Marx‘ Soziale Republik
Karl Marx schrieb von der Pariser Kommune, dass sie die endlich entdeckte politische Form war, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte. Diese politische Form war wiederum ein Erbe der republikanischen Tradition, und zwar ihrer radikalsten und populärsten Elemente, wie Bruno Leipold in seinem Beitrag schreibt.
In William Morris‘ epischem Gedicht The Pilgrims of Hope (1885-1886) reisen drei englische Kommunisten nach Paris, um für die Kommune zu kämpfen – den Aufstand der Arbeiterklasse, der die Stadt zweiundsiebzig Tage lang vom 18ten März bis zum 28ten Mai 1871 kontrollierte. 1 Ich danke Caroline Fetscher, John Filling, Jared Holley, Steven Klein, David Leopold, James Muldoon, Luise Müller, Mirjam Müller, Karma Nabulsi, Paul Raekstad, Ross Speer, Patricia Springborg, Stuart White, Lea Ypi und den Zuhörern an der University of Oxford, der University of Campinas, der Goethe-Universität Frankfurt und der Venice International University für ihre Kommentare. Zwei von ihnen sterben im Kampf auf den Barrikaden, der dritte entkommt nur knapp durch eine Flucht nach England, bevor die Regierung in Versailles die Kommune in der blutigen Maiwoche („la semaine sanglante“) brutal niederschlägt. In der bewegendsten Strophe des Gedichts beschreibt der Held, wie es war, Paris für einen kurzen Moment „frei“ zu sehen: 2 William Morris, „The Pilgrims of Hope“, The Commonweal, 2, Nr. 17 (8. Mai 1886), S. 45.
And that day at last of all days I knew what life was worth;
For I saw what few have beheld, a folk with all hearts gay.
Then at last I knew indeed that our world of the coming day,
That so oft in grief and in sorrow I had preached, and scarcely knew
If it was but despair of the present or the hope of the day was due,
I say that I saw it now, real solid and at hand.
Diese Beschreibung ist mit der Wirkung, die die Kommune auf Karl Marx hatte, vergleichbar. 3 Die Titel der Marx’schen Werke sind in der Originalsprache angegeben und beziehen sich auf die Marx-Engels-Werke (Berlin: Dietz Verlag, 1956-68), nachfolgend MEW genannt, und die Marx-Engels-Gesamtausgabe (London: Lawrence and Wishart, 1975-2005), nachfolgend MECW genannt. Wo nötig, beziehe ich mich auf die verbindlichere, aber weniger zugängliche Marx-Engels-Gesamtausgabe (Berlin: Dietz Verlag, 1975-98; Akademie Verlag: 1998-), im Folgenden MEGA2 genannt. Bei anderen Primärquellen habe ich versucht, sowohl das Original als auch eine englische Übersetzung zu zitieren. Marx lobte die Pariser Arbeiter dafür, dass sie „den Himmel stürmten“ und dafür sorgten, dass „ein neuer Ausgangspunkt von welthistorischer Wichtigkeit gewonnen wurde“. 4 Marx an Ludwig Kugelmann, 12. April und 17. April 1871, MEW, Bd. 33, S. 205-6, 209; MECW, Bd. 44, S. 131-2, 137. Für seine spätere, maßvollere Einschätzung siehe Marx an Ferdinand Domela Nieuwenhuis, 22. Februar 1881, MEW, Bd. 35, S. 160; MECW, Bd. 46, S. 66. Aber es waren weniger die sozialen Maßnahmen der Kommune, die Marx so sehr begeisterten. Vielmehr veranlasste das volksdemokratische Experiment der Kommune, das „wirklich solide und greifbar“ war, Marx dazu, zu überdenken und zu klären, welche politischen Institutionen für die Verwirklichung und Aufrechterhaltung des Sozialismus notwendig waren. Die Kommune war, wie er es ausdrückte, „die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte“. 5 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 342; MECW, Bd. 22, S. 334. Diese politische Form war wiederum, wie ich in diesem Beitrag darlegen werde, ein Erbe der republikanischen Tradition, und zwar ihrer radikalsten und populärsten Elemente. 6 Zur Beziehung zwischen dem Republikanismus und dem sozialen Denken von Marx siehe Bruno Leipold, „Chains and Invisible Threads: Liberty and Domination in Marx’s Account of Wage-Slavery“, in Rethinking Liberty before Liberalism, eds. Hannah Dawson und Annelien de Dijn (Cambridge: Cambridge University Press, 2022, S. 194-214).
Bruno Leipold
Nachfolgend werde ich in drei Hinsichten darlegen, wie Marx‘ politisches Denken von diesem republikanischen Erbe geprägt wurde. 7 Eine Möglichkeit, wie Marx‘ politisches Denken von der republikanischen Tradition abweichen könnte, ist sein angeblicher Glaube an das Verschwinden von Politik und politischen Institutionen, sobald der Kommunismus richtig etabliert ist. Die Textgrundlage für diese Interpretation ist jedoch bemerkenswert dünn und verwechselt Marx‘ Glauben an das Ende der klassenbasierten Politik mit dem Ende der Politik als solcher. Eine aufschlussreiche Diskussion dieses weit verbreiteten Missverständnisses findet sich in Norman Geras, „Seven Types of Obloquy: Travesties of Marxism“, Socialist Register 26 (1990), S. 25-9; und William Clare Roberts, Marx’s Inferno: The Political Theory of Capital (Princeton, NJ: Princeton University Press, 2017), S. 251-3. In erster Hinsicht sprach sich Marx für ein System der Volksdelegation als Ersatz für die repräsentative Regierung aus, in dem die Vertreter durch imperative Mandate, das Recht auf Abberufung und kurze Amtszeiten gebunden sind. In zweiter Hinsicht präferierte Marx die Vorherrschaft der Legislative gegenüber der Exekutive und betrachtete die Gewaltenteilung kritisch. In dritter und letzter Hinsicht sprach Marx sich dafür aus, die staatlichen Verwaltungs- und Repressionsorgane unter die Kontrolle der Bevölkerung zu stellen.
Marx‘ Eintreten für diese politischen Institutionen beruhte auf seinem Vertrauen in die Fähigkeit des Volkes, sich selbst zu regieren und zu verwalten. Marx behauptete, die Kommune habe die Fähigkeit der „einfachen Arbeiter“ offenbart, sich selbst „bescheiden, gewissenhaft und wirksam“ zu regieren, und damit den Anspruch untergraben, dass das „Regierungsprivilegium“ den „oberen 10.000“ der wohlhabenden Eliten – ihren angeblichen „natürlichen“ Vorgesetzten – vorbehalten sein sollte. 8 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 343; MECW, Bd. 22, S. 336; Bürgerkrieg in Frankreich (Erster Entwurf), MEW, Bd. 17, S. 556; MECW, Bd. 22, S. 489. Darüber hinaus, so Marx, sei es eine „Täuschung“, dass „Verwaltung und politische Leitung Geheimnisse wären, transzendente Funktionen, die nur den Händen einer ausgebildeten Kaste […] anvertraut werden könnten“. 9 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich (Erster Entwurf), MEW, Bd. 17, S. 544; MECW, Bd. 22, S. 488. Marx glaubte also, dass die einfachen Bürger über eine größere Fähigkeit zur politischen Entscheidungsfindung und Verwaltung verfügten als die wenigen Elitären; eine Überzeugung, die ihn in die Gesellschaft radikaler Republikaner wie Machiavelli stellt und ihn von den eher aristokratischen und oligarchischen Strömungen der republikanischen Tradition unterscheidet. 10 John P. McCormick, Machiavellian Democracy (Cambridge: Cambridge University Press, 2011), S. 66-7.
Marx bezeichnete die Art des Gemeinwesens, die diese politischen Institutionen des Volkes umfasst, wiederholt als soziale Republik. Er argumentierte, die Kommune habe gezeigt, dass, 11 Marx, Erster Entwurf zu „Der Bürgerkrieg in Frankreich“, MEW, Bd. 17, S. 554; MECW, Bd. 22,S. 497. Marx schreibt auch, dass die „soziale Republik“ eine Republik war, „die nicht nur die monarchische Form der Klassenherrschaft ablösen sollte, sondern die Klassenherrschaft selbst“, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 338; MECW, Bd. 22, S. 330-1. Ich habe die Verwendung des Begriffs durch Marx ausführlicher in Bruno Leipold, „Social Republic“, in Marx from the Margins: A Collective Project, from A to Z, Sonderausgabe von Krisis: Journal for Contemporary Philosophy 2 (2018), S. 153-4. Leider ist William Clare Roberts’s ‚Marx’s Social Republic: Political Not Metaphysical“, Historical Materialism (2019), doi.org/10.1163/1569206X-00001870, zu spät erschienen, um seine Argumente noch in diesem Beitrag aufnehmen zu können.
eine Republik in Frankreich und Europa nur als „Soziale Republik“ möglich ist, d.h. als Republik, die der Kapitalisten- und Großgrundbesitzerklasse die Staatsmaschine entreißt, um sie durch die Kommune zu ersetzen, die die „soziale Emanzipation“ offen als das große Ziel der Republik bekennt und so jene soziale Umgestaltung durch die kommunale Organisation garantiert.
Der Begriff der „sozialen Republik“ erlangte während der Revolutionen von 1848 unter den Radikalen besondere Bekanntheit. Er bildete die Hälfte des populären Slogans „la République démocratique et sociale“ (die demokratische und soziale Republik), der zum Sammelruf für Sozialisten und Republikaner wurde, die für eine Republik kämpften und die das allgemeine Männerwahlrecht einführen und über politische Reformen hinaus die soziale Frage angehen sollte. 12 Maurice Agulhon, The Republican Experiment, 1848-1850, trans. Janet Lloyd (Cambridge: Cambridge University Press, 1983), S. 164-5; Jeremy Jennings, Revolution and the Republic: A History of Political Thought in France since the Eighteenth Century (Oxford: Oxford University Press, 2011), S. 56; Pamela M. Pilbeam, Republicanism in Nineteenth-Century France, 1814-1871 (Basingstoke: Macmillan, 1995), S. 215-18; und Jonathan Sperber, The European Revolutions, 1848-1851, 2nd ed. (Cambridge: Cambridge University Press, 2005), S. 206-7. In Marx‘ Analyse war die soziale Republik (und verwandte Begriffe wie die „rote Republik“ und die „Republik der Arbeit“) die von der Arbeiterklasse angestrebte Form der Republik, und er unterschied sie von der „bürgerlichen Republik […] dem Staat, dessen eingestandener Zweck [es] ist, die Herrschaft des Kapitals, die Sklaverei der Arbeit zu verewigen“. 13 Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW, Bd. 7, S. 33; MECW, Bd. 10, S. 69. Er argumentierte, dass die Unterentwicklung der Arbeiterklasse im Jahr 1848 den Sieg der Bourgeoisie und ihrer bürgerlichen Republik unvermeidlich gemacht hat und eine „soziale Republik [nur] als eine Phrase, als eine Prophezeiung“ der kommenden Dinge erschien. 14 Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW, Bd. 8, S. 120, 194; MECW, Bd. 11, S. 109, 181-2. Für Marx waren die nachfolgenden Ereignisse der Kommune dreiundzwanzig Jahre später dann ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass die Arbeiterklasse dazu in der Lage war, die politische Macht (wenn auch nur kurz) zu übernehmen und sich an die Aufgabe zu machen, ihre eigene soziale Republik zu schaffen. 15 Es herrscht Uneinigkeit darüber, inwieweit die Pariser Kommune als Aufstand der Arbeiterklasse betrachtet werden sollte, siehe David A. Shafer, The Paris Commune: French Politics, Culture, and Society at the Crossroads of the Revolutionary Tradition and Revolutionary Socialism (Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2005), S. 115; Robert Tombs, The Paris Commune, 1871 (London: Longman, 1999), S. 111-16.
Marx‘ Vorstellung von der politischen Struktur des Sozialismus ist im Allgemeinen als „Diktatur des Proletariats“ bekannt. Doch trotz der kanonischen Rolle, die dieser Begriff im marxistischen und antimarxistischen Denken gespielt hat, wird er von Marx nur sporadisch und weit weniger konkret verwendet, als sein späterer Status vermuten lässt. 16 Siehe die ausführliche Analyse in Hal Draper, „Marx and the Dictatorship of the Proletariat“, New Politics 1, no. 4 (1961), S. 91-104; und Hal Draper, Karl Marx’s Theory of Revolution, Bd. 3 (New York: Monthly Review Press, 1986), Teil IV. Siehe auch Lea Ypi, „Democratic Dictatorship: Political Legitimacy in Marxist Perspective“, European Journal of Philosophy (in Vorbereitung). Ein treffendes Beispiel für die vielfältige und austauschbare Terminologie, die Marx zur Beschreibung der politischen Struktur des Sozialismus verwendet, ist seine Behauptung, der Bauer solle sich auf die Seite der Arbeiterrepublik stellen, weil die „sozialdemokratische, die rote Republik, die Diktatur seiner Verbündeten ist“, Marx, „Die Klassenkämpfe in Frankreich“, MEW, Bd. 7, S. 84; MECW, Bd. 10, S. 122. Was er mit dem Begriff meinte, wurde durch spätere sprachliche und politische Entwicklungen erheblich verzerrt. Der Begriff „Diktatur“ hat sich von seiner anfänglichen Bedeutung von der verfassungsmäßigen Bestimmung der Römischen Republik, die es ermöglichte, einer Einzelperson im Falle von Staatsnotständen vorübergehend weitreichende (aber dennoch begrenzte) Macht zu übertragen, zu einem Begriff für eine autokratische Herrschaft entwickelt, die dauerhaft und verfassungsmäßig unbegrenzt ist. 17 Draper, Karl Marx’s Theory of Revolution, Bd. 3, S. 11-16; Wilfried Nippell, ‚Saving the Constitution: The European Discourse on Dictatorship“, in In the Footsteps of Herodotus: Towards European Political Thought, eds. Janet Coleman und Paschalis M. Kitromilides (Florenz: L. S. Olschki, 2012), S. 29-49. Darüber hinaus wurde die „Diktatur des Proletariats“ unausweichlich mit einer Einparteienherrschaft und dem Verbot demokratischer und bürgerlicher Freiheiten in Verbindung gebracht. Die Verwendung des Begriffs „soziale Republik“ hat daher den Vorteil, dass dieser ideologische Ballast sowie Vorurteile darüber, was Marx über die politischen Institutionen des Sozialismus geglaubt haben soll, vermieden werden.
Meine Erörterung der sozialen Republik wird sich in erster Linie auf Marx‘ „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ (1871) sowie auf zwei Entwürfe dieses Textes stützen. Marx schrieb dieses Pamphlet (das als Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation erschien), um die Pariser Kommune gegen die fast einhellige internationale Verurteilung zu verteidigen, der sie ausgesetzt war, und um seine eigene Interpretation der Ereignisse voranzutreiben (als solche sollte der Text in Teilen „nicht [als] eine Darstellung dessen, was die Kommune war, sondern dessen, was sie hätte werden können“ 18 Gareth Stedman Jones, Karl Marx: Greatness and Illusion (London: Allen Lane, 2016), S. 502. behandelt werden). Aus Marx‘ Erörterung der tatsächlichen und potenziellen institutionellen Merkmale der Kommune können wir in groben Zügen ableiten, wie seiner Meinung nach die politischen Institutionen des Sozialismus aussehen sollten. Diese Darstellung ist jedoch nur ein bruchstückhaftes Bild der politischen Institutionen einer Gesellschaft und gewiss keine Blaupause, aus der man ohne weiteres die Verfassung eines sozialistischen Gemeinwesens ableiten könnte. Marx lehnte es ab, detaillierte Zukunftspläne dieser Art zu entwerfen, und er lobte die Kommune ausdrücklich dafür, dass sie keine „fertigen Utopien par décret du peuple“ („per Dekret des Volkes“) einführen wollte. 19 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 343; MECW, Bd. 22, S. 335.
Diese Weigerung, die Einzelheiten des Sozialismus, einschließlich seiner politischen und verfassungsrechtlichen Anforderungen, in der ihm gebührenden Tiefe zu betrachten, ist einer der weniger überzeugenden Aspekte von Marx‘ Denken. 20 Siehe David Leopold, „The Structure of Marx and Engels‘ Considered Account of Utopian Socialism“, History of Political Thought 26, no. 3 (2005), S. 443-66; und David Leopold, „On Marxian Utopophobia“, Journal of the History of Philosophy 54, no. 1 (2016), S. 111-34. Es gibt jedoch vieles in seiner Darstellung der sozialen Republik, das zum Nachdenken anregt, und wenn wir die Vorstellung aufgeben, dass sie „ganz übernommen werden muss“, 21 David Leopold, Der junge Karl Marx: German Philosophy, Modern Politics, and Human Flourishing (Cambridge: Cambridge University Press, 2007), S. 11. dann könnten sowohl Republikaner als auch Sozialisten etwas Wertvolles finden, um darüber nachzudenken, wie unsere politischen Institutionen strukturiert sein sollten.
Volksdelegation und repräsentative Regierung
Zu Beginn der Pariser Kommune ging die Regierungsgewalt über Paris zunächst in die Hände des Zentralkomitees der Nationalgarde über, eines autonomen und demokratischen Gremiums, das im Monat zuvor in den turbulenten Nachwehen der preußischen Belagerung von Paris entstanden war. Marx beschrieb das föderative System der Wahl der Mitglieder des Zentralkomitees (von den Kompanien und Bataillonen aufwärts) enthusiastisch und behauptete: „Niemals waren Wahlen exakter, niemals haben Delegierte wahrhaftiger die Massen vertreten, aus denen sie hervorgegangen waren“. 22 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich (Erster Entwurf), MEW, Bd. 17, S. 538; MECW, Bd. 22, S. 483. Marx dehnte dieses Lob auf die Wahlmechanismen des Kommunerats (später einfach Kommune genannt) aus, der nach den Wahlen am 26. März 1871 die Kontrolle vom Zentralkomitee übernahm. Marx argumentierte, dass diese Maßnahmen, die imperative Mandate, repräsentative Abberufung und kurze Amtszeiten umfassten, ein zügelloses System, in dem Vertreter über das Volk herrschten, in ein System umwandelten, in dem die Delegierten ihrer Aufsicht und Kontrolle unterworfen waren. In „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ schreibt Marx dazu: 23 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 340; MECW, Bd. 22, S. 333.
Statt einmal in drei oder sechs Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament ver- oder zertreten soll, sollte das allgemeine Stimmrecht dem in Kommunen konstituierten Volk dienen.
Die institutionellen Mechanismen, die Marx zur Einschränkung von Vertretern (oder Delegierten) vorsieht, stehen im Widerspruch zu einem der Kernprinzipien des repräsentativen Regierens, welches, wie Bernard Manin in seiner maßgeblichen Darstellung des Themas feststellt, besagt, dass Vertreter teilweise unabhängig vom Willen des Volkes sind, das sie gewählt hat. 24 Bernard Manin, The Principles of Representative Government (Cambridge: Cambridge University Press, 1997), S. 6, 163-7. Das heißt, wenn Vertreter einmal gewählt sind, sind sie nicht verpflichtet, gemäß den Präferenzen ihrer Wähler abzustimmen und können stattdessen auf der Grundlage ihres eigenen Urteils über die Gesetzgebung entscheiden. Gleichzeitig, so Manin, sind die Abgeordneten aber auch nicht völlig unabhängig von ihren Wählern, da sie sowohl dem Druck der Bürger während ihrer Amtszeit als auch der Gefahr ausgesetzt sind, am Ende ihrer Amtszeit nicht wiedergewählt zu werden. Das bedeutet, dass die Abgeordneten einen Anreiz haben, im Einklang mit den Präferenzen ihrer Wähler zu handeln, aber rechtlich nicht dazu verpflichtet sind, was ihnen einen gewissen Ermessensspielraum lässt.
Manin skizziert mehrere verfassungsrechtliche Mechanismen, die diesen Ermessensspielraum einschränken können, wobei er sich insbesondere auf imperative Mandate und das Recht zur Abberufung von Abgeordneten konzentriert. Das imperative Mandat (oft mit dem französischen Namen „mandat impératif“ bezeichnet) verpflichtet die Abgeordneten, die ihnen von ihren Wählern erteilten Aufträge auszuführen. Das Recht auf Abberufung ermöglicht es den Wählern, die Abgeordneten sofort und nicht erst am Ende der Legislatur zu bestrafen. Beide Maßnahmen schränken somit den Ermessensspielraum der Abgeordneten ein. In den Verfassungen der repräsentativen Regierungen sind sie jedoch fast durchgängig nicht enthalten oder sogar ausdrücklich verboten. Manin schreibt: „Keine der repräsentativen Regierungen, die seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts gegründet wurden, hat imperative Mandate zugelassen.“ 25 Ebd., S. 163. In Frankreich wurde das imperative Mandat in allen republikanischen Verfassungen ausdrücklich verboten (mit Ausnahme der nie umgesetzten jakobinischen Verfassung von 1793 und der Verfassung der unglücklichen Vierten Republik von 1946), und ähnliche Bestimmungen finden sich in den modernen Verfassungen so unterschiedlicher Länder wie Deutschland, Korea, Senegal und Spanien. 26 Christoph Müller, The Imperative and Free Mandate: Reflections on the Doctrine of Representation of the People (Leiden: A. W. Sijthoff, 1966), S. 50-3; Marc Van der Hulst, The Parliamentary Mandate: A Global Comparative Study (Genf: Inter-Parliamentary Union, 2000), S. 8.
Es gab jedoch eine lange radikale republikanische Tradition, von der Französischen Revolution bis zur Pariser Kommune, die, inspiriert von Rousseau, dieses letztlich siegreiche Modell einer weitgehend ungebundenen Repräsentation in Frage stellte. 27 Pierre-Henri Zaidman, Le mandat impératif: De la Révolution française à la Commune de Paris (Paris: Les Editions Libertaires, 2008); Marco Goldoni, „Rousseau’s Radical Constitutionalism and Its Legacy“, in Constitutionalism beyond Liberalism, eds. Michael W. Dowdle und Michael A. Wilkinson (Cambridge: Cambridge University Press, 2017), S. 227-53. In den verschiedenen republikanischen Verfassungsmomenten finden wir die radikaleren Elemente der Tradition, die ein rechenschaftspflichtigeres und delegativeres Verständnis von Repräsentation vertreten. Einer der wichtigsten radikalen Teilnehmer der Revolution, Jean-Paul Marat, hatte bereits 1774 dem englischen Volk geraten, dass „Volksvertreter stets nach den Anweisungen ihrer Wähler handeln sollten“, denn „Was sind denn unsere Vertreter, wenn nicht unsere Herren?“. 28 The Chains of Slavery: A Work wherein the Clandestine and Villainous Attempts of Princes to Ruin Liberty Are Pointed Out, and the Dreadful Scenes of Despotism Disclosed… (London: 1774), S. 203. Siehe die weitere Diskussion in Rachel Hammersley, The English Republican Tradition and Eighteenth-Century France: Between the Ancients and the Moderns (Manchester: Manchester University Press, 2010), S. 142. Als die Abgeordneten sich 1789 in den Generalständen versammelten, trugen sie Weisungen (Cahiers) aus ihren Wahlkreisen bei sich, die im nahezu selben Moment für nichtig erklärt wurden. Hierdurch erhoffte der aristokratische Zweite Stand den frühen Verfassungsprozess der Revolution zu blockieren, sodass das imperative Mandat auch noch in der Verfassung von 1791 untersagt blieb. Im weiteren Verlauf der Revolution kamen jedoch verschiedene Gruppierungen, darunter die Sans-Culottes, zu dem Schluss, dass dies zur „Errichtung einer unkontrollierten Herrschaft“ geführt hatte, welche die Despotie des Königs durch eine „gesetzgebende Tyrannei“ ersetzt hatte. Sie agitierten daher für eine Legalisierung des imperativen Mandats und errangen bei der jakobinischen Verfassung von 1793, die auch eine Bestimmung über die Abberufung von Vertretern enthielt, einen Erfolg. 29 Jean-François Varlet, Projet d’un mandat spécial et impératif, aux mandataires du peuple à la Convention nationale (Paris: Imprimerie du Cercle social, 1792), S. 6-7; „Proposal for a Special and Imperative Mandate“, in Social and Political Thought of the French Revolution 1788-1797: An Anthology of Original Texts, gekürzte Ausgabe, Hrsg. und Übers. Marc Allan Goldstein (New York: Peter Lang, 2001), S. 154-5. Für einen Überblick über diese Episode siehe Nicolai von Eggers, „When the People Assemble, the Laws Go Silent: Radical Democracy and the French Revolution“, Constellations 23, Nr. 2 (2016), S. 256-8. Diese radikaleren Ideen zur Repräsentation tauchten erneut in der Kommune auf, als die Mitglieder der Kommune das ihnen von ihren Wählern erteilte Mandat impératif zur Rechtfertigung ihrer Stimmabgabe anführten. 30 Siehe insbesondere das Protokoll der Sitzung vom 1. Mai 1871, in Les 31 séances officielles de Commune de Paris (Paris: Revue de France, 1871), S. 140-2. Auch nach dem Ende der Kommune setzten sich die radikalen Republikaner für die Aufnahme des imperativen Mandats in die Verfassung der Dritten Republik ein, allerdings erfolglos. 31 Daniel Mollenhauer, Auf der Suche nach der ‚wahren Republik‘: Die französischen ‚Radicaux‘ in der frühen Dritten Republik (1870-1890) (Bonn: Bouvier Verlag, 1997), Kap. 4. Sie argumentierten, dass die Wahl für das französische Volk zwischen dem „imperativen Mandat oder der carte blanche für unsere Untergebenen, Herren oder Sklaven,“ liege, „dies sei die Alternative; nichts dazwischen, ihr müsst wählen“. 32 Anonym [Charles Ferdinand Gambon], Le mandat impératif par un paysan et lettre du citoyen Félix Pyat (Genf: L’imprimerie Coopérative, 1873), S. 21.
Marx erbte diese Tradition des radikalen Konstitutionalismus. Wir finden den Einfluss dieser Tradition nicht nur in der Befürwortung von imperativen Mandaten und dem Recht auf Abberufung wieder, sondern auch in der Verteidigung von kurzen Amtszeiten. Marx lobt die Kommune außerdem dafür, dass ihre Mitglieder durch „allgemeines Stimmrecht“ gewählt und „verantwortlich und jederzeit absetzbar“ sind, sowie für die von ihr vorgeschlagenen Pläne, dass lokale und regionale Gemeinden Delegierte in ein nationales Gremium entsenden, in dem „die Abgeordneten […] jederzeit absetzbar und an die bestimmten Instruktionen ihrer Wähler gebunden sind“. 33 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 339-40; MECW, Bd. 22, S. 331-2. Auch äußert Marx seine Abneigung gegen Vertreter, die zuvor drei oder sechs Jahre gewählt wurden, um das Volk falsch zu vertreten und dass die Wähler sie nur „einmal in vielen Jahren“ ersetzen konnten. 34 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 340; MECW, Bd. 22, S. 333; Bürgerkrieg in Frankreich (Zweiter Entwurf), MEW, Bd. 17, S. 544; MECW, Bd. 22, S. 488. Die Vorliebe für kurze Amtszeiten kommt auch in einem Artikel über die Chartisten von 1852 zum Ausdruck, in dem Marx seine Unterstützung für deren Forderung nach jährlichen allgemeinen Wahlen (die einzige ihrer sechs Forderungen, die bis heute unerfüllt geblieben ist) zum Ausdruck bringt und feststellt, dass dies eine „der Bedingungen ist, ohne die das allgemeine Wahlrecht für die Arbeiterklasse illusorisch wäre“. 35 Marx, Die Chartisten, MEW, Bd. 8, S. 344; MECW, Bd. 11, S. 335. Weitere Forderungen der Chartisten waren: allgemeines Wahlrecht für Männer, geheime Wahl, gleich große Wahlkreise, Gehälter für die Abgeordneten und die Abschaffung der Vermögensvoraussetzungen für Abgeordnete.
Nicht viel Raum widmet Marx der Frage, wie genau diese Wahlmechanismen eine größere demokratische Rechenschaftspflicht gewährleisten würden. Aber er zieht einen interessanten Vergleich zwischen Wählern, die Vertreter wählen, und Arbeitgebern, die Arbeiter einstellen. Er bemerkt, dass das „allgemeine Wahlrecht dem Volk dienen wird, so wie das individuelle Wahlrecht jedem anderen Arbeitgeber bei der Suche nach Arbeitskräften und Managern für sein Unternehmen dient“. 36 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 340; MECW, Bd. 22, S. 333. Marx setzt den Vergleich fort, indem er behauptet, es sei „bekannt genug“, dass sowohl der einzelne Bürger als auch der Arbeitgeber den richtigen Mann an die richtige Stelle zu setzen wüssten, aber wenn sie sich „einmal täuschen“, hätten sie die Macht, „dies bald wieder gut zu machen“. 37 Ebd. Die ironische Pointe besteht darin, dass ebenso wie der Arbeitgeber seine Angestellten nach Belieben entlassen kann, das Volk in der Lage sein wird, seine Vertreter nach Belieben abzuberufen. Die Implikation dieses Vergleichs ist, dass ähnlich wie die Arbeitnehmer derzeit an den Willen ihrer Arbeitgeber gebunden sind, auch die Abgeordneten an den Willen ihrer Wähler gebunden sein werden. Denn wenn ein Abgeordneter von den Präferenzen der Wähler abweicht, können die Wähler ihren Fehler „bald wieder“ korrigieren, indem sie ihren Abgeordneten sofort abberufen, anstatt das Ende der Amtszeit des Abgeordneten abzuwarten. Man kann also davon ausgehen, dass der Abgeordnete sein Verhalten ebenso wie ein Arbeitnehmer darauf ausrichtet, dass die Wähler nicht versuchen, ihn abzuwählen.
Das Ergebnis der von Marx befürworteten Rechenschaftsmechanismen wäre die Umwandlung der repräsentativen Regierung in ein System der Volksdelegation. In ersterem wird Repräsentation als die Übertragung von Entscheidungsbefugnissen durch das Volk an die Repräsentanten verstanden, und die Rolle des Volkes reduziert sich auf die Entscheidung, ob es sein Mandat bei der nächsten Wahl verlängert oder ablehnt. In der Zeit zwischen den Wahlen üben die Vertreter ihr Mandat mit einem großen Ermessensspielraum und ohne die formale Beteiligung des Volkes aus. In einem System der Volksdelegation wird die Vertretung stattdessen als eine Art Auftrag verstanden, bei dem die Vertreter (oder Delegierten) die Wünsche ihrer Wähler umsetzen. Das Volk behält auch die ständige Möglichkeit, in die Entscheidungsfindung seiner Vertreter einzugreifen, indem es ihnen formelle Anweisungen erteilt oder sie ganz abberuft. Durch die Institutionen der Volksdelegierung, so Marx, würde das allgemeine Wahlrecht von einem Instrument zur Wahl zwischen Elitenvertretern zu einem Instrument werden, bei dem das Volk fest im Besitz der politischen Macht bleibt. Dieser Punkt wird im ersten Entwurf von „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ anschaulich dargestellt, wo Marx argumentiert, 38 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich (Erster Entwurf), MEW, Bd. 17, S. 544; MECW, Bd. 22, S. 488.
Das allgemeine Stimmrecht, bisher entweder für die parlamentarische Sanktion der Heiligen Staatsmacht oder als Spielzeug in der Hand der herrschenden Klassen mißbraucht, vom Volk nur anwendbar, um einmal in vielen Jahren die parlamentarische Klassenherrschaft zu sanktionieren (deren Werkzeuge zu wählen), wird seinem wirklichen Zweck angepaßt: durch die Gemeinden ihre eignen Beamten für Verwaltung und Gesetzgebung zu wählen.
Marx‘ Kritik an der repräsentativen Regierung in seiner Diskussion über die Pariser Kommune wird in einigen seiner frühen politischen Schriften vorweggenommen, insbesondere in seiner Kritik an Hegel in seinem Beitrag „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ (1843). Hegel hatte „beauftragte oder bevollmächtigte Vertreter“ abgelehnt, weil er glaubte, dass Repräsentanten ein „besseres Verständnis“ des Gemeinwohls hätten als die Wähler, die sie gewählt haben. 39 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1970), § 309, S. 478; Elemente der Rechtsphilosophie, ed. Allen W. Wood, trans. H. B. Nisbet (Cambridge: Cambridge University Press, 1991), § 309, S. 348. Marx entgegnete, dass ungebundene Repräsentanten „in Wirklichkeit Partikularinteressen vertreten“, und ohne die formalen Zwänge imperativer Mandate hörten Repräsentanten auf, Delegierte des Volkes zu sein, und kommentierte: „Formal sind sie beauftragt, aber sobald sie tatsächlich beauftragt sind, sind sie keine Mandatare mehr. Sie sollen Delegierte sein, sind es aber nicht.“ 40 Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW, Bd. 1, S. 329; MECW, Bd. 3, S. 123. Marx beanstandete ferner, dass die repräsentative Regierung die politische Partizipation auf ein „einmaliges und temporäres“ Ereignis reduziert, ferner auf einen „Eklat machende[n] Akt der politischen Gesellschaft, eine Ekstase derselben, und als solche[…] muss sie auch erscheinen.“ 41 Ebd., MEW, Bd. 1, S. 317; MECW, Bd. 3, S. 112.
Wie mehrere Kommentatoren bemerkt haben, weist Marx’ Kritik, die Beteiligung des Volkes an der Politik darauf zu reduzieren, nur alle paar Jahre zu wählen, sowie seine Befürwortung eines alternativen Systems der Volksdelegation eine verblüffende Ähnlichkeit mit Rousseau auf. 42 Siehe zum Beispiel Lucio Colletti, „Introduction“, in Early Writings, by Karl Marx (London: Penguin, 1975), S. 46; Norman Arthur Fischer, Marxist Ethics within Western Political Theory: A Dialogue with Republicanism, Communitarianism, and Liberalism (New York: Palgrave Macmillan, 2015), S. 63-5; Goldoni, „Rousseau’s Radical Constitutionalism“, S. 250; und Manin, Principles of Representative Government, S. 165. David Leopold teilt diese Einschätzung, warnt aber davor, sowohl die allgemeine Ähnlichkeit zwischen Rousseaus und Marx‘ politischem Denken als auch das Ausmaß von Rousseaus Einfluss auf Marx zu übertreiben, Young Karl Marx, S. 262-71. Rousseau argumentierte in seinem berühmten Buch „Du contrat social“ (Über den Gesellschaftsvertrag, 1762), dass die repräsentative Regierung auf Sklaverei hinausläuft, die durch die vorübergehende Freiheit bei Wahlen unterbrochen wird. So sei das englische Volk „nur während der Wahl der Parlamentsabgeordneten frei; sobald sie gewählt sind, ist es versklavt, ist es nichts“. 43 Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social, in Oeuvres complètes, vol. 3 (Paris: Gallimard, 1964), S. 430; The Social Contract, in The Social Contract and Later Political Writings, ed. and trans. Victor Gourevitch (Cambridge: Cambridge University Press, 1997), S. 114. Rousseaus Kritik an der Repräsentation hat oft zu der Interpretation geführt, dass er Freiheit nur in kleinen Stadtstaaten für realisierbar hält, in denen jeder Bürger direkt teilnehmen kann und Repräsentation unnötig ist. In seinen „Considérations sur le gouvernement de Pologne“ (Überlegungen zur Regierung Polens, 1772) schlägt Rousseau jedoch vor, dass Freiheit und große moderne Staaten tatsächlich miteinander vereinbar sind. Er argumentiert, dass die unvermeidliche Korruption der Gesetzgeber in einem repräsentativen System durch zwei Mechanismen vermieden werden kann: die Abhaltung häufiger Wahlen und die Verpflichtung der Gesetzgeber, „sich genau an ihre Anweisungen zu halten“. 44 Jean-Jacques Rousseau, Considérations sur le gouvernement de Pologne, in Oeuvres complètes, Bd. 3, S. 979; Considerations on the Government of Poland, in Social Contract and Later Political Writings, S. 201. Rousseau argumentiert, dass die Legislative ohne diese vorbeugenden Maßnahmen zum „Instrument der Knechtschaft“ wird. 45 Ebd. So stellt er über das unbelastete englische Repräsentationssystem fest, 46 Ebd. Die maximale Legislaturperiode wurde erst mit dem Parlamentsgesetz von 1911 von sieben auf fünf Jahre verkürzt.
Ich kann mich nur über die Nachlässigkeit, den Leichtsinn und ich wage zu sagen, die Dummheit der englischen Nation wundern, die, nachdem sie ihre Abgeordneten mit der höchsten Macht ausgestattet hat, nicht eine einzige Einschränkung hinzufügt, um den Gebrauch zu regeln, den sie während der gesamten sieben Jahre ihrer Amtszeit machen könnten.
Marx und Rousseau teilen also das Eintreten für imperative Mandate und häufige Wahlen als verfassungsrechtliche Mechanismen, um die Vertreter gegenüber dem Volk, das sie gewählt hat, rechenschaftspflichtig zu halten. (Die Ähnlichkeit zwischen Marx und Rousseau in dieser Frage ist nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass der junge Marx im selben Sommer, in dem er seine Kritik an Hegel schrieb, Rousseaus „Du contrat social“ las und sich Notizen dazu machte). 47 Marx‘ Notizen zu Rousseau finden sich in MEGA, Bd. IV.2, S. 91-101. Neben Rousseau machte sich Marx auch Notizen zu Machiavellis Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio (Diskurse über das erste Jahrzehnt des Titus Livio, 1517) und Montesquieus De l’esprit des lois (Der Geist der Gesetze, 1748), die im selben Band auf den Seiten 106-15 und 276-8 zu finden sind. Sowohl Marx als auch Rousseau wenden sich der Volksdelegation als einem Weg zu, Demokratie und Volkssouveränität in einem großen modernen Gemeinwesen zu verwirklichen, ohne auf die weitgehend uneingeschränkte Form der Repräsentation zurückzugreifen, die heute ausschließlich mit „Demokratie“ identifiziert wird. Die Befürworter der repräsentativen Regierung neigen dagegen dazu, ihr bevorzugtes System als die einzige Alternative zur direkten Demokratie athenischer Prägung darzustellen, und da wir nicht zu diesen kleinen Stadtstaaten zurückkehren können, gewinnt die repräsentative Regierung automatisch. Das Eintreten von Marx und Rousseau für die Volksvertretung zeigt, dass diese Pole die Möglichkeiten zur Verwirklichung der Demokratie in einem modernen Staat nicht ausschöpfen.
Gesetzgebungshoheit und Gewaltenteilung
Marx lobte die Kommune dafür, dass sie Exekutiv- und Legislativgewalt in einem Gremium vereint hatte, und kommentierte, dass sie „nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein [sollte], vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit.“ 48 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 339; MECW, Bd. 22, S. 331. Zur sozialistischen Kritik an diesem Aspekt des Marxschen Verfassungsdenkens siehe Karl Kautsky, Die proletarische Revolution und ihr Programm (Stuttgart: J. H. W. Dietz Nachfolger/Berlin: Buchhandlung Vorwärts, 1922), S. 127-35; The Labour Revolution, trans. H. J. Stenning (London, G. Allen and Unwin, 1925), S. 75-83. Der Rat der Kommune hatte dies umgesetzt, indem er exekutive Verwaltungsentscheidungen den Ratsmitgliedern selbst vorbehielt. Die Kommune richtete zehn Kommissionen ein (die die bekannten Ministerien wie Krieg, Finanzen, Justiz und Bildung umfassen), die sich aus fünf bis acht Mitgliedern der Versammlung zusammensetzten, wobei der Leiter jeder Kommission von der Versammlung gewählt wurde. Das bedeutete, dass zwei Drittel der rund neunzig Mitglieder der Kommune neben ihrer gesetzgebenden auch eine administrative Funktion ausübten (daher bezeichnet Marx die Kommune als „arbeitende Körperschaft“). 49 Diese Zahlen stammen aus Richard N. Hunt, The Political Ideas of Marx and Engels, Bd. 2 (Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press, 1984), S. 144-5. Siehe auch Tombs, Pariser Kommune, S. 80-1. Es gab also keinen Präsidenten oder Kabinettsminister, der außerhalb der Legislative stand, und die exekutiven Funktionen waren der legislativen Leitung und Kontrolle untergeordnet.
Marx‘ Lob für dieses Verfassungsmerkmal der Kommune entsprach seinem seit langem bestehenden Misstrauen gegenüber der Exekutive. In seiner Analyse der französischen Verfassung von 1848 übte Marx heftige Kritik an der Macht, die sie der Exekutive durch das Amt des Präsidenten auf Kosten der Legislative verlieh. Er war der Ansicht, dass die Verfassung damit einfach die „Erbmonarchie“ durch eine „Wahlmonarchie“ ersetzt habe. 50 Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW, Bd. 7, S. 41; MECW, Bd. 10, S. 77. Er argumentierte, dass die Verfassung den Präsidenten mit „allen Attributen der königlichen Macht“ ausstattete, indem sie ihm das Recht gab, Verbrecher zu begnadigen, lokale und kommunale Räte zu entlassen, ausländische Verträge zu initiieren und, was am schlimmsten war, das Recht, Minister zu ernennen und zu entlassen, ohne die Nationalversammlung zu konsultieren. 51 Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW, Bd. 8, S. 127; MECW, Bd. 11, S. 116. Marx argumentiert, dass dieses letzte Merkmal der Verfassung bedeutete, dass die Legislative „jeden wirklichen Einfluss“ auf das Funktionieren der aufgeblähten Exekutivbürokratie eingebüßt hatte und sie allein in die Hände des Präsidenten legte. 52 Ebd., MEW, Bd. 8, S. 150; MECW, Bd. 11, S. 139.
Die Macht des Präsidenten wurde, so Marx, durch seinen persönlichen Charakter noch verstärkt, da die Nationalversammlung zwar die „mannigfaltigen Aspekte des nationalen Geistes“ repräsentierte, die Stimmen für das Präsidentenamt aber „auf eine Person konzentriert“ waren, so dass der „nationale Geist“ in seiner Person seine „Inkarnation“ fand. 53 Ebd., MEW, Bd. 8, S. 128; MECW, Bd. 11, S. 117. Marx folgerte daraus, dass die Verfassung „zwei Köpfe“ geschaffen hat, die „gesetzgebende Versammlung einerseits, den Präsidenten andererseits“, wobei das letztere verfassungsmäßige Amt einem ehrgeizigen Individuum die Möglichkeit bot, genügend Macht anzuhäufen, um die Legislative zu stürzen und seine eigene autokratische Herrschaft durchzusetzen, wie es Louis-Napoléon bei seinem Staatsstreich von 1851 dann auch tat. 54 Ebd., MEW, Bd. 8, S. 127; MECW, Bd. 11, S. 115.
Marx‘ Analyse der Verfassung von 1848 hat mit der des radikalen Republikaners Félix Pyat einige Punkte gemeinsam. Pyat war Journalist, Dramatiker und Mitglied sowohl der Nationalversammlung in der Zweiten Republik als auch später im Rat der Kommune. Während der verfassungsgebenden Debatten von 1848 prangerte er auf der Tribüne das vorgeschlagene Amt des Präsidenten an und argumentierte, dass dieser ein „Wahlkönig“ sei, der gefährlicher sei als der „Erbkönig“, den er ersetze. 55 Félix Pyat, Rede vor der Nationalversammlung, 5. Oktober 1848, Compte rendu des séances de l’Assemblée Nationale, Bd. 4 (Paris: Imprimerie de l’Assemblée Nationale, 1850), S. 651-2. Es ist wahrscheinlich, dass Marx die Rede von Pyat kannte, da er die Ereignisse in Frankreich aufmerksam verfolgte und die Rede in der französischen radikalen Presse gut bekannt gemacht wurde (siehe z. B. La Réforme, 6. Oktober 1848, Nr. 277, S. 1). Pyat warnte vorausschauend, dass die Verfassung zu einer gefährlichen Rivalität zwischen „zwei Köpfen“ führen würde, wobei der Präsident den Vorteil hätte, „dazu zu tendieren, alle Macht zu verdichten, zu konzentrieren, zu absorbieren, das Volk zu repräsentieren, zu personifizieren, zu verkörpern“. 56 Ebd. Um dieses Ergebnis zu vermeiden, drängte Pyat darauf, dass die „gesetzgebende Gewalt die exekutive Gewalt vollständig beherrschen muss“. 57 Ebd. Auf Pyat folgte unmittelbar Alexis de Tocqueville, der die vorgeschlagene Rolle des Präsidenten verteidigte – ein Vorgehen, das er später bedauerte, siehe seine Souvenirs, in Œuvres Complètes, Bd. 12 (Paris: Gallimard, 1964), S. 189; Recollections: The French Revolution of 1848 and Its Aftermath, ed. Olivier Zunz, trans. Arthur Goldhammer (Charlottesville, VA: University of Virginia Press, 2016), S. 127. Zu dieser Episode siehe Eugene Newton Curtis, The French Assembly of 1848 and American Constitutional Doctrines (New York: Columbia University, 1918), S. 187-8.
Mit ihrer Bevorzugung der Legislative gegenüber der Exekutive stellen sich Marx und Pyat in eine Tradition radikalen Verfassungsdenkens, die sich bis in die Konventszeit der Französischen Revolution und die jakobinische Verfassung von 1793 zurückverfolgen lässt. 58 Obwohl Marx‘ Vorliebe für die Vorherrschaft der Legislative seine verfassungsrechtliche Affinität zu Rousseau zu unterstreichen scheint, unterscheidet er sich durch seine Vorgabe, dass die Legislative die Verwaltungsaufgaben der Exekutive wahrnehmen sollte, von Rousseau, der glaubte, dies sei die eigentliche Aufgabe der Exekutive. Das mag daran liegen, dass Marx Rousseaus Unterscheidung zwischen Souveränität und Regierung nicht verwendet – ein Merkmal, das Marx möglicherweise näher an die Jakobiner bringt als an Rousseau, siehe Richard Tuck, The Sleeping Sovereign: The Invention of Modern Democracy (Cambridge: Cambridge University Press, 2016), S. 158-60, 254-5. Ich danke Stuart White, der mich auf diesen Punkt aufmerksam gemacht hat. In dieser Tradition, die manchmal als „Versammlungsregierung“ (gouvernement d’assemblée) bezeichnet wird, hat die „vom Volk gewählte gesetzgebende Versammlung die unbestrittene Oberhoheit über alle anderen Staatsorgane“, und „die Exekutive ist streng untergeordnet, der Diener oder Beauftragte der Versammlung und wird nach deren Ermessen entlassen“. 59 Karl Loewenstein, Political Power and the Governmental Process (Chicago, IL: University of Chicago Press, 1965), S. 81. Loewenstein verurteilt diesen Verfassungstyp als „erzdemokratisch, erzrepublikanisch, „monolithisch“ im Extrem“. Doch wie Richard Hunt argumentiert, kann Marx‘ Position auch einfach als eine Vertiefung des Engagements für die Verantwortung der Minister und die „übliche europäische Praxis der parlamentarischen Herrschaft“ im Gegensatz zu der Art von extremer Gewaltenteilung in der amerikanischen Verfassung gesehen werden, Politische Ideen von Marx und Engels, Bd. 2, S. 144. Marx‘ Vorliebe für diese Verfassungsform rührt von seiner Überzeugung her, dass die Exekutive dazu neigte, einen fremden und unberechenbaren Willen zu entwickeln, was in revolutionären Situationen bedeutete, dass sie im Vergleich zur Legislative eine reaktionäre Rolle spielte. In seinem Kommentar zur Revolution von 1848 argumentiert Marx, dass „die Exekutivgewalt im Gegensatz zur Legislativen die Heteronomie der Nation, im Gegensatz zu ihrer Autonomie, zum Ausdruck bringt“; 60 Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW, Bd. 8, S. 196; MECW, Bd. 11, S. 186. und in seiner Analyse der Französischen Revolution von 1789 argumentiert er, dass die Revolution von der Legislative „gemacht“ wurde und dass immer dann, wenn die Legislative das „beherrschende Element“ war, sie die „großen, organischen, allgemeinen Revolutionen“ gemacht hatte, weil sie der „Repräsentant des Volkes, des Gattungswillens“ war, während die Exekutive für die „kleinen Revolutionen, die retrograden Revolutionen, die Reaktionen“ verantwortlich war, weil sie „Repräsentant des besonderen Willens, der subjektiven Willkür“ war. 61 Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW, Bd. 1, S. 260; MECW, Bd. 3, S. 57.
Die Versammlungsregierung unterscheidet sich von Regimen mit strikter Gewaltenteilung, einer Verfassungsdoktrin, die Marx heftig kritisierte. 62 Die Kritik von Marx an der Gewaltenteilung richtet sich gegen die Macht, die sie der Exekutive auf Kosten der Legislative überträgt und weniger auf die Unabhängigkeit der Judikative. Seine Zustimmung dazu, dass die Kommune „diese schändliche Unabhängigkeit [der Justiz] beseitigt“ habe, bezieht sich darauf, dass die Richter nicht mehr direkt von der Regierung ernannt, sondern vom Volk gewählt wurden, Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 339; MECW, Bd. 22, S. 332. Hunt stellt fest, dass „er [Marx] nirgends eine Verschmelzung der richterlichen mit der exekutiven oder legislativen Gewalt forderte“, Politische Ideen von Marx und Engels, Bd. 2, S. 138. In einer punktuellen Analyse der französischen Verfassung von 1848 kommentierte Marx den Artikel 19 (in dem es heißt, dass die „Gewaltenteilung das erste Prinzip einer freien Regierung“ ist): „Hier haben wir den alten Verfassungsunsinn. Die Voraussetzung für eine „freie Regierung“ ist nicht die Trennung, sondern die Einheit der Gewalten. Die Regierungsmaschinerie kann gar nicht einfach genug sein. Es ist immer die Kunst der Spitzbuben, sie kompliziert und geheimnisvoll zu machen.“ 63 Marx, „Die Konstitution der Französischen Republik, angenommen am 4. November 1848“, MEW, Bd. 7, S. 498; MECW, Bd. 10, S. 570. In der verbindlicheren Fassung in MEGA2, Bd. I.10, S. 540, wird „EINHEIT“ großgeschrieben.
Allein für sich genommen mag diese Passage einen beunruhigend autoritären Eindruck erwecken. In der Tat deutet die Betonung der „Einheit der Gewalten“ auf eine Befürwortung von Machtkonzentrationen hin. Wenn wir die Passage jedoch in den Kontext sowohl von Marx‘ breiterem verfassungsrechtlichen Denken als auch des populären republikanischen Verfassungsgedankens stellen, den wir bisher erörtert haben, dann wird deutlich, dass sein Einwand gegen die Gewaltenteilung darin besteht, dass sie die Macht fälschlicherweise in der Exekutive auf Kosten der Legislative konzentriert. Dieser Einwand beruhte wiederum, wie wir bereits gesehen haben, auf der Sorge, dass die Exekutive eine Tendenz zur Unabhängigkeit und Verselbstständigung hat, die sich der Kontrolle durch das Volk entzieht. Diese Kritik an der Gewaltenteilung war in der Tat genau das, was die Befürworter der Doktrin bei ihrer Gründung lobten. Maurice Vile schreibt in seiner klassischen Studie über die Gewaltenteilung, dass die Begründer der Doktrin „davon ausgingen, dass die Legislative vollständig vom demokratischen Element übernommen wird oder werden kann“ und dass daher die Macht auf „Regierungszweige, die weitgehend oder vollständig außerhalb der Legislative liegen“, verteilt werden musste. 64 M. J. C. Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers (Oxford: Clarendon Press, 1967), S. 33. Obwohl die Gewaltenteilung heute als ein Eckpfeiler des demokratischen Regierens gilt, glaubten ihre Begründer ausdrücklich, dass sie dazu dienen würde, den demokratischen Einfluss auf die Verfassung zu begrenzen.
Die obige Passage von Marx über die Gewaltenteilung ist auch in ihrem unmittelbaren Kontext zu lesen. Marx‘ Sprache wurde wahrscheinlich von einem Artikel inspiriert, den sein Freund Ernest Jones, ein sozialistischer Republikaner und prominenter Chartist, einige Wochen zuvor geschrieben hatte. 65 Zur Verbindung zwischen Chartismus und Republikanismus siehe Mark Bevir, „Republicanism, Socialism, and Democracy in Britain: The Origins of the Radical Left’, Journal of Social History 34, Nr. 2 (2000), S. 351-3. Beide Artikel erschienen in Jones‘ Zeitschrift „Notes to the People“ im Mai und Juni 1851. Jones‘ Artikel untersuchte die Geschichte des Florenz der Renaissance, einschließlich seiner verfassungsmäßigen Struktur, und vertrat einen auffallend ähnlichen Standpunkt wie Marx, 66 Ernest Jones, „History of Florence’“, Notes to the People, 4 (Mai 1851), S. 80.
Sie [die Florentiner] suchten Sicherheit in einer komplizierten Regierungsmaschinerie, in dem berühmten System von „Kontrolle und Gegenkontrolle“; Tatsache ist nun, dass eine Regierung nicht zu einfach sein kann. Wenn die Regierung gut ist, ist es umso besser, je weniger Kontrollen sie in ihrem Ablauf hat; wenn sie schlecht ist, ist es umso schwieriger, sie zu beseitigen oder zu ändern, je komplizierter ihr Funktionieren ist.
Sowohl Jones als auch Marx argumentieren daher, dass „eine Regierung nicht einfach genug sein kann“ und kritisieren Verfassungen, die den „Regierungsapparat kompliziert“ machen. Die Kritik von Marx richtet sich auf die Gewaltenteilung, die von Jones eher auf das eng damit verbundene (wenn auch unterschiedliche) System der Checks and Balances (Marx scheint nicht zwischen diesen Doktrinen unterschieden zu haben). 67 Die „reine Lehre“ von der Gewaltenteilung besagt, dass die Regierung in drei Zweige aufgeteilt sein sollte, nämlich in Legislative, Exekutive und Judikative, wobei jeder Zweig eine einzige entsprechende Funktion hat und eine vollständige Trennung der Personen zwischen den Zweigen besteht. Die Theorie der „checks and balances“ besagt darüber hinaus, dass jeder Zweig eine begrenzte Befugnis haben sollte, in die Funktionen des anderen Zweigs einzugreifen. Siehe Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers, S. 13, 18. Die Präferenz von Marx und Jones für eine einfache Regierung steht im Gegensatz zum zeitgenössischen Urteil von Alexis de Tocqueville, der sich für zwei gesetzgebende Kammern in der Verfassung von 1848 ausgesprochen hatte, weil er ein „etwas kompliziertes System von Checks and Balances“ einer „einfacheren Theorie vorzog, die einer homogenen Instanz ungeteilte Macht verleiht … [mit] unbegrenztem Handlungsspielraum“. 68 Tocqueville, Souvenirs, S. 184-5; Recollections, S. 123.
Eine ähnliche Kluft findet sich zwischen radikalen und gemäßigten Republikanern während der amerikanischen Verfassungsdebatten, wobei die Antiföderalisten für eine einfache, für jedermann verständliche Verfassung eintraten, während die Föderalisten ein komplexes System von Checks and Balances befürworteten, von dem die Antiföderalisten annahmen, dass es die demokratische Rechenschaftspflicht einschränken würde. 69 Herbert J. Storing, What the Anti-Federalists Were For: The Political Thought of the Opponents of the Constitution (Chicago, IL: University of Chicago Press, 1981), S. 53-63. Tatsächlich haben die Föderalisten diese Checks and Balances speziell zu dem Zweck entworfen, den Ausdruck des Volkswillens durch die Legislative abzuschwächen. 70 Bernard Manin, „Checks, Balances and Boundaries: The Separation of Powers in the Constitutional Debate of 1787“, in The Invention of the Modern Republic, Hrsg. Biancamaria Fontana (Cambridge: Cambridge University Press, 1994), S. 59-61. Sie glaubten, dass die „größte Gefahr“ für die repräsentative Regierung darin bestehe, dass die „Legislative die Mängel einer Volksversammlung annimmt“, und dass die Macht daher nicht nur auf andere Zweige verteilt werden müsse, sondern dass diese Zweige auch die Macht haben müssten, in die Arbeit der Legislative einzugreifen. 71 David Wootton, „Liberty, Metaphor, and Mechanism: „Checks and Balances“ and the Origins of Modern Constitutionalism“, in Liberty and American Experience in the Eighteenth Century, ed. David Womersley (Indianapolis, IN: Liberty Fund, 2006), S. 264. Das Vetorecht des Präsidenten, die richterliche Kontrolle durch den Obersten Gerichtshof und die ausgleichende Macht des aristokratischen Senats wurden daher in die Verfassung aufgenommen, um die Macht dessen zu begrenzen, was als das demokratischere Element der Verfassung angesehen wurde: das Repräsentantenhaus. Alexander Hamilton rühmte sich dafür, dass dieses System „so komplex und ausgeklügelt sei, weil es nahezu unmöglich sei, dass eine unpolitische oder bösartige Maßnahme das System überlistet“. 72 Zitiert in Storing, What the Anti-Federalists Were For, S. 54.
Die Antiföderalisten lehnten diese aristokratischen und mehrheitsfeindlichen Kontrollen der Legislative ab und befürworteten stattdessen eine klar umrissene und transparente Verfassung, in der (ähnlich wie bei Marx) die Legislative den anderen Gewalten überlegen war, da sie ihrer Meinung nach „das Volk in seiner Vielfalt besser repräsentiert als der Präsident und ihm gegenüber rechenschaftspflichtiger ist als die Richter“. 73 Manin, ‚Checks, Balances and Boundaries‘, S. 40-1. Marx‘ Gedanken unterscheiden sich von der Position der Antiföderalisten (aber nicht von den meisten radikalen französischen Republikanern), wenn er es vorzieht, dass die Legislative sowohl legislative als auch exekutive Funktionen ausübt, was die Antiföderalisten aufgrund ihrer Doktrin „ein Zweig, eine Funktion“ abgelehnt hätten. Einer der vielen anonymen Anti-Föderalisten verglich die Tugend transparenter und einfacher Regierungsformen mit dem „Mechaniker“, der „die Maschinerie“, mit der er arbeitet, „versteht“, weil er ihre gesamte Funktionsweise durchschauen kann, und der Anti-Föderalist kommt zu dem Schluss, dass die „Verfassung eines weisen und freien Volkes für die einfache Vernunft so offensichtlich sein sollte wie die Buchstaben unseres Alphabets“. 74 Anonym, „Address by Denatus“, in The Complete Anti-Federalist, Bd. 5 (Chicago, IL: University of Chicago Press, 1981), S. 262. Marx‘ eigene Charakterisierung der „komplizierten und geheimnisvollen“ Regierung als Handwerk der „Spitzbuben“ kann als ein Echo dieses älteren radikalen Konstitutionalismus gesehen werden.
Volkskontrolle der Staatsorgane
In „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ verurteilt Marx den bestehenden Staat als professionellen, hierarchischen und zentralisierten Körper, der sich der Kontrolle seiner Bürger entzogen hat. Er kritisiert die „systematische und hierarchische Arbeitsteilung“, die „geschulte Kaste“ der Bürokraten, die „zentralisierte Staatsmaschinerie“ und die Tatsache, dass der Staat „der Herr und nicht der Diener der Gesellschaft“ ist. 75 Vgl. Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17: 336; MECW, Bd. 22: 328; Der Bürgerkrieg in Frankreich (Erster Entwurf), MEW, Bd. 17, S. 544, 538, 539; MECW, Bd. 22, S. 488, 483, 484. Aufgrund dieser Merkmale argumentiert Marx, dass der bestehende Staat ein ungeeignetes Mittel für die Revolution der Arbeiterklasse ist. In der vielleicht meistzitierten Zeile des Pamphlets sagt er, dass „die Arbeiterklasse […] die fertige Staatsmaschinerie [nicht einfach] in Besitz nehmen und diese für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen [kann]“. 76 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 336; MECW, Bd. 22, S. 328. Marx hielt diesen Punkt für so wichtig, dass er (und Engels) ihn in ihrem Vorwort zum Manifest der Kommunistischen Partei (1848) von 1872 zitierten und feststellten, dass dies einer der Aspekte sei, in denen das ursprüngliche Manifest „veraltet“ sei, siehe Marx und Engels „Vorwort zum Manifest“, MEW, Bd. 18, S. 96; MECW, Bd. 23, S. 175. Ein Satz, der in einem der Textentwürfe von der ähnlich prägnanten Aussage begleitet wurde, dass das „politische Instrument ihrer [der Arbeiterklasse] Versklavung nicht als politisches Instrument ihrer Emanzipation dienen kann“. 77 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich (Zweiter Entwurf), MEW, Bd. 17, S. 592; MECW, Bd. 22, S. 533. Eine einfache Übernahme des bestehenden Staatsapparats und seine Ausrichtung auf den Sozialismus war somit ausgeschlossen, und die Arbeiterklasse musste ihn stattdessen in ein Gemeinwesen umwandeln, das die verwerflichen Merkmale des bestehenden Staates nicht aufwies.
Marx identifiziert fünf Hauptorgane des bestehenden Staates: die Bürokratie oder den Staatsdienst, die Armee, die Polizei, die etablierte Kirche und die Justiz. 78 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 336; MECW, Bd. 22, S. 328. Er erörtert in unterschiedlicher Ausführlichkeit, wie jedes dieser Staatsorgane umgestaltet werden sollte. Aus Platzgründen und um mich auf die Aspekte zu konzentrieren, in denen das radikal-republikanische Erbe von Marx am interessantesten zum Ausdruck kommt, werde ich nur Marx‘ Ideen zur Umwandlung der ersten beiden Organe erörtern: der Armee und der Bürokratie.
Marx glaubte, dass das stehende Heer in eine Bürgermiliz umgewandelt werden sollte, und er lobte die Kommune dafür, dass sie ihre erste Tat in der „Unterdrückung des stehenden Heeres und dessen Ersetzung durch das bewaffnete Volk“ gemacht hatte. 79 Ebd., MEW, Bd. 17, S. 338; MECW, Bd. 22, S. 331. (Im Großen und Ganzen unterscheidet eine bürgerliche Miliz sich von einem stehenden Heer dadurch, dass es eher aus Teilzeit-Bürgersoldaten als aus Vollzeit-Berufssoldaten besteht). Marx schreibt der Nationalgarde, der Bürgerwehr von Paris, zu, die Kommune überhaupt erst ermöglicht zu haben. Nur weil die Arbeiterklasse bewaffnet und in einer Miliz organisiert war, konnte sie sich den Truppen der Versailler Regierung widersetzen und eine eigene Verwaltung aufbauen. 80 Ebd. und Bürgerkrieg in Frankreich (Zweiter Entwurf), MEW, Bd. 17, S. 595; MECW, Bd. 22, S. 536-7. Die Nationalgarde war in der Tat eine ganz besondere Institution, die eine zentrale Rolle bei den Ereignissen im Vorfeld und während der Kommune spielte. Sie war zwar traditionell eine bourgeoise Garde, ihre Reihen setzten sich aber zunehmend aus Arbeitern zusammen, und 1871 wurde sie „weithin als ein demokratisches Gremium von Bürgersoldaten“ verstanden, das weit von den „autoritären und militaristischen Traditionen der Armee“ entfernt war. 81 Shafer, Pariser Kommune, S. 137. Im Gegensatz zur Armee wählte sie beispielsweise ihre Unteroffiziere und Nachwuchsoffiziere selbst, und die Einheiten wurden auf lokaler Ebene rekrutiert und organisiert. Die Belagerung von Paris hatte dazu geführt, dass die Nationalgarde spektakulär auf 340.000 Mann angewachsen war, und sie wurde zum Epizentrum des lokalen sozialen und politischen Lebens, indem sie den Arbeitervierteln alles bot, von einem „Ersatzarbeitsplatz, über die Sicherung des Familieneinkommens, bis hin zu einem politischen Verein“. 82 Tombs, Pariser Kommune, S. 50. Der unmittelbare Kontext für den Ausbruch der Kommune war somit eine Situation „lokaler, demokratischer, bewaffneter Organisationen in einem noch nie da gewesenen Ausmaß“. 83 Ebd., S. 46.
Marx‘ Kommentare zur Nationalgarde weisen auf vier Vorteile hin, die er in einer Bürgermiliz gegenüber einem stehenden Heer sieht. Erstens: Sie ist billiger. Marx sagt, dass die Abschaffung des stehenden Heeres die „die ergiebigste Quelle für alle Besteuerung und Staatsschulden“ beseitigt und die „erste ökonomische Bedingung sine qua non für alle sozialen Verbesserungen“ sei. 84 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich (Erster Entwurf), MEW, Bd. 17, S. 543-4; MECW, Bd. 22, S. 488. Zweitens ist eine Bürgermiliz eine bessere Armee. Marx argumentiert, dass die Nationalgarde die „sicherste Garantie gegen eine äußere Aggression“ war, und meint, wenn die Kommune zu Beginn des Deutsch-Französischen Krieges gebildet worden wäre, hätte sie „die Verteidigung [von Paris] aus den Händen der Verräter genommen“ und den Streitkräften „ihren Enthusiasmus aufgeprägt“ und den Kampf in einen echten „Krieg des republikanischen Frankreichs“ verwandelt. 85 Ebd., MEW, Bd. 17, S. 536, 544; MECW, Bd. 22, S. 481, 488. Es besteht die Möglichkeit, dass Marx mit „ausländische Aggression“ das gegenteilige Merkmal einer Bürgermiliz meint, nämlich die geringere Bereitschaft, sich an ausländischen Kriegen zu beteiligen. Der Kontext der preußischen Belagerung deutet jedoch darauf hin, dass Marx sich darauf bezieht, dass die Bürgermiliz besser in der Lage ist, die Nation vor ausländischen Angriffen zu verteidigen. Drittens verbessert eine Bürgermiliz den Charakter ihrer Soldaten im Vergleich zu Berufssoldaten. Marx argumentiert, dass Berufssoldaten „eingewurzelte Gewohnheiten“ in der Ausbildung der Feinde der Arbeiterklasse erwerben (wie z. B. das Erschießen von Gefangenen ohne Gerichtsverfahren), die schließlich beseitigt würden, wenn sie sich den Arbeitern in einer Bürgermiliz anschlössen. 86 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 331; MECW, Bd. 22, S. 323; Der Bürgerkrieg in Frankreich (Zweiter Entwurf), MEW, Bd. 17, S. 585; MECW, Bd. 22, S. 526-7. Viertens, und das ist am wichtigsten, ist eine Bürgermiliz weniger anfällig dafür, sich auf die Seite reaktionärer Kräfte gegen die Volksbewegungen zu stellen. Marx bezeichnete das stehende Heer als „ständige Gefahr für die Usurpation der Klassenherrschaft durch die Regierung“. 87 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich (Erster Entwurf), MEW, Bd. 17, S. 543; MECW, Bd. 22, S. 488. Er war der Ansicht, dass ein stehendes Heer eine bleibende Quelle potenzieller Reaktion darstellt, da es der herrschenden Klasse oder einem Führer mit cäsaristischen Ambitionen die Mittel an die Hand gibt, mit denen sie den Wirren einer Revolution ein Ende setzen können. Marx war der Ansicht, dass eine Bürgermiliz aufgrund ihrer engeren Verbindung zum Volk weniger wahrscheinlich auf diese Weise eingesetzt werden würde (seine Vorgabe, dass die Miliz eine „äußerst kurze Dienstzeit“ haben sollte, deutet beispielsweise darauf hin, dass man sicherstellen wollte, dass sie keine eigenständige Existenz entwickelt). 88 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 340; MECW, Bd. 22, S. 332. Seine Beschreibung der Armeetruppen als „französisches Soldatentum“, als „söldnerische Rächer“ der bürgerlichen Gesellschaft und als „eiserne Hand der Söldnerschaft“ stellt sie außerdem als eine Kraft dar, die außerhalb der Gesellschaft steht und von der Regierung bezahlt wird, um das Volk zu unterdrücken. 89 Vgl. Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich (Zweiter Entwurf), MEW, Bd. 17, S. 585; MECW, Bd. 22, S. 526; Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 356, 361; MECW, Bd. 22, S. 348, 354. Zusammenfassend vertrat Marx die Ansicht, dass das stehende Heer „die Regierung gegen das Volk verteidigt“, während eine Bürgermiliz „das Volk ist, das sich gegen die Usurpation der Regierung bewaffnet“. 90 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich (Zweiter Entwurf), MEW, Bd. 17, S. 595-6; MECW, Bd. 22, S. 537.
In dieser Verteidigung der Bürgermiliz können wir Spuren der republikanischen „Bürgersoldaten“-Tradition in Marx‘ Denken erkennen. 91 R. Claire Snyder, ‚The Citizen-Soldier and the Tragedy of The Eighteenth Brumaire‘, Strategies: Journal of Theory, Culture and Politics 16, Nr. 1 (2003), S. 23-37. Von Machiavelli bis Rousseau haben republikanische Denker in dieser Tradition vor der Gefahr von Berufssoldaten für die Republik gewarnt, entweder als Söldner oder als stehendes Heer. 92 R. Claire Snyder, Citizen-Soldiers and Manly Warriors: Military Service and Gender in the Civic Republican Tradition (Lanham, MD: Rowman and Littlefield, 1999); J. G. A. Pocock, The Machiavellian Moment: Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition (Princeton, NJ: Princeton University Press, 1975), S. 199-211. Sie argumentieren, dass Berufsarmeen vom Volk getrennt sind und daher von den Eliten zu dessen Unterdrückung eingesetzt werden können. Sie betonen, dass die Bewaffnung des Volkes es ihm ermöglicht, sich gegen diese Bedrohung seiner inneren Freiheit zu verteidigen und als Bollwerk gegen Fremdherrschaft zu fungieren. Rousseau argumentierte, dass ein stehendes Heer „nur zu zwei Zwecken taugt: um die Nachbarländer zu erobern oder um die Bürger zu fesseln und zu versklaven“. 93 Rousseau, Considérations, S. 1013-14; Considerations, S. 233-4. Stattdessen schlug er vor, dass „jeder Bürger ein Soldat aus Pflicht, keiner aus Beruf“ sein sollte. 94 Ebd. Er behauptete auch, dass eine Miliz „die Republik wenig kostet“, besser kämpft als eine Berufsarmee (da „man seine Güter immer besser verteidigt als die eines anderen“) und die lokale Bevölkerung nicht schikaniert, wie es Berufssoldaten zu tun pflegen. 95 Ebd. Die finanziellen Vorteile einer Bürgermiliz sind ein wiederkehrendes Thema in Rousseaus Plädoyer für diese Institution.
Marx‘ Argumente für eine Bürgermiliz ähneln diesen Positionen stark. Sein Anliegen, sicherzustellen, dass die Streitkräfte keine von der Gesellschaft getrennte Einheit bilden, spiegelt, wie R. Claire Snyder argumentiert, „eines der Hauptprinzipien der Bürgersoldatentradition wider: Ein Militär, das vom Volk gestellt wird, schießt weniger wahrscheinlich auf seine eigenen Nachbarn und Kameraden“. 96 Snyder, „The Citizen-Soldier and the Tragedy of The Eighteenth Brumaire“, S. 33. Darüber hinaus entsprach Marx‘ Verteidigung der Nationalgarde als „sicherste Garantie gegen eine äußere Aggression“ und seine Kritik an den Armeegenerälen, die seiner Meinung nach die Nationalgarde nicht ordnungsgemäß gegen die preußischen Streitkräfte eingesetzt hatten, 97 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 331-2; MECW, Bd. 22, S. 323-4. der unter zeitgenössischen Radikalen weit verbreiteten Überzeugung, dass Paris die Preußen hätte schlagen können, wenn es den Enthusiasmus des Volkes entfesselt hätte, indem es den legendären republikanischen Volksaufstand aus der Französischen Revolution in Massen nachgestellt hätte. 98 Tombs, Pariser Kommune, S. 47-8.
Die marx’schen Erläuterungen zur Bürgermiliz in „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ befassen sich in erster Linie mit der Rolle, die sie bei der Verteidigung der Revolution gegen reaktionäre Kräfte spielt, und nicht mit der Verbindung, die der Republikanismus häufig zwischen dem Dienst in der Miliz und der Entwicklung der für die Staatsbürgerschaft erforderlichen Tugenden herstellt. 99 Für die Verbindung siehe Snyder, Citizen-Soldiers and Manly Warriors, S. 22-4, 54-5. Diese Verbindung zeigt Marx jedoch in einem früheren Artikel auf, in welchem er den Versuch der preußischen Regierung von 1848 bespricht, eine verwässerte Bürgermiliz zu schaffen. Marx verurteilt hier die Vorgabe der Regierung, dass ein Mitglied der Miliz „weder über öffentliche Angelegenheiten denken noch sprechen darf“ und „auf seine primären politischen Rechte verzichten muss“, und argumentiert, dass dies Bürger hervorbringen würde, die den „passiven, willen- und selbstlosen Gehorsam des Soldaten“ widerspiegeln würden. 100 Marx, Der Bürgerwehrgesetzentwurf, MEW, Bd. 5, S. 243-5; MECW, Bd. 7, S. 256-7. Marx witzelt sarkastisch darüber, dass die vorgeschlagene Bürgermiliz somit „eine gute Schule … zur Heranziehung der Republikaner der Zukunft“ sein würde. 101 Ebd. Dass Marx hier die Bezeichnung „republikanisch“ verwendet, ist auf die Strategie zurückzuführen, die er und Engels während der Revolutionen von 1848, zunächst mit den Republikanern gegen die absoluten und konstitutionellen Monarchien zu kämpfen, bevor sie sich dann dem Kommunismus zuwenden konnten.
Kommen wir nun zum zweiten Staatsorgan: der Bürokratie. Die wichtigste Änderung, die Marx für die Bürokratie vorschlägt, ist, dass die Beamten gewählt und abgewählt werden sollen. In „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ und seinen Entwürfen wird immer wieder darauf hingewiesen, dass „die öffentlichen Diener … gewählt, verantwortlich und absetzbar“ sein sollen. 102 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 339; MECW, Bd. 22, S. 322. Obwohl Marx im zweiten Entwurf davon spricht, dass öffentliche Beamte „von der Kommune ernannt und jederzeit absetzbar“ sind, anstatt vom Volk gewählt zu werden, Der Bürgerkrieg in Frankreich (Zweiter Entwurf), MEW, Bd. 17, S. 596; MECW, Bd. 22, S. 547 (Hervorhebung hinzugefügt). Damit überträgt Marx dasselbe System der Rechenschaftspflicht, das er auf die politische Repräsentation anwendet, auf die öffentliche Verwaltung als Ganzes. Es ist nicht ganz klar, wie viele Positionen in der öffentlichen Verwaltung insgesamt durch Wahlen zu besetzen sind (wir könnten uns vorstellen, dass dies nur auf die höchsten Verwaltungsposten beschränkt ist oder sich auf die meisten oder sogar alle öffentlichen Beamten erstreckt). Einige Formulierungen von Marx deuten darauf hin, dass die Regelung tatsächlich sehr weitreichend sein würde. Er sagt zum Beispiel, dass es für die „Beamten aller anderen Zweige der Verwaltung“ gelten würde, und stellt fest, dass die Beamten auf dem Lande, wie der „Notar, der Advokat und der Gerichtsvollzieher“ (die derzeit „Blutsauger“ und „gerichtliche Vampire“ sind), alle „in besoldete Kommunalbeamte“ umgewandelt würden, die von „[Bauern] gewählt werden und [diesen] gegenüber verantwortlich sind“. 103 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 339, 345; MECW, Bd. 22, S. 331, 337. Das Ergebnis einer demokratischen Bürokratie wäre eine beträchtliche und weitreichende Deprofessionalisierung der öffentlichen Verwaltung. 104 Hunt, Political Ideas of Marx and Engels, Bd. 2, S. 132-4. Die Beamten wären, so Marx, keine „ausgebildete Kaste“ mehr und das „Heer der Staatsparasiten [würde] beseitigt“. 105 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich (Erster Entwurf), MEW, Bd. 17, S. 545; MECW, Bd. 22, S. 490. Marx glaubte ferner, dass die Abwählbarkeit der Beamten dazu führen würde, dass die Bürokratie wirklich rechenschaftspflichtig würde. Er merkt an, dass dadurch „die Staatshierarchie gänzlich beseitigt“ würde und die „hochfahrenden Beherrscher des Volkes durch seine jederzeit absetzbaren Diener [ersetzt würden], [eine] Scheinverantwortlichkeit durch eine wirkliche Verantwortlichkeit, da sie dauernd unter öffentlicher Kontrolle arbeiten“. 106 Ebd., MEW, Bd. 17, S. 544; MECW, Bd. 22, S. 488.
Marx entnahm diese Ideen wahrscheinlich der Déclaration au peuple français der Kommune vom 19. April 1871 (die „einer Zusammenfassung ihres Programms am nächsten kommt“). 107 Tombs, Pariser Kommune, S. 78. Marx bezieht sich auf die Erklärung in Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 339-40; MECW, Bd. 22, S. 332. Die Erklärung forderte die „ständige Einmischung der Bürger in die kommunalen Angelegenheiten“ und gab einen flüchtigen Blick auf ihr Verwaltungsideal, indem sie die „Auswahl per demokratischer Abstimmung oder Auswahlverfahren mit Rechenschaftspflicht (responsibilité) und ständigem Recht auf Aufsicht (contrôle) und Entlassung (révocation) von Richtern und Kommunalbeamten aller Besoldungsgruppen“ 108 Eine Übersetzung der Erklärung findet sich in Tombs, Paris Commune, S. 217-19. proklamierte. Als prägnante Formulierung dieser Forderung kann die wiederholte Forderung nach „Wahl, Verantwortung und Abberufbarkeit“ aller Amtsträger angesehen werden. 109 Marx weicht jedoch insofern von der Erklärung ab, als er nicht erwähnt, dass die Stellen durch Wahlen oder „Auswahlverfahren“ besetzt werden.
Eine greifbare finanzielle Dimension der Deprofessionalisierung der Bürokratie ist Marx‘ Forderung, dass „von den Mitgliedern der Kommune abwärts“ alle öffentlichen Beamten „Arbeiterlöhne“ erhalten sollten. 110 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 339; MECW, Bd. 22, S. 331. Im Kontext der Lohnstruktur der französischen Bürokratie des 19. Jahrhunderts war das eine besonders radikale Forderung. Von der Zeit Napoleons I. bis zum Ersten Weltkrieg verfügte der französische Staat über eine kleine Zahl extrem gut bezahlter Beamter, die das Fünfzig- bis Hundertfache des Durchschnittseinkommens erhielten (damit sie ein ähnlich „würdiges“ Leben führen konnten wie diejenigen, die von ererbtem Kapital lebten). 111 Thomas Piketty, Capital in the Twenty-First Century, trans. Arthur Goldhammer (Cambridge, MA: Harvard University Press, 2014), S. 416-17. In Balzacs „Cousin Bette“ (1846) beispielsweise verdient der verantwortungslose und unbequeme Baron Hulot d’Ervy in seinem hohen Amt im Kriegsministerium 25.000 Francs pro Jahr, während die Tageslöhne für Arbeiter damals nur 1 bis 1,5 Francs betrugen, also etwa 300-450 Francs pro Jahr. 112 Siehe den Finanzanhang in Honoré de Balzac, Cousine Bette, ed. David Bellos, trans. Sylvia Raphael (Oxford: Oxford University Press, 2008), S. 463-5. Balzac war einer der Lieblingsautoren von Marx und er bezieht sich auf Cousin Bette in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW, Bd. 8, S. 206; MECW, Bd. 11, S. 196. Eine radikale Kürzung der Gehälter für diese Spitzenposten wäre ein starkes Symbol dafür gewesen, die öffentliche Verwaltung aus den Händen aristokratischer Würdenträger in die Hände der einfachen Arbeiter zu legen. Elitäre Funktionäre wie Baron Hulot (die „Staatsparasiten“, von denen Marx spricht) würden nicht länger die finanziellen Ressourcen des Landes zu ihrem eigenen Vorteil ausschöpfen. Die Begrenzung der Löhne auf das Niveau der Arbeiter wäre somit ein wichtiger Teil des Prozesses, durch den „die hohen Würdenträger des Staates verschwinden“. 113 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 339; MECW, Bd. 22, S. 331. Tatsächlich setzte die Kommune die Gehälter der Staatsbeamten nicht auf das Niveau der „Arbeiterlöhne“ fest, wie Marx behauptet, sondern begrenzte sie auf maximal 6.000 Francs pro Jahr (die Arbeiter verdienten 1871 etwa 5 Francs pro Tag, also rund 1.500 pro Jahr). 114 Tombs, Pariser Kommune, S. 86; Shafer, Pariser Kommune, S. 138. Die Zahlen für die Löhne der Arbeiter (1-1,5 Francs und später 5 Francs) sind den jeweiligen Quellen entnommen und spiegeln möglicherweise eher unterschiedliche Abrechnungsmethoden als steigende Löhne oder die Inflation wider. Marx übertrieb also absichtlich, was die Kommune tatsächlich erreicht hatte (ein bereits radikaler Schritt), in Richtung dessen, was er von zukünftigen sozialen Regimen erhoffte. 115 Wir wissen, dass dies absichtlich geschah, da Marx einen Pressebericht über die Ankündigung des Höchstlohns kopierte und dem Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation die richtigen Zahlen mitteilte. Siehe „Meeting of the General Council April 25 1871“, MEGA2, Bd. I.22, S. 541 und Karl Marx, Notebook on the Paris Commune: Press Excerpts and Notes, ed. Hal Draper (Berkeley, CA: Independent Socialist Press, 1971), S. 36.
Marx‘ Vorgabe, alle öffentlichen Ämter zur Wahl zu stellen und allen Funktionären den gleichen Arbeiterlohn zu zahlen, stellt, wie Richard Hunt es nennt, eine „verlockende Vision einer Demokratie ohne Fachleute“ dar. 116 Hunt, Politische Ideen von Marx und Engels, Bd. 2, S. 367. In Marx‘ Konzeption der sozialen Republik sind öffentliche Funktionen nicht mehr einer „ausgebildeten Kaste“ vorbehalten, sondern werden vom Volk als Ganzes ausgeübt. Diese Entprofessionalisierung der administrativen und repressiven Funktionen des Staates ist eine der viel weniger beachteten politischen Ideen von Marx. Es ist eine Vision, die in krassem Gegensatz zum massiven Ausbau des Staates und seines professionellen Personals seit dem publizistischen Schaffen von Marx steht. Sie hat in der Tat mehr mit dem antiken Modell des demokratischen Athens gemein, wo fast alle öffentlichen Verwaltungsbeamten (Magistrate) aus der Gesamtheit der Bürger gewählt wurden. 117 Ein wichtiger Unterschied zwischen Marx‘ sozialer Republik und dem demokratischen Athen besteht jedoch darin, dass Marx nur die Auswahl von Beamten durch Wahlen erörtert und die Wahl durch das Los, von der Athen ausgiebig Gebrauch machte, nicht erwähnt. Dies spiegelt vielleicht die allgemeine Abkehr vom Losverfahren zugunsten von Wahlen im modernen politischen Denken und in der Verfassungspraxis wider, siehe Manin, Principles of Representative Government, S. 79-93. Dieses System basierte auf dem Rotationsprinzip, das besagte, dass ein Bürger nicht einfach jemand ist, der das Recht hat, seine Herrscher zu wählen, sondern jemand, der seinerseits regiert und regiert wird; eine Idee, die auf einem „tiefen Misstrauen gegenüber der Professionalität“ und der Überzeugung beruhte, dass „jede politische Funktion von Nichtfachleuten ausgeübt werden kann, es sei denn, es gibt zwingende Gründe, das Gegenteil anzunehmen“. 118 Ebd., S. 28-32. Siehe auch C. L. R. James, ‚Every Cook Can Govern: A Study of Democracy in Ancient Greece and Its Meaning for Today“, in A New Notion: Two Works by C. L. R. James, ed. Noel Ignatiev (Oakland, CA: P. M. Press, 2010), S. 136-55. Es war ein Ideal, das den jungen Marx inspiriert hatte, der bewundernd schrieb, dass „in Griechenland die res publica die eigentliche Privatangelegenheit der Bürger ist“. 119 Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW, Bd. 1, S. 234; MECW, Bd. 3, S. 32. Diese antiken Republiken hatten in den Augen von Marx eine lobenswerte „substantielle Einheit zwischen Staat und Volk“ erreicht. 120 Ebd. In ähnlicher Weise lobt Marx die Kommune dafür, dass sie die „Wiederaufnahme der Staatsmacht durch die Gesellschaft, als ihre eigenen lebendigen Kräfte, statt als Kräfte, die sie kontrollieren und unterwerfen, durch die Volksmassen selbst“ erreicht hatte. 121 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich (Erster Entwurf), MEW, Bd. 17, S. 543; MECW, Bd. 22, S. 487. Marx‘ Kommentar zur Kommune war also in gewisser Hinsicht eine Rückkehr zu den klassischen republikanischen Ideen seiner Jugend. 122 Miguel Abensour, Democracy against the State: Marx and the Machiavellian Moment, trans. Max Blechman und Martin Breaugh (Cambridge: Polity, 2011), S. 84-8; und Colletti, „Introduction to Marx Early Writings“, S. 42-4.
Fazit
In diesem Beitrag wurde in drei Hinsichten dargelegt, wie Marx‘ Konzeption der politischen Institutionen des Sozialismus von den radikalen Elementen der republikanischen Tradition beeinflusst wurde: sein Eintreten für die Ersetzung der repräsentativen Regierung durch die Volksdelegation; seine Vorliebe für die Vorherrschaft der Legislative und sein Glaube an die Notwendigkeit, die Verwaltungs- und Repressionsorgane des Staates umzugestalten, indem sie der Kontrolle des Volkes unterstellt werden. Zusammen bilden sie einige der Kernelemente von Marx‘ sozialer Republik.
In der Einleitung habe ich angedeutet, dass Marx‘ Erörterung dieser politischen Institutionen zwar oft nicht so tiefgründig und detailliert ist, wie wir es uns wünschen würden, dass aber seine Darstellung der sozialen Republik einen anregenden Fundus an Ideen bietet, auf den Sozialisten und Republikaner zurückgreifen können. Eine dieser Ideen ist, dass der Sozialismus eine besondere politische Struktur erfordert – vielleicht die wichtigste Einsicht, die Marx in seiner Diskussion über die Pariser Kommune entwickelt. Marx argumentiert, dass die Menschen in Paris, 123 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich (Erster Entwurf), MEW, Bd. 17, S. 556; MECW, Bd. 22, S. 498.
die wirkliche Leitung ihrer Revolution in die eigenen Hände genommen und zugleich das Mittel gefunden [haben], [es] im Fall des Erfolgs in den Händen […] zu halten, indem [sie] die Staatsmaschinerie, die Regierungsmaschine der herrschenden Klassen, durch [eine] eigene Regierungsmaschine ersetzt [haben].
Die Kommune hatte also nicht nur gezeigt, wie das Volk die Revolution „in die eigenen Hände“ nehmen sollte, sie hat auch die „Mittel, um sie in den Händen zu halten“, gezeigt, nämlich durch die Schmiedung einer „eigenen Regierungsmaschinerie“. Die Übernahme des bestehenden Regierungsapparats der herrschenden Klassen würde also bedeuten, dass die Revolution der Kontrolle des Volkes entgleitet. Der Regierungsapparat des Sozialismus müsste daher die überkommenen politischen und administrativen Institutionen in wirklich demokratische umwandeln. Auf diese Weise, so Marx, habe die Kommune „der Republik die Grundlage für wirklich demokratische Institutionen geliefert“. 124 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 342; MECW, Bd. 22, S. 334.
Dieser Beitrag wurde mit Genehmigung von PLSclear reproduziert. Übersetzung von Otmar Tibes.