It’s the capital order, stupid!
Wer Austerität fordert, hat mehr als nur den Staatshaushalt im Sinn. Clara Mattei argumentiert, dass solche Politiken auch die Arbeitsbeziehungen im Kapitalismus anvisieren. Obwohl ihr Argument nicht immer überzeugt, nimmt sie so eine polit-ökonomische Revision des Austeritätsbegriffs vor und eröffnet neue Perspektiven auf die Geschichte des Kapitalismus.
Als die Wogen der Corona-Pandemie sich glätteten und die zuvor ins Homeoffice verbannten Beschäftigten, die in Kurzarbeit geschickten Arbeiter:innen und selbst die zur Kinderbespaßung verpflichteten Eltern wieder Morgenluft schnupperten, regte sich in ihren Diskursen eine leise Hoffnung: Sollte künftig alles anders sein? Ließe sich nicht manches, vielleicht vieles, vernünftiger einrichten?
Derartige Erwartungen schienen nicht abwegig: Einerseits signalisierte die Kopplung von Systemrelevanz und Daseinsvorsorge einen Wechsel ökonomischer Prioritäten. Gleichzeitig legten die teils üppigen Rettungspakete für Unternehmen, Selbstständige und Kultur nahe, reiche Industrienationen könnten sich einiges mehr leisten, als ihre Eliten bisher öffentlich zugestanden hatten. Andererseits hatte die aller Wirren zum Trotz verrichtete Lohntätigkeit demonstriert, dass tägliche Bürogänge die Produktivität nicht unbedingt erhöhten. Ebenso wenig zielführend schien, weiterhin 38 oder 40 Stunden in der Woche zu arbeiten, schließlich konnten die anfallenden Aufgaben in kürzerer Zeit bewältigt werden. Die Betroffenen forderten deshalb aber nicht mehr Aufgaben, sondern mehr Freizeit im Kapitalismus ein. Und ihre Erwartungen an eine bessere Zukunft trübte selbst der russische Überfall auf die Ukraine nicht ein. Stattdessen hielten die Debatten um das Recht auf Homeoffice, die Vier-Tage-Woche und den Kampf gegen Kinderarmut weiter an.
Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Spätestens die Konflikte um den Bundeshaushalt 2024 stellen in Aussicht, dass Versprechen künftig eher gebrochen als ausgesprochen werden: Im Zeichen steigender Zinsen und kostspieliger Steuergeschenke werden zur Zeit Etats eingefroren, Förderlinien zusammengestrichen und üppige Sondervermögen munter filetiert. Das Fiskalregime der »schwarzen Null« 1 Lukas Haffert, Die schwarze Null: Über die Schattenseiten ausgeglichener Haushalte, Berlin 2016. präfiguriert wieder die »fiktionalen Erwartungen« 2 Jens Beckert, Imaginierte Zukunft. Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus, Berlin 2018. im Kapitalismus. Und während Teile der Finanzwissenschaften applaudieren, 3 Lars P. Feld, »Zeitenwende in der Wirtschafts- und Finanzpolitik«, in: Monatsbericht des BMF Februar 2023, S. 18–21, hier S. 20; Handelsblatt.com, »Regierungsberater stützen Lindners Kurs in der Haushaltspolitik«, 23.08.2023, online: https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/haushaltspolitik-regierungsberater-stuetzen-lindners-kurs-in-der-haushaltspolitik/29347674.html reiben andere sich verwundert die Augen: 4 Vgl. Martin Beznoska/Tobias Hentze, »Staatsdefizit von 1,5 Prozent mittelfristig in Deutschland verkraftbar«, in: Vierteljahresschrift zur empirischen Wirtschaftsforschung 50 (3), S. 128–134, hier S. 133. Wie kann im Angesicht von Polykrise und technischer Rezession derart sparsam agiert werden? Hat man denn so wenig gelernt? Wieso werden dieselben Fehler immer und immer wieder aufs Neue begangen?
Die fetten Jahre sind vorbei
Clara Mattei eröffnet mit ihrem 2022 erschienenen Buch The Capital Order. How Economists Invented Austerity and Paved the Way to Fascism eine alternative Deutung der Ereignisse. Dazu geht sie über die herkömmliche Kritik an Austerität als »gefährliche Idee« 5 Mark Blyth, Austerity: The History of a Dangerous Idea, Oxford 2013. und kontraproduktive Wirtschaftspolitik hinaus und schlägt stattdessen vor, ihre (verteilungs-)politischen Implikationen zu analysieren. Ihr Argument lautet, dass Austerität primär ein Manöver der herrschenden Klassen darstellt, die bestehenden Produktionsverhältnisse – die Capital Order – zu verteidigen. Demnach wird in Bedrohungsszenarien eine Trinität sich verstärkender Maßnahmen – konkret fiskalische, monetäre und industrielle Austerität – implementiert, um die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft und damit zuvorderst hinreichende Profitmargen sicherzustellen. Gegenüber diesen Klassenkonflikten nehme also, erstens, die Konsolidierung der Staatsfinanzeneine eine sekundäre Stellung ein. Zudem würden, zweitens, ökonomische Eliten in jenen Konflikten vor wenig zurückschrecken: Im Widerspruch zu liberalen Bekenntnissen würden sie im Falle eines Falles auch Faschisten einspannen, um die Capital Order zu verteidigen. Und weil deren Fortbestand höchste Priorität genieße, würden Ökonom:innen im Zweifel auch wider besseren Wissens Austerität empfehlen, um die Gefahren für die Produktionsweise durch konträr ausgerichtete Erwartungen zu bannen.
Lars Döpking
Matteis Argumente implizieren damit, dass wir über den derzeitigen Haushaltsstreits noch dankbar sein dürfen: Denn gelänge es nicht, in der derzeitigen Koalition die verheißungsvollen Zukunftserwartungen zu drosseln, die sich im Anschluss an die Corona-Pandemie gebildet haben, würden die Anhänger der Capital Order in diesem Bild nur allzu bereitwillig mit Schwarz- oder Braunhemden paktieren, um Sparzwänge durchzusetzen. Eine solche Entwicklung wirkt in Matteis Perspektive geradezu zwingend, da die Autorin keine Faktoren benennt, die deren Profitverlangen moderieren. In ihrer Erzählung wird daher Austerität nicht nur temporär um des Staates Willen implementiert, sondern permanent eingefordert, um die ökonomische Stellung von Eliten zu sichern. Damit geriert die »Geschichte aller bisherigen Gesellschaften« allerdings wieder zur »Geschichte von Klassenkämpfen« 6 Karl Marx/Friedrich Engels, »Manifest der kommunistischen Partei«, in: MEW 4, S. 457–493, hier S. 462. . In ihr erscheint die Sorge um den Staatshaushalt allenfalls als ein Schleier, der die zentrale Konfliktarena (industrieller) Arbeitsbeziehungen verdeckt. Auf diesem Terrain dient Austerität der Capital Order: Hier soll sie die in der Praxis des Klassenkampfes gebildeten Imagination zerschlagen; dort muss sie verhindern, dass politische Imperative ökonomische Herrschaft substituieren. Folglich läuft Matteis Buch auf eine klare Geschichtsphilosophie hinaus, deren Grundzüge sie am Ende des Buches skizziert: »Austerity Forever« (S. 288f).
Biennio Rosso & »A fit country for heroes«
Mattei gelingt es, diesen zentralen Gedanken des Buches – Austerität visiert immer und primär die Arbeitsbeziehungen im Kapitalismus an – im Kopf ihrer Leserschaft fest zu verankern. Dafür sorgt ihr instruktiver Vergleich zwischen den 1920er Jahren in Italien und Großbritannien: Hier wie dort hatte der Erste Weltkrieg wirtschaftliches Handeln verändert, an beiden Orten wirkten Gewerkschafterinnen, Politiker und Reformer fortan auf andere Lebens- und Arbeitsweisen hin, auf der Insel und Halbinsel wurden diese Erwartungen jedoch mit den Mitteln der Austerität zerschlagen. Ihr Buch unterteilt sie dazu in zwei Erzählungen: Die erste schildert die ökonomischen Effekte des Ersten Weltkriegs und die progressive Sozial- und Wirtschaftspolitik im Anschluss an ihn. Die zweite Erzählung schärft den Begriff der Austerität und analysiert dann, wie mit ihr im Vereinigten und Italienischen Königreich diese Entwicklungen abgewürgt und Erwartungen an eine bessere Zukunft zerstreut wurden . Das Buch schließt mit einem, soviel sei hier bereits verraten, wenig überzeugenden Ausblick auf die lange, globale Karriere der Austerität.
Die Autorin skizziert also zunächst, wie der Erste Weltkrieg die Ökonomien Großbritanniens und Italiens politisierte. Um gegen die Mittelmächte zu obsiegen, griffen die Staaten bekannterweise tief in wirtschaftliche Prozesse ein, planten, teilten Material zu; reglementierten aber auch die Löhne und Arbeitsbeziehungen (S. 35–44). Mattei zeigt, dass jene Prozesse zu jeweils unterschiedlichen Ergebnissen führten. Während in Großbritannien sich dank starker Gewerkschaften die Lebensbedingungen der Bevölkerung verbesserten, profitierte in Italien beinahe ausschließlich die Unternehmerschaft von der Nachfrage des kriegsführenden Staates:
During the war Italian capitalists gained exceptionally more; unlike in Britain, the Italian state had no ceiling on profits. Industrialists ably justified price increases while the government lacked any serious tool to account for their production costs, ultimately accepting and buying inflated prices. (S. 48)
Clara Mattei, The Capital Order: How Economists Invented Austerity and Paved the Way to Fascism, Chicago 2022, S.48
Den diversen Verteilungsdynamiken vor Ort zum Trotz hatten diese Maßnahmen dennoch ein gemeinsames Resultat: Sie denaturalisierten die Produktionsverhältnisse und legten so ihre politische Gestaltbarkeit offen (S. 51). Analog zu Claus Offes These der Erosion des Wertgesetzes in den 1960er Jahren 7 Claus Offe, »Tauschverhältnis und politische Steuerung. Zur Aktualität des Legitimationsproblem«, in: Ders. Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Aufsätze zur Politischen Soziologie. Unter Mitarbeit von Jens Borchert und Stephan Lessenich. Veränd. Neuausg. Frankfurt am Main 2006, S. 67–94, hier S. 82. produzierten die Eingriffe in die Kapitalakkumulation somit fiktionale Erwartungen und damit Legitimationsprobleme, die die Konflikte der Nachkriegszeit prägen sollten.
Diesen widmen sich die Kapitel zwei bis vier. Als Akteure stehen dabei, erstens, progressive Eliten im Fokus, die Institutionen wie etwa Ministerien schufen, um die arbeitenden Schichten zu umsorgen. Zweitens nimmt Mattei die Versuche der Arbeiterschaft in den Blick, in Allianz mit dem Staat eine Politisierung der Ökonomie von oben in Gestalt von Nationalisierung zu erwirken. Im Kontrast dazu seien britische Bauhandwerkergilden und italienische Kooperativen aber punktuell erfolgreicher gewesen, da sie durch alternative Wirtschaftspraktiken eine Politisierung von unten praktisch umsetzten. Drittens behandelt das Buch mit L‘Ordine Nuovo die Gruppe, in deren Aktivitäten sich laut Mattei am ehesten eine Alternative zur hegemonialen Capital Order abzeichnete. Die von Antonio Gramsci herausgegebene Arbeiterzeitung reflektierte während der Fabrikbesetzungen im Biennio Rosso (1919–1920) die Praxis des Klassenkampfes und hätte so die Denaturalisierung der Produktionsverhältnisse vorangetrieben (S. 109). Unter Rückgriff auf Archivmaterialien und publizierte Quellen zeichnet die Autorin so ein dynamisches, wenn auch einseitiges Bild 8 So könnte man ihrer Erzählung entgegenhalten, dass die Autorin vor allem die sympathischeren Führungsfiguren von l‘Ordine Nuovo (nicht zu verwechseln mit der beinahe unter gleichem Namen 1956 gegründeten neofaschistischen Terrororganisation) in den Mittelpunkt rückt und die Ambivalenzen des Biennio Rosso unzureichend würdigt. einer Zeit, in der sich historische Alternativen zur Capital Order abzeichneten.
Fiskalische, monetäre und industrielle Austerität
Jedoch wurde diese nie verwirklicht, da die britischen wie italienischen Alternativen fiskalisch, monetär und industriell liquidiert worden seien. Um das zu zeigen, entfaltet die Autorin im zweiten Teil des Buches ihr zentrales theoretisches Argument, wonach Austerität stets auf einer Trinität von Maßnahmen beruht (S. 127–132). Zum einen umfasse fiskalische Austerität die Kürzung von (Sozial-)Ausgaben und die Steigerung staatlicher Einnahmen durch regressive Besteuerung. Zum anderen verknappe monetäre Austerität u.a. durch Leitzinserhöhungen die Geldmenge. Zuletzt befriede industrielle Austerität die Arbeitsbeziehungen und moderiere, etwa mit Gewalt und restriktivem Streikrecht, Lohnforderungen. Mattei betont, dass diese Aspekte sich wechselseitig verstärken: In ihrer Perspektive setzen etwa Entlassungen im öffentlichen Sektor Arbeitskräfte frei, die den Preis der Ware Arbeitskraft reduzieren, was dann die Machtposition der Gewerkschaften schwächt, die schließlich geldpolitische Maßnahme gegen die Preisschocks unterstützten, da sie keine hinreichenden Lohnabschlüsse durchsetzen könnten, um steigende Preise zu kompensieren.
Mattei geht von dieser plausiblen Beobachtung aber noch einen entscheidenden Schritt weiter. Sie fasst jene selbstverstärkende Trinität nicht als einen analytischen Begriff zweiter Ordnung, sondern will zeigen, dass er für historische Akteure handlungsleitend war. Dazu rekonstruiert sie u.a. aus den Protokollen zweier Konferenzen des Völkerbundes in Brüssel (1920) und Genua (1922), wie Ökonomen – namentlich u.a. Rudolf Hevenstein [sic], Gerhard Vissering, Charles Gide, Gustav Cassel und Maffeo Pantaleoni – dort unter dem Eindruck der Klassenkämpfe in ihren Heimatländern eine technokratische, von politischem Einfluss zu isolierende, Agenda entwickelten. Sie planten demnach mit trinitarischer Austerität die Capital Order in ihren Volkswirtschaften zu restaurieren (S. 136–138):
They [the conferences, L.D.] actually represent a landmark moment within the history of capitalism: the emergence of austerity in its modern form, as a global technocratic project. […] In that moment, unlike ever before, capital required protection. This is what the experts at the conferences set themselves out to do: their ultimate objective was to secure the reproduction of the capitalist system. The conferences diagnosed the cause of the crisis as the individuals who […] demonstrated excessive consumption combined with an unwillingness to work productively at low wages. […] Hence the experts forged the drastic cure of austerity: a doctrine of economy and hard work, ostensibly for the good of the nation (or at least their economies).
Clara Mattei, The Capital Order: How Economists Invented Austerity and Paved the Way to Fascism, Chicago 2022, S.158–159
Ihre Strategie ging, so Mattei, in Großbritannien wie in Italien auf. Auf den britischen Inseln erprobten die gut vernetzten Staatsdiener Otto Niemeyer und Basil P. Placket bereits zum Zeitpunkt der Konferenzen verschiedene Austeritätspolitiken. Dabei orientieren sie sich an den Schriften und am Rat des Ökonomen Ralph George Hawtrey, der Inflation auf Überkonsumption zurückführte und zu diesem Zeitpunkt für die Wiedereinführung des Goldstandards plädierte (S. 163–165). Nachdem Niemeyer und Placket zunächst versucht hatten, die »unproduktiven Konsumenten« zu »produktiven Sparern« umzuerziehen, erzwangen sie alsbald mit den Mitteln trinitarischer Austerität fallende Löhne, Preise und Nachfrage: Die britische Regierung erhöhte auf ihren Rat hin die Verbrauchssteuern, verschärfte das Streikrecht und billigte die Erhöhung der Leitzinsen, um den Widerstand der Gewerkschaften zu brechen und auf technokratischen Weg die Capital Order in Großbritannien zu stabilisieren (S. 180–202).
Doch bahnte Austerität dem italienischen Faschismus den Weg?
In Italien tickten die Uhren wiederum anders. Zwar kritisierten Alberto de‘ Stefani, Maffeo Pantaleoni, Umberto Ricci und Luigi Einaudi auch dort die Verhaltensweisen der Arbeiter:innen unter Rückgriff auf die Idee einer »reinen Ökonomie«. Jedoch mussten sie sich auf der Halbinsel mit der faschistischen Regierung einlassen, um ihre Pläne zu verwirklichen. Mattei erinnert zutreffend daran, dass dem italienischen Liberalismus der Zweck des technokratischen Projekts die Mittel marodierender Schwarzhemden heiligte. Doch wer genau hinschaut, der kann auch in diesem Kapitel nicht erkennen, wie Austerität dem Faschismus den Weg bahnte. 9 Hierauf hat auch Leon Wansleben hingewiesen: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-134621. Ihm ist zuzustimmen, dass der Titel des Buches wenig Sinn ergibt: Offensichtlich etabliert sich nur in Italien und nicht in Großbritannien ein faschistisches Regime und auch hier wurde, wie Mattei im Detail zeigt, erst nach und nicht vor der Machtübernahme Mussolinis Austerität implementiert. Daher wird man eher den genau entgegengesetzten Schluss ziehen müssen, dass die faschistische Gewalt gegen Gewerkschaften, Sozialisten und Landkooperativen dieser Politik den Weg bahnte. Sicherlich stießen die strategisch angestimmten liberalen Töne Mussolinis in Unternehmerkreisen auf Zustimmung. Jedoch versuchten die Professoren die Faschisten eher wie ein Taxi für ihre Pläne zu nutzen, als dass sie ihren Aufstieg tatkräftig hätten befördern können. Den langfristig bescheidenen Erfolg ihres Ansinnens unterschlägt Mattei zudem geflissentlich: Ein 1927 von Luigi Einaudi verfassten Kommentar im Economist genügt nicht, um ihn zu den »loyal soldiers in Mussolini’s lira battle« zu zählen und so eindeutige Kontinuitätslinien zu ziehen – schließlich engagierte sich der spätere erste Staatspräsident ab 1924 kurzfristig in der antifaschistischen Unione Nazionale, publizierte zuletzt im November 1925 im Corriere della Sera und stimmte 1928 gegen das faschistische Wahlgesetz. 10 Giovanni Pavelli, »The Economists and the Press in Italy from the End of the Nineteenth Century until Fascism: The Case of Luigi Einaudi«, in: Journal of the History of Economic Thought, March 2023, S. 1-27. Der Rezensent möchte Einaudi keinesfalls von aller Kritik lossagen. Doch diese Darstellung ist zu einseitig. Unternehmen profitieren zweifellos – die Vordenker der Austerität allerdings nur begrenzt, womöglich weil sie ihr Handeln auch an anderen Werten jenseits barer Zahlung ausrichteten.
Bedauerlicherweise hören damit die Ungenauigkeiten nicht auf. Vielleicht, weil Mattei theoretisch davon ausgeht, dass fiskalische Austerität eine Verteilung der Steuerlast von den Reichen auf die Armen stets einschließt, vergisst sie zu erwähnen, dass de‘ Stefani mit seiner Steuerreform zugleich die Imposta Complementare einführte. Sie erhöhte den Spitzensatz der Einkommensteuer sogar leicht. 11 Regio Decreto, 30 dicembre 1923, n. 3062, Art. 14. Tatsächlich ging der Anteil direkter Steuern am Gesamtaufkommen nach 1922 auch nicht zurück (S. 228), sondern stieg in der Folge leicht an. 12 Domenicantonio Fausto, »La politica fiscale dalla prima guerra mondiale al regime fascista«, in: Franco Cotttla (Hg.), La politica monetaria tra le due guerre, 1919–1935, Rom 1993, S. 3–138, hier S. 25–26. Solch »entgegenwirkende Ursachen« 13 Karl Marx/Friedrich Engels, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Band 3, in: MEW 25, S. stehen dem Argument des Buches im Wege. Auch Matteis Andeutung, der Finanzminister habe die »unteren Klassen« direkter Besteuerung unterworfen (S. 227), ist irritierend: Die in den Quellen ausgelobten 100.000 zusätzlichen Zensiten genügten dazu beileibe nicht: Italien zählte zu diesem Zeitpunkt nun einmal mehr als vier Millionen Industriebeschäftigte. 14 Sylos Labini, Le classi sociali negli anni’80, Roma 1986, S. 220. De‘ Stefani zielte mit dieser Maßnahme eher mäßig erfolgreich auf die Landbevölkerung und Staatsangestellten, die in Matteis Narrativ nur am Rande eine Rolle spielen, vgl. auch Vera Zamagni, Economic History of Italy, Oxford 1993, S. 244. Insgesamt passen die ökonomischen Ambivalenzen des Faschismus, dessen Vision einer korporativen Autarkie spätestens mit der Getreideschlacht des Jahres 1925 Gestalt annahm, kaum in die Erzählung einer exklusiv auf Austerität ausgerichteten Wirtschaftspolitik, die Mattei feilbietet. 15 Vgl. etwa Alexander Nützenadel, Landwirtschaft, Staat und Autarkie. Agrarpolitik im faschistischen Italien (1922–1945), Tübingen 1997, S. 128ff. Instruktiv an dieser Episode scheint, dass Benito Mussolini mit Mario Ferraguti, der »treibende[n] Kraft« hinter dem Comitato Permamente del Grano u.a. aufgrund dessen »Aversion gegenüber den akademischen ‚Verzichtstheoretikern‘« sympathisierte (Ebd., S. 129). Auch Wolfgang Schieder, Benito Mussolini, München 2014, S. 8, teilt mit: »Die ideologische Unbestimmtheit wurde […] zu seinem [Benito Mussolinis, L.D.] politischen Markenzeichen.« Aus dieser Perspektive liest Mattei zu viel Kohärenz in ein diffuses Regime hinein. Forschungsliteratur, die solche Thesen kritisch diskutiert, führt Mattei auch nicht im Literaturverzeichnis auf. 16 Vgl. Franklin H. Adler, Italian Industrialists from Liberalism to Fascism. The Political Development of the Industrial Bourgeoisie, 1906-1934, Cambridge 1995, S. 160ff; David D. Roberts, Fascist Interactions. Proposals for a New Approach to Fascism and Its Era, 1919-1945, New York/Oxford 2016, S. 64f.
Nichtsdestotrotz bleibt der Autorin selbstverständlich zuzustimmen, dass das Regime insbesondere die Sozialausgaben massiv kürzte und die Steuereinnahmen erhöhte, um die Staatsfinanzen zu Lasten der Arbeiter:innen zu konsolidieren. Nur kann die von Mattei unterbreitete Kausalkette – vom Klassenkampf über die Geburt der Austerität bis hin zur fachgerechten Implementierung im (oder vor dem?) Faschismus – nicht abschließend überzeugen. Das letzte historisch-qualitative Kapitel räumt diese Zweifel nicht aus. Es wechselt aber die Abstraktionsebene und untersucht den Blick internationaler Finanzkreise auf die faschistische Austeritätspolitik. Den Londoner Gläubigern lag selbstredend die Sicherheit ihrer Investitionen am Herzen. Wenig überraschend begrüßten sie daher de‘ Stefanis Konsolidierungskurs und maßen der faschistischen Gewalt keinerlei größere Bedeutung bei – ihre Sorge galt eher der unzureichenden Unabhängigkeit der 1926 zur Zentralbank ernannten Banca d’Italia (S. 266). Die internationale Capital Order stützte damit das faschistische Regime (S. 263). Im Anschluss hieran fasst Mattei in einem der Argumentation des Buches zweckdienlichen Kapitel die makroökonomischen Effekte der Austeritätspolitik in Großbritannien und Italien zusammen – hier wie dort sanken Reallöhne und stiegen Profite. (S. 271–287). Final eröffnet sie einen Ausblick auf die lange Geschichte der Austerität seit ihrer Erfindung und erstmaligen Implementierung (S. 288–305) und schließt so mit der These, dass Kapitalismus gleichbedeutend mit permanenter Austerität sei. Folglich müsste ihr adäquates Verständnis auch den kontemporären Kapitalismus auf den Begriff bringen.
Austerity Forever?
Diese These wird man aus vielen Gründen bestreiten können und zurückweisen müssen. 17 Vgl. auch hier Leon Wanslebens Rezension: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-134621 Allein zwei Beobachtungen seien diesem wenig überzeugenden Kapitel entgegengehalten: Zum einen lässt die Autorin geflissentlich Episoden aus, die nicht in ihre Erzählung passen. In Italien initiierte der Eintritt in den Europäischen Wechselkursmechanismus 1979 keineswegs eine seither anhaltende Austeritätsphase (S. 292): So warb ausgerechnet die dortige kommunistische Partei angesichts der Ereignisse in Chile bereits zuvor für eine solche Politik und half sie umzusetzen. 18 Enrico Berlinguer, Austerità. Occasione per transformare l’Italia, Roma 1977; Michael J. Sodaro, The Italian Communists and the Politics of Austerity, in: Studies in Comparative Communism 13 (1980), H. 2/3, S. 220–249. Auch entspricht die italienische Haushaltspolitik der 1980er Jahre kaum diesem Vokabular – besser gesagt wäre angesichts einer Verdoppelung der Schuldenquote vom Gegenteil zu sprechen. 19 Chira Zampieri/Luciano Greco, »Il paradosso del ›vincolo esterno‹: un’analisi storica del mancato risanamento della finanza pubblica dagli anni ’70 al 1992«, in: Luciano Greco/Paolo Pertile/Claudio Zoli (Hg.), Efficienza e sostenibilità dell’intervento pubblico, Bologna 2022, S. 85-108. Aus den Augen verliert Mattei zudem, dass selbst realsozialistische Länder ab Mitte der 1970er Jahre Austerität implementierten. 20 Fritz Bartel, The Triumph of Broken Promises. The End of the Cold War and the Rise of Neoliberalism, Harvard 2022. Das deutet zum anderen auf tieferliegende theoretische Probleme hin. So scheint gerade mit Blick auf solche Episoden fraglich, ob wir Austerität tatsächlich besser verstehen, wenn wir sie, wie Mattei vorschlägt, nicht als falsche Idee, sondern primär als Ausdruck der Interessen der Capital Order begreifen. Denn hier droht aufgrund eines gefährlich breit gefassten Begriffes alles ineinander zu zerfließen. Wenn nicht nur liberale Faschisten, sondern ebenso Sozialdemokraten, 21 Björn Bremer, Austerity from the Left. Social Democratic Parties in the Shadow of the Great Recession, Oxford 2023. Kommunisten und realsozialistische Staatsparteien für Austerität optierten, dienten sie dann stets der Capital Order? Oder bestanden vielleicht Sachzwänge, die in einer global-vernetzten, auf Energiezufuhr angewiesenen Ökonomie wenig Alternativen zu ließen? Aus dieser Perspektive wäre Austerität eine der wenigen wirtschaftspolitischen Optionen in Zeiten fallender Wechselkurse. Eine Analyse der Strukturen, die solche Politiken stumm erzwingen, hätte etwa in Gestalt der Außenhandelsbeziehungen Italiens und Großbritannien erfolgen können. Diese hätten jedoch vermutlich offengelegt, dass historische Akteure über eine allenfalls relative Handlungsmacht verfügen: 22 Vgl. etwa Peter Gourevitch, Politics in Hard Times. Comparative Responses to International Economic Crises, Ithaca 1986. Sie agieren in Prozessen, die sie nicht vollumfänglich kontrollieren, womit ihre Geschichte mehr umfassen würde, als ihre Klassenkämpfe. Anders ausgedrückt: Austerität ist unumstritten ein wiederkehrendes und zentrales Phänomen kapitalistischer Dynamik. Dass sie jedoch des Pudels Kern ausmacht, kann Mattei nicht überzeugend zeigen.
Insgesamt sollte man deshalb aber keinesfalls einen Fehler begehen und ihr Buch ungelesen beiseitelegen. Wer über den womöglich marketingstrategisch motivierten Untertitel, den normativen Duktus und vielleicht das finale Kapitel hinwegsieht, für den hält das ansonsten glänzend geschriebene Buch viele historische und theoretische Einsichten bereit. Clara Mattei hat dabei insbesondere den Begriff der Austerität um eine wichtige Dimension erweitert: Nach der Lektüre ihres Buches kommt man nicht umhin, auch in den aktuellen Konflikten um Haushaltspolitik mehr zu erkennen, als nur schlechte Wirtschaftspolitik oder veraltete Ideen der 1990er Jahre: It’s (also about) the Capital Order, stupid.