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Liberalismus ohne Fortschritt

Der Cold War Liberalismus hat sein progressives Erbe ausgeschlagen und den Glauben an die menschliche Vernunft und den Fortschritt anderen überlassen. Samuel Moyn hält diese Entwicklung für umkehrbar – dabei wusste schon Marx, dass der Abschied des Bürgertums von der Aufklärung eine notwendige Folge des entwickelten Kapitalismus ist.

Die populistischen Erfolge der letzten Jahrzehnte haben den Liberalismus hinreichend verunsichert, um sich selbst zu hinterfragen. Der Ideenhistoriker Samuel Moyn vertritt die These, dass der Liberalismus in der Form gescheitert ist, die er im Zuge des Kalten Kriegs angenommen hat: Dieser »Cold War Liberalism« war infolge der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus – einem sich durch historischen Fortschritt legitimierenden Rivalen – desillusioniert. Er gab den aufklärerischen Glauben an Fortschritt, Emanzipation und Perfektibilität auf und verlor dadurch seinen Optimismus und Gestaltungsdrang. Für den Liberalismus wichtige Denker wie Rousseau und Hegel wurden nunmehr Teil eines »Antikanons« und als Vorläufer des Totalitarismus verleumdet. Stattdessen wurden konservativere Denker wie Lord Acton ausgegraben und zu liberalen Helden erklärt. Die deutlichste Ausprägung findet dieser konservativ-pessimistische Liberalismus heute wahrscheinlich in dem Philosophen John Gray. 1 John Gray, The New Leviathans: Thoughts after Liberalism (London: Allen Lane, 2023).

In seinem Buch führt Moyn diese plausible Grundthese nicht en détail mit Belegen aus, sondern portraitiert einige Denker dieser Richtung, wobei er sich auf die interessanteren Komplexitäten, Idiosynkrasien, Abweichungen und Widersprüche stürzt. So zählt er beispielsweise Hannah Arendt in die Strömung des Liberalismus und versteht ihr Werk aus dem Kalten Krieg heraus. Arendt steht bei Moyn mit ihrer Skepsis gegenüber revolutionären antikolonialen Bewegungen im globalen Süden exemplarisch für den impliziten Rassismus vieler Kalter Krieger. 2 Samuel Moyn, Liberalism against Itself: Cold War Political Thought and the Making of Our Times (New Haven and London: Yale University Press, 2023), 131–32.  Die antikolonialen Unabhängigkeitsbewegungen sind für Moyn Errungenschaften des Liberalismus, welche von liberalen Denkern im Kalten Krieg aber nicht hinreichend gewürdigt wurden.

Maurice Weller

Maurice Weller studiert Philosophie und Medienwissenschaft in Basel. Er ist auf Twitter/»X« unter @Weller_Maurice zu finden.

Utopische Selbstentschärfung 

Am bedeutsamsten unter den von Moyn behandelten Figuren ist Judith Shklar: Sie diagnostizierte in ihrem Frühwerk »After Utopia« viele der fragwürdigen Tendenzen des »Cold War Liberalism« als Ausdruck eines konservativen Liberalismus. Trotz ihrer anfänglichen Kritik, schloss sie sich später dieser Richtung selbst an. Vorher beschrieb sie sämtliche zeitgenössischen politischen Theorien als eine Variation von dem, was Hegel das »unglückliche Bewusstsein« genannt hat: Ein Bewusstsein, dass sich in der Welt nicht mehr wiedererkennt, und keine Perspektive mehr hat sich in ihr zu beheimaten oder sie zum Guten zu verändern. So kann es auch keine Utopie oder Perspektive auf die vernünftige Gestaltung der Gesellschaft geben. Die einzige Alternative, die noch bleibt, ist der Weg in einen staatsskeptischen Libertarismus. Dieser Weg kann jedoch als ein Symptom aufgefasst werden, das aus der Preisgabe der Aufklärung und ihrer Tradition erst entsteht. 

In seinem Buch lässt Moyn diese Alternative außer Acht. Im zeitgenössischen Liberalismus gibt es auf Seiten eines staatsfeindlichen Libertarismus nämlich durchaus optimistische und utopisch-gestaltende Strömungen. Diese zeigen sich in einem utopischen Projekt wie Bitcoin, der Vorstellung von freien Städten, den technologieenthusiastischen Plänen zur Marsbesiedlung von Elon Musk oder einem Anarcho-Kapitalismus wie dem Javier Mileis. Diese Hoffnungen mögen nicht emanzipatorisch oder egalitär in Moyns Sinne sein, aber sie sind optimistisch in dem Sinne, den Lisa Duggan einen »grausamen Optimismus« bei Ayn Rand genannt hat. 3 Lisa Duggan, Mean Girl: Ayn Rand and the Culture of Greed, American Studies Now 8 (Oakland (Calif.): University of California press, 2019). Die Theorien dahinter sind platt und widersprechen dem subtilen intellektuellen Gespür von Samuel Moyn. Doch steckt hinter der libertären Vulgarität mehr. Philip Miroswki hat von einer esoterischen und exoterischen Seite des Neoliberalismus gesprochen: Die esoterische Seite, verkörpert durch Friedrich August von Hayek, ist intellektuell anspruchsvoll und pessimistisch. 4 Philip Mirowski, Untote leben länger, übers. von Felix Kurz, Erste Auflage dieser Ausgabe, MSB Paperback 018 (Berlin: Matthes & Seitz, 2019), 35–95. Sie weiß, dass der Kapitalismus kein gerechtes System ist, hält ihn aber dennoch für die einzige Option. Sie erkennt auch, dass sie, um mit den utopischen Versprechen des Sozialismus mithalten zu können, einer exoterischen optimistischen Seite bedarf, indem sie sich euphorisch und utopisch gibt und den Markt als Ort der Freiheit anpreist. Niemand anderes als Judith Shklar hat diesen Punkt bei Hayek diagnostiziert: Der Liberale muss, um zu überleben, utopische Impulse pflegen, ohne ihnen anheimzufallen. 5 Judith N. Shklar, After Utopia: the decline of political faith, hg. von Samuel Moyn (Princeton: Princeton University Press, 2020), 269. Idealistisch-progressive Impulse gehen gleichermaßen wirkungs- wie harmlos in technokratischen NGO-Projekten oder der »letzten Utopie« der Menschenrechte auf.

Moyns Forderung nach Optimismus, Gestaltungskraft und Fortschrittsglaube droht in ähnlicher Weise instrumentell zu werden, wenn Theorien nach ihren Konsequenzen und Implikationen beurteilt werden und nicht nach ihrem Gehalt. Der Liberalismus, den Moyn sich wünscht, müsste mehr als die instrumentell exoterische Seite eines progressiven Linksliberalismus sein. Wie einst Judith Shklar steht Moyn dem Verzicht auf bestimmte aufklärerische Gehalte des Liberalismus ob der Konsequenzen dieses Verlusts skeptisch gegenüber, hat diesem aber nicht wirklich etwas entgegenzusetzen, außer Mißgunst gegenüber den Implikationen und historischen Folgen dieses Verlusts. Wenn hierauf nichts hinzukommt, droht das Ergebnis von Moyns Buch nur eine Lektion für Linksliberale zu sein, die Rechtsliberale schon gelernt haben. Der Vernunftanspruch der Aufklärung erfordert, dass an den Fortschritt nicht nur geglaubt, sondern dessen Möglichkeit und Realität auch substantiell begründet wird.

Was Marx schon wusste

Die Entwicklung des Liberalismus im Kalten Krieg ist für Moyn eine »Überkorrektur« 6 https://www.bostonreview.net/articles/what-happened-to-liberalism/ und damit zurückkorrigierbar. Eine solche Charakterisierung erfasst die Logik der Entwicklung jedoch nicht hinreichend. Der Marxismus hat dafür eine bessere Erklärung. Aus seiner Sicht ist die Entwicklung des Liberalismus von einer rationalistisch-utopisch-progressiven zu einer irrationalistisch-pessimistisch-konservativen Kraft als das Produkt der historischen Entwicklung materieller Verhältnisse notwendig. Bereits im 19. Jahrhundert, insbesondere nach dem Scheitern der 1848er Revolutionen, etablierte sich im Liberalismus eine Strömung, welche ähnlich pessimistisch war, wie die liberale Strömung im Kalten Krieg. Sie glaubte nicht mehr an historischen Fortschritt und wandte sich gegen den Utopismus des aufkommenden Sozialismus.

In seiner Schrift über den 18. Brumaire hält Marx fest, dass sämtliche progressiven Aspekte des Liberalismus von Liberalen plötzlich als sozialistisch verurteilt wurden: »Für sozialistisch wird selbst der bürgerliche Liberalismus erklärt, für sozialistisch die bürgerliche Aufklärung, für sozialistisch die bürgerliche Finanzreform.« 7 Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, hg. von Hauke Brunkhorst, Studienbibliothek Suhrkamp 3 (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2016), 59. Der Impuls progressiver Liberaler wie Moyn besteht darin, diese Erklärungen als falsch zu entlarven und alle Liberale dazu aufzurufen, ihren ursprünglichen radikalen Ambitionen treu zu bleiben. Für Marx steckt jedoch mehr dahinter:

Es war dies nicht blosse Redeform, Mode, Parteitaktik. Die Bourgeoisie hatte die richtige Einsicht, dass alle Waffen die sie gegen den Feudalismus geschmiedet, ihre Spitze gegen sie selbst kehrten, dass alle Bildungsmittel, die sie erzeugt, gegen die eigene Civilisation rebelirten, dass alle Götter die sie geschaffen von ihr abgefallen waren. Sie begriff, dass alle sogenannten bürgerlichen Freiheiten und Fortschrittsorgane ihre Klassenherrschaft zugleich an der gesellschaftlichen Grundlage und an der politischen Spitze angriffen und bedrohten, also sozialistisch geworden waren.

Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, hg. von Hauke Brunkhorst, Studienbibliothek Suhrkamp 3 (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2016), 59.

Die konservativen Liberalen des Kalten Krieges waren sich mit ihren kommunistischen Widersachern einig darin, dass der Marxismus der einzige legitime Erbe der aufklärerischen Fortschrittsidee ist. Moyns Anliegen dieser These im Sinne eines nicht-marxistischen Linkshegelianismus zu widersprechen und einen sympathischeren Liberalismus zu reanimieren ist nachvollziehbar. Dass er dieses Projekt auf dem Gebiet der Ideengeschichte ansetzt, ist in gewisser Weise aber schon symptomatisch, denn nur dort ist das Projekt wirklich aussichtsreich. Ob es auch philosophisch oder politisch umsetzbar wäre, bleibt fraglich. 9