Lost in Rawlsland

Elif Özmen präsentiert eine elegante und fundierte Darstellung liberaler Kerngedanken. Ihre Verteidigung des Liberalismus wird Gegner nicht überzeugen können, eignet sich aber als ernst zu nehmender Ansatzpunkt für Kritik, schreibt Helena Schäfer.

Angesichts einer Welt, in der sowohl Linke als auch Rechte den Liberalismus für die Verwerfungen und Krisen der Gegenwart verantwortlich machen, hat sich Elif Özmen eine kurze, aber tiefgreifende Frage gestellt: „Was ist Liberalismus?“ Die Professorin für Praktische Philosophie an der Universität Gießen verfolgt das Ziel, „eine Landkarte der Philosophie des Liberalismus“ zu entwerfen. Dabei geht es ihr darum, die begriffliche und normative Architektur der liberalen Theorien offenzulegen.

Den Liberalismus versteht Özmen als „Bezeichnung einer politischen Tradition und eines bestimmten Sets politischer Überzeugungen“. Er sei eng mit historischen Ereignissen wie der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution verbunden. Enge normative Bande erkennt die Professorin zwischen dem Liberalismus, der modernen Demokratie, den universellen Menschenrechten und weiteren praktischen Erfolgen der Moderne wie dem Rechts- und Verfassungsstaat, dem Prinzip der Gewaltenteilung und dem Parlamentarismus. 

Weil der Liberalismus keine monolithische Theorie sei, sucht Özmen nach einem Netz von systematischen Gemeinsamkeiten liberaler Theorien. Ihre geschickte Lösung besteht darin, im Sinne von Wittgensteins Begriff der Familienähnlichkeit drei miteinander verschränkte, aber nicht aufeinander reduzierbare Konzepte vorzustellen, anhand derer sie den Liberalismus charakterisiert: Individualismus, Freiheit und Gleichheit. Das Individuum sei der Ausgangs- und Bezugspunkt der liberalen Rechtfertigung politischer Ordnungen. Es diene zugleich als Absender und auch als ihr Adressat. Charakteristisch für den Liberalismus sei ebenso die Vorstellung einer natürlichen Freiheit und des Vorrangs dieser Freiheit vor anderen normativen Forderungen. Dabei sei meist eine negative Freiheit gemeint, also Freiheit als Unabhängigkeit von Fremdbestimmung, insbesondere das Freisein von Zwang durch den Staat oder durch andere Privatpersonen. Ein drittes Element ist die Gleichheit der Menschen, welche ebenfalls als natürlich gegeben betrachtet wird. 

Helena Schäfer

Helena Schäfer hat Philosophie und Volkswirtschaftslehre in Bayreuth studiert und beendet gerade ihren Master in Politischer Theorie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Im Herbst 2022 war sie für ein Auslandssemester als Stipendiatin an der New School for Social Research in New York. Sie arbeitet als freie Journalistin, u.a. für das Philosophie Magazin und die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

John Rawls als Instanz des modernen Liberalismus

Neben Immanuel Kant und den klassischen Vertragstheoretikern des 17. und 18. Jahrhunderts wie John Locke und Jean-Jacques Rousseau steht vor allem John Rawls und dessen egalitärer Gerechtigkeitsliberalismus im Fokus. Rawls habe mit seinem Werk „Theorie der Gerechtigkeit“ in den 1970er Jahren die neuzeitliche Vertragstheorie wiederbelebt. 

In nüchternem Stil skizziert Özmen die Grundpfeiler von Rawls bekannter Theorie, die wie die klassischen Urzustand-Theorien früherer Jahrhunderte mit dem Kniff des Gedankenexperiments arbeitet: Unter dem berühmten „Schleier des Nichtwissens“ sind alle Zufälligkeiten des menschlichen Lebens verdeckt. Diese zwanglose Vertragssituation operationalisiert den universalistischen Anspruch, dass alle Betroffenen aus guten Gründen den Grundsätzen ihres Zusammenlebens zustimmen können müssen. Özmen nennt es die „moralische List (…) einer politischen Philosophie, die eine realistische Utopie sein will“.

Der Fokus auf Rawls zieht sich durch das gesamte Buch. Auch Özmens ausführliche Diskussion der Frage, ob der kulturelle Pluralismus ein Problem für den Liberalismus darstelle, geht auf Überlegungen von Rawls zurück. An einer Stelle bemerkt Özmen: „In gewisser Weise ist die politische Philosophie, sei es inhaltlich, begrifflich oder methodologisch, lost in Rawlsland“. Hier offenbart sich nicht nur, dass sie in Rawls die wichtigste Instanz für den modernen Liberalismus zu sehen scheint, sondern auch, dass es sich beim Liberalismus – entgegen der einleitenden Beobachtungen des Liberalismus als Gespenst und Feindbild – in den tonangebenden Departments der westlichen Welt tatsächlich um die herrschende politische Philosophie handelt; und dass Özmens Buch eine Selbstbeschreibung dieses Paradigmas darstellt. 

Özmens Darstellung der rawls’schen Theorie sowie weiterer liberaler Denker und Theorien ist kenntnisreich, elegant und stets von ihrer Parteinahme für den Liberalismus gefärbt. Ihr eigenes Rawlsland ergänzt sie mit liberalen Theorien der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit, darunter Judith Shklars „Liberalismus der Furcht“ und Richard Rortys „ironischem“ und „solidarischem“ Liberalismus. In Anlehnung an Rainer Forst charakterisiert Özmen das liberale Individuum als freies und gleiches Rechtfertigungswesen. Forsts Theorie des Rechts auf Rechtfertigung nimmt im dritten Kapital eine prominente Rolle ein, was ihn passenderweise als liberalen Denker markiert.

Kritik am Liberalismus

Laut der Einleitung sollen Krisen und Kritiken des Liberalismus zwar eine untergeordnete Rolle spielen; nichtsdestotrotz ist die Autorin in weiten Teilen des Buches bemüht, den Liberalismus gegen seine Kritiker zu verteidigen. Die verschiedenen Kritiken am Liberalismus stellt Özmen auch respektvoll dar. Ihre Auswahl allerdings ist ernüchternd. Strömungen wie der (nicht-analytische) Marxismus, die frühe Kritische Theorie oder postkoloniale Ansätze werden kaum diskutiert. Als Gegner dienen stattdessen der Konservativismus mit seiner Kultur- und Wertekritik einer bloß formal vereinten Gesellschaft und vor allem die anglo-amerikanische Strömung des Kommunitarismus. Dieser Fokus ist verständlich, wenn man bedenkt, dass sich der Kommunitarismus als Reaktion auf Rawls formierte. Verlässt man die Perspektive des Rawlsland allerdings, so ist die Auswahl eher fraglich. 1 Schade ist auch, dass die Kritik am atomistischen Individuum, die sich in überzeugenderer Form bereits bei Hegel, Marx und postkolonialen Denkerinnen findet, ausgerechnet dem Kommunitarismus zugeschoben und dadurch mit seiner diffusen Kulturkritik vermischt wird. Für so „überflüssig wie Inline-Rollschuhe und Bauchmuskeltrainer“ hielt den Kommunitarismus Lutz Meyer 1996 in der taz und attackierte die schwammige politische Ausrichtung mit dem schönen Satz: „[W]eil man einen Pudding bekanntlich nicht an die Wand nageln kann, finden die kommunitären Wanderprediger mit ihren flexiblen Thesen rasche Zustimmung.“

Linke Kritik findet bei Özmen nur in der Form der Kritik am Neoliberalismus Gehör: sie nennt die aus neoliberaler Politik resultierende Ungleichheit und Ausweitung der Eigentums- und Marktlogik, setzt dann aber zur Verteidigung an: Eine solche „Fetischisierung des unregulierten Marktes und der ungehemmten Freiheit“ sei dem Liberalismus eigentlich fremd. Ideengeschichtlich spreche nicht viel dafür, dass sich dieser „Kapitalliberalismus“ aus dem Liberalismus ergebe. Es ist schade, dass Özmen diese Kritik so schnell abhandelt. Gerade die Auseinandersetzung mit Marx, Adorno, Horkheimer und anderen, die auf inhärente Widersprüche der liberal-bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft hingewiesen haben – und das, bevor Thatcher und Co so etwas wie Neoliberalismus in die Welt setzen konnten – hätte spannend werden können. 

Eine echte Herausforderung des liberalen Paradigmas stellt ein Beispiel von Marx dar, das die Kritische Theoretikerin Rahel Jaeggi in ihrem Aufsatz „Was ist Ideologiekritik“ rezipiert. Einerseits entsprechen die liberal verstandenen Ideen der Freiheit und Gleichheit der Wirklichkeit: formal seien die Menschen im liberalen Kapitalismus gleich und frei. Anders als im Feudalismus haben die unabhängigen Individuen die gleichen subjektiven Rechte und können im Rahmen der liberalen Rechtsordnung miteinander Arbeitsverträge abschließen. Die Wirklichkeit aber hat eine zweite Ebene: die Individuen unterliegen Zwängen, die aus der faktischen materiellen Ungleichheit resultieren. Wer viel erbt, muss nicht den erstbesten Job annehmen. Wer aber nichts außer seiner Arbeitskraft hat, die er verkaufen kann, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, wird auch prekären Jobs und schlechten Arbeitsbedingungen zustimmen. Nach Marx ist die Ideologie von Freiheit und Gleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft nicht einfach unzureichend verwirklicht, sondern ist daran beteiligt, als Effekt neue, wenn auch verdeckte, Formen der Ungleichheit und Ausbeutung zu produzieren.

Keine Ideologie?

Diese und andere Versionen einer Ideologiekritik des Liberalismus werfen einen Schatten auf einen zentralen Aspekt der Selbstdarstellung des Liberalismus, der auch in Özmens Buch präsent ist: die vermeintliche Ideologiefreiheit. Özmen schreibt ausdrücklich, dass es sich beim Liberalismus – anders als bei seinen Gegnern – dem eigenen Anspruch nach um keine Ideologie oder Weltanschauung handele. Der Liberalismus beanspruche nicht, der einzige oder „wahre“ Weg der Rechtfertigung zu sein, er postuliere kein Dogma. Der liberale Staat bestimme lediglich einen politisch-rechtlichen Rahmen, innerhalb dessen die Einzelnen frei blieben, ihre persönlichen Vorstellungen des Guten zu entfalten – „ganz unabhängig davon, was der konkrete Inhalt oder die ethische Qualität dieser Interessen sein mögen“. Im Liberalismus, so die Anpreisung seiner Befürworter, dürfe man auch Dinge wollen, die „banal, seltsam, geschmacklos oder bizarr“ sind. 

Doch eine Verteidigung des schlechten Geschmacks – die im Übrigen in vielen Gesellschaftsordnungen denkbar ist – kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch der Liberalismus eine Ideologie ist. Die Setzung der Rahmenbedingungen geschieht nicht im Wertevakuum. Auch wenn die unparteiische Vernunft verlockend klingt, so muss man anerkennen, dass Werte keine von der Politik abgekapselte Sphäre sind. Sie sind nicht nur für private Geschmacksverirrungen verantwortlich, sondern haben gravierendere Auswirkungen auf politische Entscheidungen. Zur westlichen liberalen Werteordnung gehört bereits der Fokus auf die Vernunft als Quelle der Rechtfertigung, der Fokus auf das Individuum als Adressat und Absender der Normen und ein negatives Freiheitsverständnis. Diese Werte spielen bei der Setzung des liberalen Rahmens eine Rolle.

Erst eine Anerkennung des Liberalismus als Ideologie öffnet den Blick für seine Schattenseiten: Sozial und kulturell gewachsene Strukturen wie Rassismus und Patriarchat haben über Jahrhunderte verhindert, dass bestimmten Personengruppen liberale Individualrechte zugesprochen wurden. Und auch wenn heute viele diskriminierte Gruppen innerhalb westlicher Demokratien rechtlich gleichgestellt sind, so trifft doch die Beobachtung postkolonialer Denkerinnen wie der Rechtswissenschaftlerin Ratna Kapur auch heute zu, dass der Liberalismus Ausschlussmechanismen beinhaltet: noch immer findet eine Produktion des „Anderen“ (des einst kolonisierten und noch immer rassifizierten Subjekts) statt. Wie sonst ließe sich erklären, dass eine Europäische Union, die sich mit den liberalen Errungenschaften der Demokratie und universellen Menschenrechten rühmt, ihre Außengrenzen immer brutaler schützt und spezifischen Gruppen die Aufnahme erschwert und verwehrt. Ein Liberalismus, der sich heute behaupten möchte, sollte diese Vorwürfe ernst nehmen.

Ist der Mensch des Menschen Wolf?

Eine weitere Auffälligkeit, auf die sich ein kritischer Blick zu werfen lohnt, ist eine für den Liberalismus typische Form der Anthropologie, die auch bei Özmen regelmäßig durchscheint. Özmen beschreibt die liberale Anthropologie als „negativ“ und meint damit, dass sie sich „durch eine weitgehende Abwehr positiv-materialer Bestimmungen und Normierungen des Menschen“ auszeichne. Die liberale Anthropologie beschränke sich lediglich auf die Aspekte der conditio humana, die „möglichst unverdächtig sind, sich lediglich einem subjektiven Menschenbild, historischen Bedingungen oder kulturellen Varianzen zu verdanken“.

Das, was liberale Denker unter dem Ziel der Beschränkung als relevantes Merkmal des Menschen ausmachen, ist die konfliktreiche Ausgangsituation des Menschen. Özmen schreibt: „Zum einen ist der Mensch ein hochgradig verletzbares, aber auch verletzungsmächtiges Wesen. Man könnte es als anthropologische differentia spezifica bezeichnen, dass andere Tiere aggressiv, aber nur der Mensch gewalttätig ist.“ Die Erwartung von eskalationsträchtigen Konflikten und die Furcht vor Grausamkeit charakterisieren das Menschenbild des Liberalismus und dienten bekanntermaßen schon in der Theorie von Hobbes dazu, das staatliche Gewaltmonopol zu rechtfertigen. Der Berechtigungsgrund politischer Ordnungen und der vorrangige Zweck der Politik ist die Befriedung menschlicher Konflikte – diese Logik wird mit allen liberalen Natur- und Urzustandsszenarien illustriert. 

Nicht zufällig, so Özmen, „haben viele klassische Liberale zur Umschreibung des vorpolitischen Zustands der Menschen den Ausdruck ‚Krieg‘ gewählt“. Was aber, wenn es in gewisser Weise doch Zufall war? Was, wenn die egoistische, zu Konflikten neigende menschliche Natur kontingent ist? Was, wenn sie gerade unter den ungleichen und ungerechten Zuständen zum Vorschein kam und kommt, die im Feudalismus offen produziert und in der bürgerlichen Epoche, wenngleich verdeckt, weiter zementiert worden sind? Diese Kritik äußert Max Horkheimer in einem Aufsatz von 1936. 2 Max Horkheimer. Egoimus und Freiheitsbewegung – Zur Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters. In: „Traditionelle und Kritische Theorie. Fünf Aufsätze“. Fischer Wissenschaft 2011 In seiner Untersuchung der bürgerlichen Anthropologie kommt Horkheimer zu der Diagnose: Hobbes und andere bürgerlichen Denker gehen von einem negativen Menschenbild aus – nicht im Sinne von Özmens Minimalbestimmung, sondern im Sinne einer ‚bösen‘ Menschennatur. 

Auch Özmen zitiert eine besonders prägnante Stelle aus dem Leviathan, in der sich dieses Menschenbild offenbart: „[D]as menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz.“ Die bürgerlichen Denker beanspruchen für sich, so Horkheimer, die Frage nach der Anthropologie auf eine nicht metaphysische, sondern vermeintlich naturwissenschaftliche Art zu behandeln. Horkheimer argumentiert, dass ihre Herangehensweise jedoch nicht wertfrei sei. Denn Denker, die aus der Beobachtung ihrer Umwelt pauschale Schlüsse über die menschliche Natur zu ziehen gedenken, würden einen schwerwiegenden Fehler begehen: sie postulieren eine festgeschriebene, unveränderliche und von der Geschichte unabhängige Natur des Menschen. Horkheimer geht – im Anschluss an Marx – aber davon aus, dass Menschen immer durch ihre jeweilige Gesellschaftsform und historische Epoche geprägt werden. Für Horkheimer bedeutet das, dass sich Charakteristika wie Grausamkeit, Kälte und Feindseligkeit gerade in einer bestimmten Gesellschaftsform, nämlich der bürgerlich-kapitalistischen, ausbilden: „Alle, die in diese Welt hineingezogen werden, bilden die egoistischen, ausschließenden, feindseligen Seiten ihres Wesens aus, um sich in dieser harten Wirklichkeit selbst zu erhalten.“ 

Aus dem bekannten Diktum – das Sein bestimmt das Bewusstsein – folgt dann im Umkehrschluss, dass es auch anders sein könnte. Dass eine Welt möglich ist, in der Menschen zwar immer noch gewalttätig sein könnten, in der eine von Kälte und Fremdheit bestimmte Gesinnung aber nicht zur differentia spezifica des Menschen erklärt wird. Als entscheidendes Merkmal des Menschen, das ihn von den Tieren unterscheidet, würde sich unter anderen Umständen vielleicht Mitgefühl, Rücksicht, Barmherzigkeit oder Empathie ergeben. Ein solches Menschenbild würde sich nicht durch eine andere Moral, sondern durch das Herbeiführen anderer Zustände einstellen: „Die Verwirklichung der Sittlichkeit, eines menschenwürdigen Zustandes von Gesellschaft und Individuen, ist kein bloß seelisches, sondern ein geschichtliches Problem.“ 

Das, was wir nicht nicht wollen können?

Özmen beendet ihr Buch mit einer unaufgeregten Verteidigung des Liberalismus. Der letzte Satz des Buches lautet: „Alles in allem ist die liberale Demokratie die schlechteste Regierungs- und Lebensform, abgesehen von allen anderen.“ 3 Dieser Pessimismus täuscht Bescheidenheit vor und erinnert im ersten Moment an ein Zitat über Gayatri Spivak: „Im Rahmen ihres lose transkulturellen Einsatzes für die Entrechteten beschreibt Gayatri Spivak den Liberalismus […] als ‚das, was wir nicht nicht wollen können‘ – und Spivak spricht als von Derrida und Marx inspirierte postkolonial-feministische Kritikerin, die sich nur zu genau bewußt ist, was der Liberalismus nicht leisten kann, wo seine verborgenen Grausamkeiten liegen, welche Herrschaftsverhältnisse er unter seinen heiteren Formeln von Freiheit und Gleichheit verbirgt.“ Wendy Brown. Die Paradoxien der Rechte ertragen. In: „Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen“. Herausgegeben von Christoph Menke und Francesca Raimondi. Suhrkamp 2017  Özmens nüchternes Plädoyer für den Liberalismus liest sich aber, auch wenn ihre Churchill-Anspielung das Gegenteil nahelegt, in weiten Teilen nicht als widerwillige Verteidigung. Özmen scheint dem Liberalismus nicht mangels besserer Alternativen, sondern aus Überzeugung anzuhängen. Hierbei wird die eigene Leidenschaftslosigkeit der liberalen Tradition gemäß als vorteilhaft dargestellt – sie gilt schließlich als sachlich, besonnen und rational. Im Großen und Ganzen verteidigt sie die herrschende politische Philosophie der anglo-amerikanischen Welt und den realpolitischen Status Quo der Bundesrepublik. In ihrer Argumentation zitiert sie nicht nur Philosophen, sondern gegen Ende hin auch das Bundesverfassungsgericht. Immer wieder spricht sie sich direkt und indirekt für die normative Attraktivität des Liberalismus aus.

Neben der geschickten Herausstellung der liberalen Kernelemente ist es die Parteinahme, die das Buch interessant und lesenswert macht: Özmen liefert eine fundierte, und ernstzunehmende Darstellung des Liberalismus aus der Innenperspektive. Insofern wird das Buch seinem eigenen Anspruch gerecht: in der Einleitung schreibt die Autorin, dass sie den Feinden eine angemessene Darstellung, einen würdigen Gegner entgegenstellen möchte. Ihre Darstellung ist aufschlussreich, um das Selbst- und Weltbild der Liberalen zu verstehen und eignet sich als Ansatzpunkt für alle Kritiker, die sich aus dem Rawlsland herauswagen und es mit mehr als einem Pappkameraden aufnehmen wollen.