist, dass sie oft zu geteilter Armut führt. Wirtschaft ist kein Raub. Sie ist die Erfindung von Produkten, die Kunden dazu bewegen, sie kaufen zu wollen.
IV. Autorität wird es immer geben
PATRICK DENEEN: Wir sollten darüber nachdenken, wie wir einen Markt schaffen können, der in eine politische und gemeinschaftliche Ordnung eingebettet ist und die Entfaltung von Menschen ermöglicht – eine Ordnung, die nicht davon ausgeht, dass das Generieren von Wohlstand kein Selbstzweck ist, sondern anerkennt, dass die Wirtschaft existieren sollte, um menschliche Güter zu produzieren und Ziele zu fördern. Wie können wir ein Solidaritätsgefühl erzeugen, das anerkennt, dass die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu erkennen, einen Respekt für Kulturen und Traditionen erfordert, welcher in einer liberalen Ordnung untergraben wird?
FRANCIS FUKUYAMA: Es gibt ein lebendiges Beispiel für ein Land, das genau das tut, was Sie sagen. In Deutschland gibt es ein Bildungssystem, bei dem man in der fünften Klasse entweder auf einen beruflichen oder einen akademischen Weg geht. Dieses System wird durch ein Ausbildungssystem ergänzt, das genau diese Würde für arbeitsbezogene Fähigkeiten schafft, die Sie ansprechen.
Ich bewundere dieses System, weil es der Arbeiterklasse Würde verleiht. Wenn Sie Einzelhandelskaufmann in den Vereinigten Staaten werden wollen, gehen Sie zu Walmart, bekommen zwei Tage Training und werden dann auf die Verkaufsfläche geschickt. In Deutschland müssen Sie zwei oder drei Jahre Unterricht nehmen, und Sie erhalten ein Zertifikat, das anerkennt, dass Sie diese Ausbildung abgeschlossen haben. Das macht Sie vielleicht nicht zu einem besseren Verkäufer, aber es verleiht Ihnen ein gewisses Gefühl von Würde, richtig? Ich denke, das, was Sie kritisieren, ist nicht der Liberalismus; es ist eine spezifisch amerikanische Version des Liberalismus, die immer viel härter und respektloser war.
Nehmen wir zum Beispiel das Verhältnis von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. In Nordeuropa gibt es breit angelegte, kooperative Verhandlungen über Löhne, die für die gesamte Wirtschaft gelten. Es ist ein Verhältnis, das auf Vertrauen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern beruht, im Gegensatz zum amerikanischen System, das völlig konfrontativ ist. Es ist wie ein Nullsummenspiel zwischen Kapital und Arbeit. Ein ähnliches Nullsummenspiel gibt es in Südeuropa. In Italien und Frankreich gewinnen die Arbeitnehmer, und in den USA gewinnen die Arbeitgeber. Aber ich denke, dass es unterschiedliche Varianten des Kapitalismus und verschiedene politische Ansätze für die Abmilderung der Probleme gibt, die sie ansprechen, Patrick.
PATRICK DENEEN: Aber, Frank, Sie wissen, aus welcher Tradition diese Arrangements entstanden sind. Es war die Christdemokratie, nicht der Liberalismus.
FRANCIS FUKUYAMA: Natürlich. Demokratie selbst hat christliche Wurzeln, denke ich. Aber man braucht nicht selber praktizierender Christ zu sein, um diese Tradition am Leben zu erhalten. Es ist eine Frage der öffentlichen Politik. Jede Gesellschaft kann Arbeit würdigen, indem sie solche Politiken umsetzt. Gleichzeitig werden wir nicht in eine frühere Welt zurückkehren, in der jeder ein Arbeiter war.
CORNEL WEST: Eine weitere Gefahr liegt in der entstandenen Wut auf die Eliten und Technokraten. Diese ist von weißer und männlicher Suprematie sowie von Fremdenfeindlichkeit geprägt. Es herrscht ein tiefer Hass auf uns, die wir hier an diesem Tisch sitzen – die Klasse der Bildungselite, die die Menschen verraten haben soll. Vielleicht haben wir gar nicht mehr so viel Zeit. Der amerikanische Neofaschismus könnte so schnell kommen, dass wir keine Zeit haben, uns mit diesen subtilen Problemen auseinanderzusetzen.
Und deshalb sollten wir uns fragen: Wie mildern wir diesen neofaschistischen Backlash ab? Schauen Sie nach Charlottesville: »Die Juden werden uns nicht ersetzen, die Schwarzen werden uns nicht ersetzen, die Frauen werden uns nicht ersetzen.« 2017 war das die Position einer extremen Splittergruppe, mittlerweile ist sie ins Zentrum gerückt. Und es hat nur fünf Jahre gedauert, bis diese Position normalisiert wurde.
Cornel West
PATRICK DENEEN: Es ist nicht nur ein Problem des amerikanischen Kapitalismus. Der politische Backlash, über den wir hier sprechen, könnte sich auch anderswo ereignen. Hierzulande mögen die Bedingungen besonders gut sein, allerdings sehen wir im gesamten entwickelten Westen ähnliche Entwicklungen und Gefahren. In Italien und anderen Ländern in Europa ist der rechte Populismus bereits auf dem Vormarsch. In Teilen Osteuropas ist er längst an der Macht.
Es ist also kein rein amerikanisches Phänomen. Ich denke, dass die heutige Lage aus dem resultiert, was Christopher Lasch den Verrat der Eliten an der Demokratie genannt hat. Wie Lasch bemerkte, haben wir eine Managerklasse, die sich völlig losgelöst hat von denen, die weniger erfolgreich sind. Diese Klasse übernimmt keinerlei Verantwortung mehr für andere Menschen in der Gesellschaft – es ist schlicht die Schuld der Menschen, dass sie weniger erfolgreich sind. Sie haben nicht hart genug dafür gearbeitet.
CORNEL WEST: Ein Teil unseres Problems ist also, besonders in unserem Land, dass wir einige wütende Mitbürger haben, die fest davon überzeugt sind, dass die professionelle Managerklasse von Gier, Arroganz, Herablassung und Überheblichkeit beherrscht wird und jeglichen Respekt vor anderen Menschen verloren hat.
Und all das Gerede von Pluralität und Vielfalt und Gleichberechtigung macht es nicht besser. Wenn es wirklich darauf ankommt, hat die Managerklasse für normale Menschen nicht viel übrig. Was bewirkt der Multikulturalismus dieser Elite? Er macht das Imperium bloß bunter. Er macht die Klassenhierarchie diverser. Dennoch ist der Schaden angerichtet – die Menschen haben das Gefühl, an den Rand gedrängt zu werden und ihre Würde zu verlieren.
PATRICK DENEEN: Diese Kritik wird heute sowohl von links wie von rechts vorgetragen. In der National Review hingegen verurteilt Kevin Williamson Menschen, die es versäumt haben, rechtzeitig aus ihren rückständigen, heruntergekommenen Orten – Steubenville, South Bend, Gary – wegzuziehen. Angeblich weil sie nicht genug Mumm haben, um zum nächsten Händler zu gehen und sich einen Umzugswagen zu mieten. Wir sprechen hier von Menschen, deren Familien möglicherweise schon seit Generationen in diesen Orten leben. Aber Williamson behauptet einfach, es sei ihre eigene Schuld, wenn sie sich keinen Umzugswagen mieten.
Sowas soll den Menschen das Gefühl geben, selbst Schuld daran zu sein, wenn sie im heutigen System Verlierer sind. Und es tröstet sie wenig, wenn sie dann Sätze hören wie: »Nun, du bist 25-mal reicher als Menschen vor 200 Jahren.« Das ist kein Trost, weil die Menschen herablassend behandelt und als minderwertig angesehen werden. Wenn man wütende Formen der Rebellion, die ich mittlerweile für wahrscheinlich halte, wirklich vermieden will, dann muss man ein echtes Verantwortungs- und Pflichtgefühl entwickeln. Ein solches Verantwortungsgefühl darf nicht von der elitären Vorstellung ausgehen, dass man in Harvard, Yale oder Princeton studiert haben muss, um erfolgreich zu sein.
Und um das nochmal klar zu sagen, ich glaube, dass diese Auswirkungen schlicht Auswirkungen des Liberalismus sind. Der Liberalismus hat schon immer bestimmte Gruppen von Menschen identifiziert, die den Idealen des Liberalismus nicht entsprechen. Das waren die indigenen Völker Amerikas, die Afroamerikaner, die ungeborenen Kinder. Und jetzt sind es zunehmend die Mitglieder der weißen Arbeiterklasse – obwohl es nicht nur die weiße Arbeiterklasse betrifft –, die nicht den Mumm haben, aus Steubenville wegzuziehen.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Nun, ich wüsste schon ein paar Dinge, die wir dagegen tun können. Zum Beispiel könnten wir den Menschen helfen, aus wirtschaftlich unrentablen Regionen wegzuziehen. Und ich bin sogar bereit, dafür Steuern zu zahlen. Was schlagen Sie vor?
PATRICK DENEEN: Wir sollten diese Orte nicht aufgeben. Wir sollten sie wieder aufbauen. Wir sollten die Menschen dabei unterstützen, in ihren Heimatorten bleiben zu können. Wir sagen ihnen nicht: »Lasst uns die Steuern erhöhen, damit jeder umziehen kann.« Menschen haben ein Heimat- und Zugehörigkeitsempfinden. Das ist aus Sicht des Liberalismus nicht nachvollziehbar. Menschen aus ihren Heimatorten wegzulocken entspricht ganz der Denkweise der Managerklasse.
Frank hat auch schon Beispiele aus Deutschland genannt. Mein Schwiegervater ist ein deutscher Metzger. Sein Vater war Metzger, sein Großvater war Metzger. Seit Generationen lebt seine Familie in derselben Stadt. Ich muss oft an den Zustand deutscher Städte direkt nach dem Zweiten Weltkrieg denken. Viele wurden vollständig zerstört. Vergleichen Sie diese Städte mit einigen amerikanischen Städten, die ich schon erwähnt habe. Einst waren das blühende Gemeinschaften, wunderschöne Orte. Und sehen Sie diese Orte heute an: Sie sehen aus, als hätten sie den Krieg verloren.
Viele deutsche Städte wiederum, die im Krieg zerstört wurden, sind heute wunderschön. Berlin und Dresden sind wunderschön. Zumindest die Teile, die nicht von den Sowjets wiederaufgebaut wurden. Viele kleine Städte, deren Namen wir nicht einmal kennen, wurden alle schön restauriert. Und warum ist das so? Nun, es war der Marshallplan, es waren Investitionen in diese Orte. Aber es lag auch daran, dass den Deutschen diese Orte am Herzen lagen. Sie haben sie nicht aufgegeben.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Wir sollten keine Subventionen für Orte bereitstellen. Hier ein Beispiel: In Großbritannien haben die High Streets – also die zentralen Einkaufsstraßen – die Möglichkeit, die Ausbreitung von Einkaufszentren, die so charakteristisch für die USA sind, zu verhindern. Nun sagen Sie vielleicht: »Oh, das ist doch wunderbar!« Salisbury, eine wunderschöne Stadt mit einer großartigen Kathedrale, ist ein solches Beispiel. Und damals, als die Leute Sabbat hielten, wie Sie es bevorzugen, ging man sonntags nicht einkaufen. Was war das Ergebnis?
Berufstätige Frauen, die sich um ihre Familien kümmerten, mussten samstagmorgens einkaufen. Die Besitzer von Immobilien in der High Street profitierten davon, weil sie Konkurrenz verhindern konnten. Es klingt sehr nett: »Oh, wir haben dieses wundervolle Zuhause, und es ist unser Zuhause, und wir leben schon immer hier.« Aber wenn man es tut, hilft man damit nicht unbedingt den Menschen, über die sie sprechen. Sie helfen nicht den Frauen. Sie helfen nicht den armen Menschen, die lieber bei Walmart einkaufen würden.
All Ihre Vorschläge, um das vermeintliche Virus mit dem Namen Liberalismus zu bekämpfen, stammen ohne Ausnahme aus den 1950er Jahren – hohe Zölle, hohe Transportkosten. Frauen wieder zurück an den Herd …
PATRICK DENEEN: Habe ich das gesagt?
DEIRDRE MCCLOSKEY: Was ist Ihre Alternative, Patrick? Es weht ein Wind, welcher den Menschen Hoffnung beschert und ihnen eine spirituelle Zukunft beschert. Wie sie wissen, habe ich eine ziemlich harsche Kritik über eines Ihrer Bücher geschrieben. Aber ich respektiere Ihre Gelehrsamkeit. Ich möchte ernsthaft von Ihnen wissen, was Ihre Alternative ist.
PATRICK DENEEN: Ich will einmal John Dewey zitieren. In einem wunderbaren Essay mit dem Titel Liberty and Social Control argumentiert Dewey, dass immer dann, wenn jemand Freiheit beansprucht, Macht im Namen dieser Freiheit ausgeübt wird. Mit anderen Worten: Es gibt kein politisches System, auch nicht den Liberalismus, das keine Autorität ausübt. Die Frage ist also nicht: »Gibt es in Ihrem System Autorität?«, sondern: »Zu welchem Zweck wird Autorität ausgeübt?« Wie würden wir zum Beispiel Familien als eine Frage der öffentlichen Politik und der nationalen Dringlichkeit priorisieren?
DEIRDRE MCCLOSKEY: In dem wir Abtreibung verbieten, Queers verbieten, und noch mehr verbieten …
PATRICK DENEEN: Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gefragt, was wir tun können, um die Bildung und Stärkung von Familien in den Vereinigten Staaten zu fördern? Und die erste Reaktion eines Liberalen ist immer: »Oh, Sie wollen Queers und Abtreibung verbieten.« Das ist die typische Reaktion, die besagt, dass jeder, der starke Familien fördern will, ein Autoritärer sein muss. Ich habe gerade damit begonnen zu sagen, dass es immer eine Form der Autoritätsausübung geben wird.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Nun, ich habe an sie alle appelliert. Wie sagte Lenin noch gleich: »Was tun?«
CORNEL WEST: Man beginnt nicht mit der Festlegung von Politiken. Man braucht eine umfassendere Vision. Wir müssen auf Traditionen zurückgreifen, und wir müssen dies mit einer Haltung aufrichtiger Kritik tun. Denn Traditionen können einengen, und sie können befreien. Tradition ist etwas, das man mit einer gewissen Distanz betrachten muss, aber es gibt keine Alternative dazu. Man kommt immer aus irgendeiner Tradition, egal was man tut.
PATRICK DENEEN: Ich werde ständig gefragt, was ich eigentlich will. Greife ich einfach auf die Vergangenheit zurück? Ich greife auf etwas aus der Vergangenheit zurück, aber das ist eher philosophischer Natur und nicht an eine bestimmte Zeit gebunden. Und ich denke, Sie tun das Gleiche, Deirdre. Sie berufen sich auf Adam Smith – ich berufe mich auf Aristoteles. Nicht, weil ich denke, wir sollten im vierten Jahrhundert vor Christus leben, genauso wenig wie Sie im achtzehnten Jahrhundert nach Christus leben wollen. Wir finden in diesen Quellen Lektionen, die wir heute wieder lernen müssen. In der Bibel, wenn Paulus das Wort »Freiheit« benutzt, bedeutet dies nicht Freiheit von äußeren Zwängen, die Freiheit, zu tun und lassen, was man gerade will. Es bedeutet die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung und Disziplin. Und ich denke, das ist eine Tradition, die wir wiederentdecken müssen. Es geht nicht darum, zurückzugehen, es geht darum, voranzugehen. Wir müssen bewusst darüber nachdenken, in einer Welt mit Grenzen zu leben, und also erlernen, uns selbst zu begrenzen.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Stellen Sie sich eine Welt ohne Liberalismus in den letzten zwei Jahrhunderten vor. Was für eine Welt hätten wir heute? Wir hätten feste Hierarchien.
CORNEL WEST: Aber Liberalismus ist nicht die einzige Opposition gegen Hierarchien.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Ach, kommen Sie. Vorhin haben Sie noch gesagt, dass er die Kraft hatte Könige und Königinnen zu stürzen. Und die erblich bedingte Macht der Könige war die Hauptstütze der Hierarchien. Ohne Liberalismus hätte es kein Wirtschaftswachstum gegeben, in keiner Form. Es hätte immer noch Überseeimperien gegeben – denken Sie an Spanien und Portugal, die keine großartigen, erfolgreichen, kapitalistischen Imperien waren, sondern alte. Wir hätten eine schreckliche Welt ohne Liberalismus.
V. Warum sind sie dabei geblieben?
CHRISTOPHER BEHA: Dies könnte ein guter Moment sein, um über die Beziehung zwischen Liberalismus und Imperialismus zu sprechen. Wir wissen, dass die ersten liberalen Gesellschaften – die Niederländische Republik und das Vereinigte Königreich – große koloniale Besitztümer hatten, in denen die Regeln des Liberalismus nicht galten. Und bis zu einem gewissen Grad wurde das ökonomische Versprechen, das im Zentrum des Liberalismus steckt, für diese Gesellschaften auch durch die illiberale Ausbeutung außerhalb ihrer Grenzen eingelöst.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Was meinen Sie damit? Dass die Ausbeutung nicht-europäischer Völker die liberalen Gesellschaften reich gemacht hat?
CHRISTOPHER BEHA: Ja, oder dass sie zumindest dabei geholfen hat.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Absolut nicht. Wie Mark Twain sagte: »Was uns in Schwierigkeiten bringt, ist nicht, was wir nicht wissen. Es ist das, was wir sicher zu wissen glauben, obwohl es gar nicht wahr ist.« Jeder glaubt zu wissen, dass der Imperialismus ein großer wirtschaftlicher Vorteil für Europa war. Aber das stimmt nicht.
Die Idee, die einem in der neueren Geschichtsschreibung über die Sklaverei begegnet – nämlich, dass die Sklaverei die Vereinigten Staaten reich gemacht hat –, wird zwar oft vorgebracht und sie findet sich auch in Lincolns zweiter Antrittsrede. Aber sie ist Unsinn. Sie stimmt einfach nicht. Wenn es wahr wäre, dann wären die Kanadier, die keine Sklaverei hatten, heute arm, und wir wären reich. Das ergibt keinen Sinn.
FRANCIS FUKUYAMA: Vor der empirischen Frage, ob der Imperialismus nützlich für die Vereinigten Staaten gewesen ist, stellt sich noch eine andere Frage für mich. Sie hat mit der Menschenwürde zu tun. Einerseits gibt es die liberale Vorstellung, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind und gleiche Rechte haben sollten. Andererseits gab es ein sehr limitiertes Verständnis davon, wer ein Mensch mit Rechten ist. Der große gesellschaftliche Wandel bestand in der Erweiterung dieser Definition.
Männer ohne Eigentum sind in den USA in den 1820er Jahren hinzugekommen. Der 14. Verfassungszusatz weitete dies theoretisch auf Afroamerikaner aus, aber dann wurde es für ein weiteres Jahrhundert wieder aufgehoben. Frauen erhielten es erst mit dem 19. Zusatzartikel. Und so weiter. Das hatte ein Pendant in der Außenpolitik, wo ein Wandel im 20. Jahrhundert einsetzte, weil – wegen Hitler und der Niederlage des Faschismus – es für Liberale in Europa oder den Vereinigten Staaten unmöglich wurde zu sagen: »Ja, wir haben das Recht, über diese nicht-weißen Menschen aufgrund ihrer Rasse zu herrschen.« Wenn alle Menschen gleich sind, wie lässt sich dann beispielsweise rechtfertigen, die Philippinen als Kolonialbesitz behalten zu wollen? Das geht nicht. Es stimmt also, dass liberale Gesellschaften im Wesentlichen rassistische Kolonialpolitik betrieben haben. Nicht-liberale Gesellschaften taten das aber auch. Ohne die liberale Idee der menschlichen Gleichheit hätte man den Kolonialismus nicht beenden können.
Der Liberalismus hat also zumindest den Samen dafür gepflanzt, indem er das Ideal formulierte, dass alle Menschen gleiche Rechte haben sollten.
CORNEL WEST: Zwei Dinge. Erstens haben wir einen tiefen Dissens mit unserer lieben Schwester in Bezug auf die Ökonomie des Imperialismus. Imperialismus ist nicht nur ökonomische Ausbeutung, es geht um die Enteignung ganzer Länder von anderen Menschen. Es geht darum, dass diese Menschen und ihre Kinder getötet wurden. Wir haben es also mit einer Frage der Würde zu tun, und ich denke, hierauf können wir uns alle einigen.
Deirdre, Sie sagen, der Kolonialismus habe keinen Nutzen gebracht. Warum haben die alten Eliten dann so lange an ihm festgehalten? Warum haben sie so lange damit weitergemacht, wenn es nicht in irgendeiner Weise in ihrem Interesse lag – wirtschaftlich, psychisch, spirituell, politisch, kulturell oder zivilisatorisch? Ich denke, wir können uns auch darauf einigen, dass es ein Interesse gab, und dann können wir auch darüber diskutieren, welche ökonomische Dimension dieses Interesse hatte.
Wir sollten das aber nicht mit einem europäischen oder weißen Blick tun. Schwarze Menschen brauchten weißen Abolitionisten nicht, um zu wissen, dass sie frei sein wollten. Japaner brauchten keine Europäer, um zu wissen, dass sie sich diesen nicht unterordnen wollten. Menschen in Afrika, indigene Völker in anderen Teilen der Welt – sie brauchten keine Europäer, um gesagt zu bekommen: »Ihr seid rechtstragende Wesen, ihr seid Menschen.« Sie wussten das bereits. Es waren die Menschen mit den Waffen, die das Memo nicht erhalten hatten.
Das Gleiche gilt für Frauen. Frauen brauchten nicht das Beispiel anderen sozialen Bewegung. Sie mussten nicht auf Männer warten, die ihnen sagten: »Ihr seid echte menschliche Wesen. Ihr könnt aus den patriarchalen Strukturen ausbrechen.« Es gab diese Stimme immer schon, aber sie wurde unterdrückt. Das Gleiche gilt für schwule Brüder, lesbische Schwestern, nicht-binäre und trans Menschen. Sie haben lange versucht, ihre Stimmen zu erheben.
CHRISTOPHER BEHA: Eine Sache, die wir in diesem Gespräch noch gar nicht erörtert haben, mit der ich jedoch fest gerechnet habe, ist die Artikulation der liberalen Werte als universelle Werte. Es scheint, als wären alle sich hier über die Verwurzelung von Traditionen und Kulturen einig. Aber das bringt uns zurück zu der Frage, die Frank zuvor behandelt hat: die Sichtweise, welche den Liberalismus als Fortschritt begreift, der das liberale System in andere Länder exportiert, mit dem Wunsch, jede Gesellschaft der Welt entlang liberaler Linien zu strukturieren.
DEIRDRE MCCLOSKEY: Ich wünschte, dies wäre geschehen. Ich glaube daran, dass die Welt heute besser dran wäre, wenn das geklappt hätte. Und ich glaube, dass es das Ende der Geschichte wäre, auch wenn Frank diesen Begriff heute nicht mehr benutzt.
FRANCIS FUKUYAMA: Meine Sichtweise ist heute völlig pragmatisch. Die Vereinigten Staaten haben sich viele Probleme eingehandelt, als sie versuchten, liberale Werte zu exportieren. Wir hatten diese Periode zwischen 1989 bzw. 1991 und 2008, in der die Vereinigten Staaten völlig hegemonial waren – militärisch, ökonomisch, kulturell. Und wir haben diese Macht nicht sehr verantwortungsvoll genutzt. Der Grund, warum ich mich in den letzten Jahren nach links bewegt habe, sind zwei große Ereignisse, die in diesem Zeitraum geschehen sind: die Invasion im Irak und die Finanzkrise. Beide resultierten aus übermäßiger amerikanischer Selbstüberschätzung – zunächst, dass wir die Welt mit militärischer Macht im Sinne liberaler Werte umgestalten können, und dann, dass globale Finanzmärkte sich selbst regulieren und alle besser stellen würden. Beide Projekte sind gescheitert.
Ich bin also dafür, bei diesem Ideenexport vorsichtig zu sein, weil ich nicht glaube, dass er funktioniert. Es gibt Orte, wo er funktioniert hat. Man bombardiert Deutschland und Japan in Schutt und Asche, gibt ihnen viel Geld für den Wiederaufbau und präsentiert ihnen mit der Sowjetunion einen großen Feind, und was soll man sagen? Deutschland und Japan sind bereit demokratische Werte zu übernehmen, und sie sind sogar erfolgreich damit. Aber wenn man in den Irak und nach Afghanistan blickt, wo unterschiedliche Kulturen mit unterschiedlichem Entwicklungsstand existieren, funktioniert das nicht.
Ich sehe das nicht aus ideologischer Sicht. Ich stimme mit Dierdre überein, dass wir wahrscheinlich eine bessere Welt hätten, wenn jeder die Menschenrechte respektieren und liberal denken würde. Aber das ist nicht die Welt, in der wir leben, und wir haben auch nicht die Macht, um sie zu schaffen. Also müssen wir vorsichtig sein.
PATRICK DENEEN: Ich glaube nicht, dass die imperiale Frage vom Tisch ist. Amerika ist eine Art Vorbote der liberalen Ordnung. Wir haben die extremste Form des Marktliberalismus und die extremste Form des Sozialliberalismus, und wir exportieren beide. Es ist eine andere Form des Imperialismus. Es ist eine effizientere Form des Imperialismus: ein weicher, kultureller Imperialismus sowie ein finanzieller Imperialismus, ein Marktimperialismus. Und jetzt sehen wir, dass die politischen Konsequenzen dieser Extreme – die populistische Reaktion – auch zunehmend globaler wird.
CORNEL WEST: In Democracy Matters habe ich ein Kapitel über die demokratische Tradition geschrieben. Der Hintergrund dieser Tradition ist die Würde von einfachen Menschen. Jeder Einzelne hat in den Augen von etwas Höherem denselben Status. Sie müssen eine Bildung durchlaufen, sie müssen eine spirituelle Formung durchlaufen, sie müssen ein Gefühl für bürgerliche Tugend entwickeln, aber es ist ihre Stimme. Das ist eine demokratische Stimme, mit einer liberalen Dimension. Wie haben wir dieses Gespräch begonnen? Ohne den Liberalismus als Voraussetzung für Rechte und Freiheiten ist Faschismus die Alternative – das ist die Realität. Lassen Sie uns da ehrlich sein. Aber die Frage ist dann: Sind wir sensibel genug, und haben wir die Geduld, die Ressourcen in unserer eigenen Tradition zu erkennen und zu nutzen, die als Ausgangspunkt für Alternativen dienen könnten?
DEIRDRE MCCLOSKEY: Wir Amerikaner könnten ein Licht für die Nationen dieser Welt sein – aber wir sind meilenweit davon entfernt.
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Copyright © 2023 Harper’s Magazine. All Rights Reserved. Reproduced from the February issue by special permission. Übersetzung von Otmar Tibes.