Kants Platz im Liberalismus
Kaum ein Philosoph ist so oft für politische Zwecke entfremdet und vereinnahmt worden wie Immanuel Kant – das gilt insbesondere für seine liberale Rezeption. Alexander Schwitteck diskutiert drei prominente Fälle der zum Teil polemischen Fehlinterpretation.
In diesem Jahr wurde der 300. Geburtstag von Immanuel Kant gefeiert. Im gewöhnten Rhythmus der Jubiläen unserer ‚Großen‘ wurde auch im Feuilleton und in Festschriften auf Kant geblickt. Dort versicherte man sich und einem breiteren Publikum der kontinuierlichen Bedeutung seiner Ideen für die Gegenwart. Ein wiederkehrendes Motiv: Kant habe die wesentlichen Elemente des Liberalismus – wenn auch noch nicht voll entwickelt – vorgedacht. Die Menschenwürde, unveräußerliche Menschenrechte, die Idee des Rechtsstaats, das Ideal einer republikanisch-demokratischen Staatsform sowie die konstitutive Bedeutung von Eigentum für die Rechtsordnung seien bei Kant bereits angelegt.
Auch in der ideenhistorischen Forschung wird Kant wie kaum ein anderer Philosoph (mit der Ausnahme von John Locke) als Urvater des Liberalismus angesehen. Karl Popper beispielsweise identifiziert bei Kant, im Gegensatz zu den »orakelnden Philosophen« Platon, Marx und Hegel einen »brennenden Liberalismus« 1 Popper, K., 1975. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Stuttgart: UTB, S. 334. und Kant wird, wie der Kant-Forscher Dieter Schönecker notiert, »ohne Zweifel« als Vertreter des Liberalismus verstanden. 2 Schönecker, D., 2021: Immanuel Kant, S. 29–35 in: M. G. Festl (Hrsg.), Handbuch Liberalismus. Wiesbaden: J.B. Metzler, S. 29. Folgt man diesen Einschätzungen, so scheint der ideengeschichtliche Standort Kants eindeutig zu sein: Er gehört in die Geschichte des Liberalismus. Diese Zuordnung war jedoch nicht immer gegeben. Kants politische Philosophie zeugt von einer wechselhaften Rezeptionsgeschichte. Bis in die 1980er Jahre dominierte das Bild des obrigkeitsstaatlichen Kants. Sein Bekenntnis zum aufgeklärten Absolutismus Friedrichs II. sowie seine strikte Ablehnung von Revolution und Widerstand wurden als Affirmation des bestehenden politischen Status quo interpretiert und damit als alles andere als liberal gewertet. 3 vgl. Borris, K. 1928. Kant als Politiker. Zur Staats- und Gesellschaftslehre des Kritizismus. Leipzig: Scientia-Verlag, S. 172.
Im Rahmen dieses Beitrags kann die gesamte Rezeptionsgeschichte nicht umfassend dargestellt werden. Stattdessen soll die These vertreten werden, dass in Kant oft das hineininterpretiert wurde, was man sehen wollte, wodurch Mythen in der Rezeption entstanden, die nur schwer wieder loszuwerden sind. Dies gilt insbesondere, wenn sich diese Fehlinterpretationen durch ständige Wiederholung verfestigen und zur Doxa in der Philosophiegeschichtsschreibung werden. Sie verraten meist mehr über das politisch-philosophische Profil des Interpreten als über Kant selbst. Dies wird insbesondere ersichtlich bei der liberalen Bezugnahme. Während einige Liberale der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Kant als potenziellen Gegner des Liberalismus einordneten und eine Verbindung zwischen Kant und den politischen Verhältnissen in Deutschland herstellten, wurde sein Denken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rehabilitiert, sodass er teilweise als Proto-Liberaler schlechthin figurierte. In Anbetracht dieser schwankenden Rezeptionsgeschichte innerhalb der liberalen Theoriefamilie lohnt es sich einzelne markante Schlaglichter auf diese zu werfen. Dafür soll ein Fokus auf die Rezeption Kants bei John Dewey, Isaiah Berlins und John Rawls gelegt werden.
Alexander Schwitteck
Fußnote in der politischen Ideengeschichte?
Um 1800 ist Kants berühmte Friedensschrift in ganz Europa diskutiert worden, manche Interpreten sprechen gar von einer »Hochphase« der Rezeption. Dementgegen ist der überwiegende Teil seiner der politischen Schriften nicht in gleichem Maße gewürdigt worden wie seine erkenntnis- und moralphilosophischen Schriften. 4 Eberl, O., 2008. Demokratie und Frieden. Kants Friedenschrift in den Kontroversen der Gegenwart. Baden-Baden: Nomos, S. 47. Kants Reputation als politischer Philosoph war daher lange bescheiden. Dafür lassen sich mindestens drei Gründe anführen, die nicht unabhängig voneinander zu betrachten sind:
- Kant hat nie eine Kritik der politischen Vernunft verfasst. Seine politische Philosophie entfaltet sich in einer Reihe von Aufsätzen und Traktaten, die vornehmlich in den 1790er Jahren entstanden sind. Darunter zählen die Schriften Über den Gemeinspruch (1793), Zum Ewigen Frieden (1795), Die Metaphysik der Sitten (1797), sowie Der Streit der Fakultäten (1798). 4 Berühmt ist die Feststellung Hannah Arendts, dass Kant – anders als bspw. Hobbes, Locke und Rousseau – unmittelbar keine politische Philosophie verfasst habe.
- Der zweite Grund hängt mit der Entstehungszeit der Schriften zusammen. Die angeblich nachlassende Geisteskraft Kants am Ende seines Lebens wurde zum Anlass genommen, die späten Texte wie Die Metaphysik der Sitten und die darin enthaltene Rechtslehre zu diskreditieren. Bekannt ist etwa Arthur Schopenhauers Verdikt, dass Die Metaphysik der Sitten eine »sonderbare Verflechtung einander herbeiziehender Irrtümer« sei, die sich nur aus dem senilen Geist ihres Verfassers erklären lassen. 5 Schopenhauer, A., 1986. Die Welt als Wille und Vorstellung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 459f.
- Der dritte Grund betrifft die Qualität der Schriften. Vielfach wurde argumentiert, dass sie, insbesondere die kleineren, von minderer Qualität seien und zudem einen exoterischen Charakter hätten. Damit würden sie nicht den gleichen Rang der zentralen Werke zur Erkenntnis- und Moralphilosophie einnehmen. Aus diesem Grund seien sie zu vernachlässigen. Es setzte sich das philosophiehistorische Vorurteil durch, dass »Kant, der Begründer des deutschen Idealismus, […] politisch nicht bedeutend« sei. 6 Russel, B., 1954. Philosophie des Abendlandes. Im Zusammenhang mit der politischen und sozialen Entwicklung. Darmstadt: Holle Verlag, S. 582.
Die genannten Gründe führten dazu, dass Kants politische Schriften über einen langen Zeitraum vernachlässigt oder seine politische Philosophie gar mit angewandter Ethik gleichgesetzt wurde. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die ethischen Schriften Kants eine terminologische Nähe zum Politischen aufweisen, erscheint es naheliegend, diese für den Bereich des Politischen fruchtbar zu machen. Es trifft zu, dass Kant keine Kritik der politischen Vernunft verfasst hat, aber in seinen Schriften entfaltet sich eine Systematik, die es erlaubt, von einer zusammengehörigen Theorie zu sprechen, die sich zwar werkgeschichtlich nur Stück für Stück entwickelt hat, aber durchaus systematisch rekonstruierbar ist.
Kants politische Philosophie in (unzureichenden) Grundlinien
In der Schrift Zum ewigen Frieden entwickelt Kant eine Definition von Politik, die er als »ausübende Rechtslehre« bezeichnet. 7 VII.370. In diesem Beitrag werden die Texte Kants nach der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften im Jahre 1902 initiierten Edition von Kants gesammelten Schriften zitiert. Die friedensstiftende Funktion von Staat und Recht, die nach den Prinzipien der Vernunft eingerichtet sind und sich ihr durch Reformen annähern, ist ein grundlegendes Motiv seiner politischen Philosophie. 8 Hier kann nicht der Platz sein die gesamte politische Philosophie zu rekonstruieren. Als erhellende Einführungen seien empfohlen: Höffe, O., 2012. Kants Kritik der praktischen Vernunft: Eine Philosophie der Freiheit, München: C.H. Beck, Horn, C., 2014. Nichtideale Normativität: Ein neuer Blick auf Kants politische Philosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, Flikschuh, K., 2000. Kant and Modern Political Philosophy. Cambridge: Cambridge University Press und immer noch sehr lesenswert Kesting, W., 1984. Wohlgeordnete Freiheit: Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie. Berlin: De Gruyter. Dabei finden sich bei Kant sowohl Argumentationen und Denkfiguren, die man der liberalen Tradition zuordnen könnte, als auch ältere republikanische Elemente. Zentraler Ausgangspunkt der Rechtslehre ist die Freiheit. In der Einleitung seiner Metaphysik der Sitten heißt es konkret: »Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.« 9 VI.237-238 Anders als die Menschenrechtskataloge der Virginia Bill of Rights oder der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen kennt Kant nur ein Recht.
Zudem entwickelt Kant eine Legitimitätstheorie des Staates. Wie andere politische Philosophen der Aufklärung bewegt er sich dabei in der argumentativen Grammatik des Kontraktualismus und bedient sich auch der gängigen Terminologie des Naturzustandes. Dennoch unterscheidet ihn ein grundlegender Punkt von den konventionellen Theorien eines Thomas Hobbes oder John Lockes. Ihm geht es schließlich um die ‚metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre‘, also um eine vernunftrechtliche Argumentation, die der utilitären Beweisführung der kontraktualistischen Theorie nur oberflächlich ähnelt. Insbesondere setzt er sich von dem über die jeweils individuellen Nutzenkalküle rekonstruierten Übergang vom Naturzustand zum status civilis ab, der den Vertragsschluss motivational tragen soll.
In seinem komplizierten Eigentumsargument in der Rechtslehre rekonstruiert Kant den Übergang vom Naturzustand zum status civilis als vernunftrechtliche Notwendigkeit. Er stellt das Postulat des öffentlichen Rechts auf: »[D]u sollst, im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins, mit allen anderen, aus jenem heraus, in einen rechtlichen Zustand, d.i. den einer austeilenden Gerechtigkeit, übergehen«. 10 VI.307 Dazu führt er eine lex permissiva, ein Erlaubnisgesetz der Vernunft, ein, dass es ermöglicht, andere auch mit Gewalt in den bürgerlichen Zustand zu zwingen. Für Kant ist der Eintritt in den bürgerlichen Zustand eine Rechtspflicht, die uns die Vernunft auferlegt. Das Privatrecht gilt immer nur provisorisch, bis es durch das öffentliche Recht, d.h. im Staatszustand peremtorisch auf Dauer gestellt wird. Dabei wird die Fähigkeit Eigentum zu erwerben als paradigmatischer Fall äußere Freiheit auszuüben ausbuchstabiert. Kant definiert dafür den Staat als »Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen« 11 VI.313 und damit als Rechtstaat.
Dieser Staat ist in erster Linie ein öffentlich-rechtliches Gemeinwesen, das sich aus einer politisch-moralischen Mitgliedschaft der einzelnen Rechtsubjekte zu dieser Gemeinschaft speist, die unter einem vereinigten gesetzgebenden Willen vereinigt sind. Für diese Staatskonzeption ist nicht nur die Gewaltenteilung ein zentraler Baustein, sondern auch die Festlegung von Staatsbürgerrechten, welche gesetzliche Freiheit, bürgerliche Freiheit und Selbständigkeit zum Inhalt haben. 12 VIII. 290 Kant führt aus, dass die »gesetzgebende Gewalt […] nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen« könne. 13 IV.432 Trotz der weitreichenden demokratietheoretischen Implikationen dieses Zitats verneint Kant, dass es ein Recht auf Widerstand gegen den Staat geben könne. Die Staatsbürger schulden dem Souverän absoluten Gehorsam. Es gibt kein Zwangsrecht, welches der Bürger gegenüber dem Souverän geltend machen könnte. Wäre dies der Fall, so würde derjenige, der den Zwang ausübt, das Prinzip des öffentlichen Rechts auflösen und damit den Rückfall in den Naturzustand riskieren. Für Kant gilt das Diktum aus seiner kleinen Aufklärungsschrift: »räsoniert, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht!« 14 VIII. 41 Hier blitzt auf, dass Kant auf die aufgeklärte und sich aufklärende Öffentlichkeit vertraut, nicht auf eine Revolution. Durch den öffentlichen Gebrauch der Vernunft sollen die Bürger den langen Weg der Reform beschreiten, um sich allmählich dem Ideal der Republik anzunähern. 15 Allgemein besteht in den verschiedenen Bereichen Kants politischer Philosophie keineswegs ein interpretatorischer Konsens. Sie sind nach wie vor Gegenstand zahlreicher exegetischer Kontroversen. Dabei geht es nicht nur um Details, sondern um die Grundzüge seiner Philosophie. Erinnert sei hier an das kontrovers diskutierte Verhältnis von Moral und Recht bei Kant (Siehe zum aktuellen Stand der Debatte Dörflinger, B., D. Hüning und G. Kruc 2017. Das Verhältnis von Recht und Ethik in Kants praktischer Philosophie. Hildesheim: OLMS.), an den Status des angeborenen Rechts auf Freiheit als Menschenrecht (Siehe zum aktuellen Stand der Debatte Mosayebi, R., 2018 Kant und Menschenrechte. Berlin: De Gruyter.) oder an die Frage nach Demokratie bei Kant. (Für eine tiefgreifende Analyse der Frage nach Volkssouveränität bei Kant, siehe Welsch, M. 2021. Anfangsgründe der Volkssouveränität. Frankfurt a.M.: Klostermann.) Die Vielfalt und Breite der politischen Philosophie Kants lässt sich kaum angemessen erfassen. Es ist daher erstaunlich, dass manche Interpreten diesen Reichtum völlig ignorieren, eine Hermeneutik des Verdachts betreiben oder ein Abziehbild zeichnen. So zerren die Akteure und Kräfte der Zeit an Kant. Dabei erfährt man meist mehr über die Interpreten und ihre ideologischen Interessen als über Kant selbst. Dieser zeigt sich vielmehr als der Anlass für einen weiteren »Kampfplatz endloser Streitigkeiten.« (Berthold, J., 2011. Kampfplatz endloser Streitigkeiten: Studien zur Geschichtlichkeit der Philosophie. Basel: Schwabe Verlag.)
Die Geister von 1914 und 1933
Vor allem in der angelsächsischen Rezeption erweist sich Kant teilweise als unheilvoller archimedischer Punkt, der für die »deutsche Mentalität« in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verantwortlich gemacht wird. Seine Werke und Ideen, insbesondere der Kategorische Imperativ und seine Vorstellungen von Pflicht und Moral, wurden oft als philosophische Grundlagen des deutschen Idealismus und schließlich des autoritären und totalitären Geistes des 20. Jahrhunderts interpretiert. 16 Aufgrund der Beschränkung auf die Rezeption liberaler Philosophen, fällt die sozialistische Bezugnahme leider weg. Insbesondere im Neukantianismus erscheint Kant als Vordenker eines ‚ethischen Sozialismus‘. Für einen exzellenten zusammenfassenden Überblick über die politische Philosophie des Neu-Kantianismus der Marburg Schule, siehe Widmer E. T. 2024. Left-Kantianism in the Marburg School. Berlin: De Gruyter. In seinem 1915 erschienenen und 1942 erweiterten Werk Deutsche Philosophie und Deutsche Politik 17 Dewey, J. 2000. Deutsche Philosophie und deutsche Politik. Berlin: Philo. postuliert John Dewey einen signifikanten Zusammenhang zwischen der deutschen Philosophie und der deutschen Mentalität in Staat und Gesellschaft. Sowohl die Kriegsbegeisterung am Anfang des Ersten Weltkrieges als auch der Nationalsozialismus lassen sich teilweise auf zentrale geistesgeschichtliche Weichenstellungen im deutschen Idealismus und insbesondere auf Kant zurückführen, behauptet er. 18 Er argumentiert gegen die Tendenz seiner Zeitgenossen, die Romantik oder gar einen nietzscheanischen Irrationalismus für das deutsche Geistesleben bis hin zum Nationalsozialismus verantwortlich zu machen. Stattdessen identifiziert Dewey bereits in der aufklärerischen Linie der deutschen Philosophie den Kern für die deutsche Geisteshaltung.
Philosophische Ideen, so die methodologische Hauptthese, können in Wechselwirkung mit praktisch-sozialen Problemen eine »üble Wirkung« entfalten. Das Fallbeispiel, das Dewey vorgibt, ist Deutschland, an dem sich diese Verflechtung studieren lässt. 19 ebd., S. 82. In Kants sogenannter Zwei-Welten-Lehre erkennt Dewey einen fatalen Zusammenhang. 20 Ähnlich auch Richard Rorty, in ders. 1987. Der Spiegel der Natur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. Obgleich die beiden Welten getrennt sind, soll dem Inneren eine höhere Priorität zukommen. Damit hat Kant als deutscher Philosoph par excellence »die Richtung, in die der deutsche Genius sich bewegte, entdeckt und genau bestimmt, sodass seine Philosophie von einer ungeheuren prophetischen Bedeutung ist.« Die Trennung der beiden Welten hatte dabei eine zentrale Wirkung für das Freiheitsverständnis. »Wahre Freiheit«, so suggeriert Dewey, kann für Kant aufgrund der Trennung der beiden Welten nur »innere Freiheit, Freiheit des Gedankens« sein. 21 ebd., S. 100. Äußere Freiheit hingegen ist nicht vorgesehen: »Seine alleinige Pflicht [des Bürgers A.S.] im Bereich des Handelns besteht darin zu gehorchen.« 22 ebd., S. 100-101.
Die paradigmatische Unterscheidung der zwei Welten setzt sich in Kants Ethik fort und züchtete in ihr den formalistischen Kategorischen Imperativ hervor, der auf einem leeren Pflichtgefühl basiere. Dieser rufe »das Bild des Kasernenhof-Korporals« hervor. 23 ebd., 112. Dewey kommt auf die Frage der Moralität bei Kant in On Understanding the Mind of Germany zurück, indem er den Kern der kantischen Moralphilosophie zu fassen versucht: »Kant thought of duty as a command; as, in his own words, an imperative. The essence of morality is obedience.« 24 Dewey, J. 1916. On Understanding the Mind of Germany in: The Atlantic Monthly, Feb. Issue. https://www.theatlantic.com/magazine/archive/1916/02/on-understanding-the-mind-of-germany/645860/ Dem stellt er die angelsächsische »Kaufmannsethik« gegenüber, die »zu einem gewissen Grad von sozialer Verantwortlichkeit« geprägt sei. In der Sphäre der Politik korrespondiert dieser Freiheitsbegriff- und Moralbegriff mit »Gehorsam in der Unterordnung«. 25 Dewey, J. 2000. Deutsche Philosophie und deutsche Politik. Berlin: Philo, S. 113. Deweys Auffassung zufolge erwächst aus der abstrakten Pflicht zum moralischen Gesetz, die Ergebenheit gegen jedes Gesetz. England und Frankreich hätten sich dagegen von der mittelalterlichen Idee der Gehorsamkeit emanzipiert. In Deutschland hingegen gelang das nicht. An einer Stelle zitiert Dewey Kant mit den Worten: »das nationale Volk ist der Weg des göttlichen Lebens, wie es sich in einzelne menschliche endliche Wesen ergießt.« 28 ebd., S. 140. Problematisch an diesem Zitat ist, dass es nicht existiert. Es impliziert eine national geprägte Terminologie und Gedankenwelt, die in Kants Schriften nicht nachweisbar ist.
Vorzuwerfen ist Dewey neben diesen handwerklichen Fehlern, dass er mit seiner Darstellung nicht annähernd eruiert, inwieweit die deutsche Philosophie die deutsche Politik wirklich beeinflusst hat. Bis auf die Behauptung, dass dies der Fall sei, ist er eine Erklärung für seine These schuldig geblieben. Darüber hinaus ist das Bild, dass Dewey von Kant zeichnet, hauptsächlich von dessen Zwei-Welten-Lehre geprägt. Seine politische Philosophie wird nur am Rande thematisiert. Zwar erwähnt Dewey die kosmopolitische Stoßrichtung Kants Friedensschrift mit seiner Idee einer Föderation freier Republiken und auch Kants moralphilosophisches Vorhaben eine Konzeption vernünftiger Freiheit zu entwerfen, aber seine systematischen Ideen bleiben völlig unbeachtet. Deweys Kritik an Kant geht deshalb an der Sache vorbei und die genealogische Linie von Kant über Fichte zu Hegel zum Militarismus von 1914 bis zum völkischen Nationalsozialismus von 1933 bleibt unplausibel.
Zwischen den Fronten des Kalten Krieges
Bereits während des Zweiten Weltkrieges begann die Suche nach den ›Feinden der Freiheit‹. Wer waren die geistigen Brandstifter, die für die Katastrophe verantwortlich waren? Fragen wie diese standen im Mittelpunkt vieler Debatten der sogenannten Cold War Liberals. 29 Für eine ausgezeichneten ideengeschichtlichen Studie zu den theoriepolitischen Interventionen der ‚Cold War Liberals‘ und ihre Konzeption einen Anti-Kanons der Unfreiheit, siehe Moyn, S. 2023, Liberalism against Itself. Cold War Intellectuals and the Making of Our Times. Yale: Yale University Press. Auch hier erweist sich die Kant-Rezeption als ambivalent. Während einige kalte Krieger in Kant das Bollwerk gegen jeden Totalitarismus erblickten, haben andere seinen Freiheitsbegriff in die Nähe des Totalitarismus gerückt. Karl Popper widmet die deutsche Ausgabe von Die offene Gesellschaft und ihre Feinde »dem Philosophen der Freiheit und Menschlichkeit Immanuel Kant.« 30 Popper, K., 1975. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Stuttgart: UTB, S. 4. Bedeutsam war insbesondere die theoriepolitische Intervention Isaiah Berlins. 31 Siehe auch Berlin, I. 2014: Freedom and Its Betrayal: Six Enemies of Human Liberty. Princeton: Princeton University Press. In dem einflussreichen Aufsatz, Zwei Freiheitsbegriffe, 32 Berlin, I. 1993: Zwei Freiheitsbegriffe in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 41, Nr. 4, S. 763. unternimmt Berlin eine ideenhistorische Rasterfahndung nach den geistigen Wegbereitern der totalitären Ideologien.
Berlins Untersuchung beginnt mit der einflussreichen Unterscheidung von negativer und positiver Freiheit. Der negative Freiheitsbegriff bedeutet »nicht von anderen eingeschränkt zu werden« und »je weiter der Spielraum ohne […] Eingriffe, desto weiter meine Freiheit.« 33 ebd., S. 744. Berlin sieht die negative Idee als Antwort auf die Frage: »Wie weit reicht die Privatsphäre – von Menschen oder Gruppen in die niemand eingreifen darf?« Das klassische Hindernis für die negative Freiheit ist daher der Zwang, er »setzt bewußte Eingriffe anderer in meinen üblichen Handlungsspielraum voraus«. 34 ebd.[/] Für Liberale, so Berlin, sei die negative Freiheit der charakteristischste Wert. Von diesem differenziert Berlin die positive Idee der Freiheit. Es ist die Vorstellung von Freiheit als Selbstbeherrschung. Sie entspringt »dem Wunsch des einzelnen sein eigener Herr zu sein«. [tooltip title=35]ebd., S. 749. Negative Freiheit, so könnte man zusammenfassen, schränkt Autorität ein, während positive Freiheit den Ort der Autorität bezeichnet. Berlin räumt ein, dass der positive und negative Freiheitsbegriff prima facie nur eine »geringe logische Differenz trennt«. 36 ebd., S. 750. Jedoch haben sich positive und negative Freiheit historisch so weit auseinander entwickelt, dass sie am Ende in offenen Konflikt miteinander gerieten. Der »Wunsch nach Selbstbestimmung« kann somit nicht als identisch mit dem »Streben nach einem Handlungsspielraum« betrachtet werden, auch wenn beide Phänomene in ihrer historischen Entwicklung parallel verlaufen sind. 37 ebd., S. 749.
Berlin entwirft hier ein Entwicklungsmuster, das nicht durch logische Notwendigkeit, sondern durch historische oder psychologische Assoziationen zustande kommt. Ihm zufolge liegt dem positiven Freiheitsbegriff eine inhärente Tendenz zu Grunde in ihr Gegenteil, nämlich in Zwang, verdreht zu werden. Idealiter ist eine Person frei, wenn sie Kontrolle über ihr eigenes Leben ausübt. Allerdings ist kontrovers, was genau unter Kontrolle zu verstehen sei. Berlin vertritt die These, dass diese Frage in der Regel mit dem Hinweis auf das authentische Selbst beantwortet wird. Eine Person ist nur dann ganz bei sich bzw. sie selbst, wenn sie qua Vernunft ihre Triebe kontrolliert und sich von der Knechtschaft der Begierden und Leidenschaften befreit. Da jedoch eine Realisierung des wahren Ichs durch die Betroffenen nicht immer möglich ist, braucht es eine externe Autorität, welche die Menschen bei der Verwirklichung ihres wahren Ichs anleitet. Darin liegt nach Berlin die gefährliche totalitäre Tendenz des positiven Freiheitsbegriffs. Denn diese Autorität drückt sich realgeschichtlich im Staat, der Partei, einem Führer oder auch der Kirche aus, die den Anspruch erheben besser als der/die Einzelne zu wissen, was sie eigentlich wollen. Daraus folgt die Notwendigkeit dieses wahre Selbst auch mit Zwang durchzusetzen, wodurch Freiheit in Zwang pervertiert wird. Diesen Verrat am Freiheitsbegriff klagt Berlin an und sieht dieses Begründungsmuster in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts am Werke, die euphemistisch proklamierten, die Menschen zu befreien. Die negative Freiheit hingegen ist für diesen Verrat nicht so anfällig, weil ihr begriffslogischer Kern nicht auf derselben Art und Weise zwischen den Wünschen und den wahren Wünschen des Einzelnen trennt. Der oder die Einzelne bleibt die legitimatorische Letztinstanz, wenn es um ihn selbst geht. Als engagierter kalter Krieger im ideologischen Konflikt, bezieht Berlin hier klare Position. Für ihn stellt der negative Freiheitsbegriff einen Schutzschild gegen totalitäre Vereinnahmung dar.
In welcher Weise wird nun Kant in das Schema von Freunden und Feinden der Freiheit eingeordnet? Während Berlin dem »klassischen politischen Philosophen Englands« attestiert, dem negativen Freiheitsbegriff anzuhängen, ergibt sich für Kant ein ambivalentes Bild. 38 ebd., S. 744. Einerseits wird er von Berlin in einer langen Fußnote gelobt, da er dem negativen Freiheitsideal sehr nahekam. Zur Untermauerung dieser These zitiert er eine Stelle aus Kants Aufsatz Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht 39 VIII.22 :
Das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft. Da nur in der Gesellschaft und zwar derjenigen, die die größte Freiheit, mithin einen durchgängigen Antagonism ihrer Glieder doch die genauste Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit hat, damit sie mit der Freiheit anderer bestehen könnte, – da nur in ihr die höchste Absicht der Natur, nämlich die Entwicklung aller ihrer Anlagen, in der Menschheit erreicht werden kann, die Natur auch will, daß sie diesen so wie alle Zwecke ihrer Bestimmung sich selbst verschaffen soll […].
Berlin notiert zu dieser Passage, dass Kant hier »auf den ersten Blick kaum vom orthodoxen Liberalismus abweicht«, trotz der »teleologischen Implikationen«, die diese Passage impliziert. 40 ebd., S. 764. Die spezifische Differenz erblickt Berlin jedoch in der der Suche nach einem Kriterium zur »genausten Bestimmung und Sicherung der Grenzen« der Freiheit. Da für Kant nicht alle Motive und Wünsche gleichwertig sind und die Freiheitsgesetze aus der praktischen Vernunft folgen, müssten irrationale Wünsche im Namen der Vernunft unterdrückt werden, um die Vernunftansprüche, die einen universellen Standpunkt zur Welt formulieren, zu verteidigen. Obgleich Berlin eine Nähe des Freiheitsbegriffs zu Kants Konzept der negativen Freiheit konstatiert, verweist er zugleich auf eine Nähe zum positiven Begriff. Wenn man nämlich wie Kant »Freiheit als rationale Selbstbestimmung« versteht, so meint Berlin, muss man die eigenen individuellen Rahmen verlassen und sich der politisch-gesellschaftlichen Sphäre zuwenden. So musste sich auch Kant fragen wie sich »das öffentliche Leben vernünftig einrichten lasse.« 41 ebd., S. 758. Für Berlin liegt Kants Innovation darin zu zeigen, dass »Freiheit keineswegs unvereinbar mit Autorität [ist]«, sondern mit ihr übereinstimme. »Wahre Freiheit«, so Berlin, liegt für Kant darin, die »wilde, anarchische Freiheit« zu opfern, um sie dann »in der Abhängigkeit vom Gesetz ungeschmälert wiederzufinden«, da sich diese Abhängigkeit aus dem freien Willen des Einzelnen als Gesetzgeber speist. 42 ebd., S. 760. Diese Verknüpfung von Freiheit und Abhängigkeit sieht Berlin als prägend an für jene, welche die Gesellschaft nach »rationalen Gesetzen« gestalten wollen, die von einem »Plan eines weisen Gesetzgebers, der Natur, der Geschichte oder des Höchsten Wesen« ausgehen.
Ähnlich wie Dewey erblickt auch Berlin in Kants Verschränkung von Freiheit und Pflicht die Gefahr der Pervertierung der Freiheit in Gehorsam. Zustimmend beruft sich Berlin auf den britischen Philosophen Jeremy Bentham, um zu unterstreichen, dass »Gesetze nicht befreien, sondern einschränken.« 43 ebd., S. 763. Aber wenn Kant behauptet, wie Berlin schreibt, das kein Gesetz einschränke, dem man selbst zugestimmt hat, würde dies die Tür für Expertenregime öffnen. Regierende müssen annehmen, dass ihre erlassenen Gesetze rational seien, wenn sie sich bei der Erstellung auf ihre Vernunft verlassen, da ihnen potenziell jeder zustimmen könnte. Wenn das Volk das Gesetz ablehnen würde, dann müsste es »pro tanto irrational sein und um der Vernunft willen unterdrückt werden«. Das Bild, das Berlin von Kant zeichnet, oszilliert also zwischen dem Bollwerk der Aufklärung einerseits und dem Wegbereiter, der die antiliberalen Elemente eines pervertierten Freiheitsbegriffs einbringt, andererseits. Obgleich Berlin sich nicht auf die gleichen Kontinuitätsbehauptungen einlässt wie Dewey, rückt er Kant damit unmittelbar in die Nähe von radikalen politischen Philosophen wie den Jakobinern und Kommunisten.
Kant kommt nicht aus Harvard
Die Rehabilitierung und Assimilierung Kants als liberaler politischer Denker erfolgte im angelsächsischen Raum maßgeblich durch John Rawls. Dieser fühlt sich in seiner epochalen Schrift Eine Theorie der Gerechtigkeit ausdrücklich einem Kantischen Kontraktualismus verpflichtet. 44
Rawls, J., 1979. Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.
Im Rahmen von seiner Schrift finden sich zahlreiche Bezugnahmen auf Kant, sowohl auf inhaltlicher wie auch auf rechtfertigungstheoretischer Ebene. In seiner Argumentation macht Rawls deutlich, dass die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze als eine modifizierte Form des Instrumentalisierungsverbots der Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs zu interpretieren sind. 45
ebd., vgl. S. 205
Des Weiteren lassen sich kantische Denkfiguren in der Konstruktion des Gedankenexperiments des Urzustandes ausmachen. Dieser lässt sich als eine verfahrensmäßige Deutung von Kants Begriff der Autonomie und des Kategorischen Imperativs verstehen. 46
ebd., S. 226
In Anbetracht der umfassenden Bezugnahme auf Kant weist Rawls demütig darauf hin, dass er für die Konstruktion seiner Theorie »keinerlei Originalität beanspruchen« kann. 47
ebd., S. 12
So ergibt sich in Eine Theorie der Gerechtigkeit eine produktive Vermischung aus Kant- Interpretation, -Approbation und -Weiterführung, wobei diese Elemente analytisch nicht immer trennscharf voneinander abgegrenzt werden. In seiner Theorie legt Rawls den Fokus auf den von ihm identifizierten kantischen Kern 48
ebd., S 284.
:
Mir scheint nach Kant handelt jemand autonom, wenn er die Grundsätze seiner Handlung als bestmöglichen Ausdruck seiner Natur als eines freien und gleichen Vernunftwesens gewählt hat, nicht wegen seiner gesellschaftlichen Stellung oder seinen natürlichen Gaben oder wegen der Eigenart seiner Gesellschaft oder wegen seiner zufälligen Wünsche. Nach solchen Grundsätzen handeln, hieße heteronom handeln.
Im Urzustand verhindert der ‚Schleier des Nichtwissens‘, dass die Menschen ihre Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze von ihren je partikularen Interessen abhängig machen und sich demnach in der kantischen Diktion nach Rawls heteronom entscheiden: »Die Vertragstheorie als solche legt einen Sinn fest, indem die Menschen als Zwecke nicht bloß als Mittel zu behandeln sind.« 49 ebd., S. 205-206. Die inhaltlichen Bezugnahmen Rawls‘ beschränken sich exklusiv auf die moralphilosophischen Schriften Kants aus den 1780er Jahren, insbesondere auf die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Obwohl Rawls selbst darauf hinweist, dass eine Verfälschung seiner praktischen Philosophie droht, wenn die religions-, geschichts- und staatsphilosophischen Schriften nicht berücksichtigt werden, spielen diese für die Architektur und Entwicklung seiner Theorie eine untergeordnete Rolle. 50 ebd., vgl. S. 283. Bloß in Fußnoten tauchen Kants politischen Schriften auf. Sie zeigen an, dass Rawls rudimentär mit den politischen Schriften Kants vertraut war. Sie werden aber nicht Gegenstand der Analyse oder ausführlicher von seinen moralphilosophischen Schriften getrennt. Auch in den Vorlesungen zur politischen Philosophie, die Rawls seit Mitte der 1960er Jahre bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1995 gehalten hat, taucht Kant, anders als bspw. Hobbes, Rousseau und Locke, bezeichnenderweise nicht auf. 51 Rawls, J., 2008. Geschichte der politischen Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Im Gegensatz zu seinen Vorlesungen über Moralphilosophie, in denen Kant einen signifikanten Teil der Lektüre einnimmt. 52 Rawls, J. 2004. Geschichte der Moralphilosophie. Hume, Leibniz, Kant, Hegel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Die Frage, ob Rawls Theorie kantisch sei oder nicht, hat in der Sekundärliteratur eine produktive Diskussion ausgelöst, die vermehrt auch zu einer erweiterten Erschließung der politiktheoretischen Texte Kants geführt hat. Bereits kurz nach der Veröffentlichung von Eine Theorie der Gerechtigkeit wurde auf das kantische Erbe aufmerksam gemacht. Eine frühe und besonders pointierte Kritik an Rawls Bezugnahme auf Kant stammt aus der Feder des Kant-Experten Otfried Höffe. Er benennt die Inkonsistenzen, die sich aus Rawls Selbstpositionierung als Kantianer und der konkreten Theorie Kants ergeben. 53 Höffe, O. 1984. Ist Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit eine kantische Theorie? in: Ratio, Jg. 26, S. 88–104. Hervorzuheben ist hier insbesondere, dass das Entscheidungskriterium der rationalen Wahl im Urzustand, welches zur Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze führen soll, nicht die Prozedur des Kategorischen Imperativs widerspiegelt, auch wenn Rawls dies wiederholt suggeriert. Die Wahl im Urzustand hinter dem Schleier des Nichtwissens ist eine Klugheitswahl, keine Gesetzgebung der autonomen Vernunft. Im Urzustand zielt die Wahl darauf, den persönlichen Nutzen unter Unsicherheit zu maximieren. Dies führt zu einer fundamentalen Divergenz zwischen der Behauptung, kantisch zu sein, und den eigentlichen Ideen Kants. Aus diesem Grund, müsste »[r]ein entscheidungstheoretisch gesehen, […] Rawls seinem Hauptgegner Recht geben und den Utilitarismus anerkennen.« 54 Höffe, O., 2006. Einführung in Rawls‘ Theorie der Gerechtigkeit, S. 3-26, in O. Höffe(Hrsg.), Eine Theorie der Gerechtigkeit. Berlin: Akademie Verlag, S. 23. Im Laufe seines philosophischen Werkes verschiebt sich bei Rawls der Bezug auf Kant. Während er in Eine Theorie der Gerechtigkeit noch davon spricht Anhänger des Vertragsparadigma zu sein, redet er in den 1980er Jahren schließlich explizit von einem Kantian Constructivism 55 Rawls, J., 1980 Kantian Constructivism in Moral Theory in: The Journal of Philosophy Jg. 77, Nr. 9, S. 515-572. der seine Theorie charakterisiert, nur um dann in den 1990er Jahren wieder auf Abstand zu Kant zu gehen. In Political Liberalism 56 Rawls, J., 1993. Political Liberalism. Columbia: Columbia University Press. wendet er sich explizit gegen den älteren, wertgebundenen, metaphysischen Liberalismus Kants, der mit einer starken Vorstellung des Guten Lebens operiert und damit für die pluralen Bedingungen der modernen Gesellschaft ungeeignet sei. Kants metaphysische Grundierung von politischer Normativität erweist sich unter dem »Faktum des Pluralismus« als unzureichend, um den Legitimitätsdruck, der von ihr ausgeht, befriedigend zu stillen. Stattdessen sollte sich der Liberalismus gegenüber den Lebensentwürfen neutral verhalten. Damit legt Rawls in einer Absatzbewegung von Kant dem Liberalismus eine Selbstbeschränkung auf. Er soll sich nur noch an den politischen Vorstellungen und Werten, die in der öffentlichen Kultur einer demokratischen modernen Gesellschaft als »vernünftig« gelten, orientieren und diese in Form einer historischen Hermeneutik transparent machen.
Warum Kants politische Philosophie (heute) lesen?
Der stichprobenartige Durchgang durch die Rezeptionsgeschichte Kants im 20. Jahrhundert zeigt, dass die Bezugnahme auf ihn schwankend und wechselhaft war. Mal erscheint er als liberaler Vordenker dann wieder gar als Präfaschist. Dies lässt sich teilweise auf die flüchtige und teilweise lückenhafte Lektüre zurückführen. Teilweise werden Kant bestimmte Inhalte und Kontinuitäten einfach unterstellt, auch wenn dies die Textgrundlage gar nicht hergibt. Diesbezüglich ist zu kritisieren, dass Kants politische Schriften lange ein Schattendasein gefristet haben.
Die drei Stationen verdeutlichen zudem die Selektivität der philosophischen Aneignung und der theoriepolitischen Interventionen, die darauf abzielen ein Abziehbild – im positiven wie im negativen – Kants zu konstruieren und für das eigene Anliegen nutzbar zu machen. Solche Formen sind philosophiehistorisch keine Besonderheit. Man vergegenwärtigt sich das Schicksal, das Platon und Hegel ereilt hat. Während Dewey versucht, genealogisch Kant an den Anfang einer unheilvollen Entwicklung der deutschen Mentalität zu stellen, die letztlich in 1914 und 1933 kulminiert, hat Berlin trotz des expliziten Lobs Kants, die inhärenten Probleme des Kantischen Freiheitsbegriffs hervorgehoben, der ihn zum Teil in die Nähe von Totalitarismus rückt. Die Strahlkraft dieser Interpretationen darf nicht unterschätzt werden. Beide Philosophen haben Kant unrechtmäßigerweise mit grobschlächtigen Vorwürfen konfrontiert, die sich bei genauerem Hinsehen nicht erhärteten. Was übrig bleibt ist eine oberflächliche Pauschalkritik, die die Rezeption erschwert und Kant in den Giftschrank gestellt hat. John Rawls schließlich hat versucht, sich affirmativ in die Tradition Kants zu stellen, dabei aber Kants politisches Denken vernachlässigt und sich in seinen späteren Schriften weiter von Kant abgewendet.
Es gib wohl keinen Philosoph, der so oft überwunden und wiederbelebt wurde wie Kant. Übergeht man seine Theorie oder liest sie mit bereits vorgeprägten Ansichten und Interpretationsschablonen, dann findet man in Kant nicht nur das was man sucht, sondern man fällt auch leicht hinter ihn zurück. Ernst Bloch bemerkte 1954 einmal: »Es ist Zeit, Kant, ohne seine Fälscher zu werten.« 57 Bloch, E., 1954. Zweierlei Kant-Gedenkjahre in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 2,Nr. 1, S. 8. Das bedeutet, selbst zu lesen, seine Argumente in ihrem Entstehungskontext zu verstehen, zu prüfen und von ihm zu lernen. Gelingt dies, erweist sich die Lektüre der politischen Schriften Kants als ein großer Gewinn, die nicht nur das eigene Denken schult, sondern auch eine Perspektive eröffnet, die vom zeitgenössischen Liberalismus vernachlässigt wird.