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Migration oder Schuldenbremse: Die Geschichte eines sozialdemokratischen Dilemmas

Zehn Jahre hat die SPD die deutsche Migrationspolitik geprägt. Dabei stand sie lange für einen humanen und integrativen Kurs. Nun scheint sie eine Kehrtwende zu vollziehen. Wie es so weit kommen konnte und was die Schuldenbremse damit zu tun hat, schreibt Jonas Junack.

Es ist der 22. September 2013, kurz vor 19:00 Uhr. Wahlabend. Das Willy-Brandt-Haus ist randvoll. Auf einer Bühne tritt der Spitzenkandidat Peer Steinbrück ans Mikrofon. Hinter ihm eine lilafarbene Leinwand. Über ihm grelle Scheinwerfer, die sich auf seiner Glatze spiegeln und links neben ihm, im schwarzen Anzug, der Hamburger Regierungschef, Olaf Scholz. „Wir haben nicht das Ergebnis erreicht, dass wir wollten“, sagt Steinbrück. Als Finanzminister hatte er einst die Schuldenbremse eingeführt, als Kanzlerkandidat hat er versagt. Seine Sozialdemokraten enden bei 25,7 Prozent. Auf den Absturz von 2009 folgt kein Comeback. Auch Steinbrücks Karriere erholt sich nicht mehr von diesem Ergebnis. 

Drei Monate verhandeln die Spitzen von Union und SPD in der Folge über einen Koalitionsvertrag – ein Rekord. Die 134 Seiten – überschrieben mit dem Titel ‚Deutschlands Zukunft gestalten‘ – wirken heute, wie das bundespolitische Zeugnis der letzten Momente vor AfD, Rechtsruck und Populismus. Die deutschen Exportüberschüsse steigen nach der Finanzkrise wieder kontinuierlich, die Arbeitslosenzahlen fallen und die Neuverschuldung, so freut man sich in der Präambel, „sinkt fast auf Null“. Im Zentrum des Koalitionsvertrages stehen Leitplanken, wie die Einführung des Mindestlohns, die Einhaltung der Schuldenbremse oder die viel zitierte und gescholtene PKW-Maut. Wichtiger ist jedoch, was nicht drinsteht. Oder zumindest nur am Rande: Das Themenfeld Asyl und Migration taucht in den 15 Kernthemen gar nicht erst auf. Nur die Seite 76 und 77 sind ihm gewidmet. 

Auch das damalige Wahlprogramm der SPD zeigt, wie randständig das Thema noch ist. Es zeigt aber auch, dass die Sozialdemokraten grundsätzlich einen humanitär-integrationspolitischen Fokus haben. Von einer „menschenwürdigen Flüchtlingspolitik“ ist die Rede. Die Leistungen für Asylbewerber sollen erhöht werden, der Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert und das Aufenthaltsgesetz auch ausreisepflichtigen Jugendlichen irgendwann eine Bleibeperspektive bieten. Das war es. Die SPD widmet dem Themenfeld gerade einmal zwei Seiten ihres 120 Seiten starken Programms. Stattdessen ist die Rede von einer Doppelaufgabe, die der Bundesrepublik bevorsteht. Es gelte, „die Schulden unseres Landes abzubauen und gleichzeitig vor allem in Bildung und Infrastruktur zu investieren“. Ein Vorausblick auf das, was noch kommen wird. Wenn es eine migrationspolitische Zeitenwende gibt, dann findet diese im Jahr nach der Wahl statt. 

Jonas Junack

Jonas Junack ist Journalist. An der Universität Leipzig hat er Politikwissenschaften studiert und als Redakteur unter anderem für detektor.fm und das Jacobin Magazin gearbeitet. Heute ist er Volontär bei der Süddeutschen Zeitung.

Das Jahr der Willkommenskultur – und der Schuldenbremse

2014 beantragen etwas mehr als 200 000 Menschen Asyl in Deutschland, der Großteil von ihnen Syrer. Fast doppelt so viele wie im Vorjahr. Während in Aleppo, Damaskus und dem Rest des Landes Bomben fallen, ringt die deutsche Öffentlichkeit und ihre Parteienlandschaft um Positionen zur Migrationspolitik. Die Willkommenskultur wird von BILD und Bundesregierung ausgerufen. In den Kommunen werden Turnhallen und Container zu Unterkünften. Provisorien, die auch zehn Jahre später noch in Benutzung sein werden. Währenddessen vermeldet der Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble stolz die „Schwarze Null“. Die niedrigen Leitzinsen und die gute Konjunktur tragen den Bundeshaushalt, ohne dass neue Schulden aufgenommen werden. 

In den Kommunen kommt von dem Geld jedoch wenig an. Hier sinken die Nettoinvestitionen stetig. Der „kommunale Investitionsstau“ wächst. Schon damals prophezeien Ökonominnen und Ökonomen wie Katja Rietzler, dass dies zu Problemen wie Wachstumsverlusten und maroder Infrastruktur führen werde. Das DIW publiziert eine Studie, die warnt: „Kommunale Infrastruktur fährt auf Verschleiß“. Obwohl die Realinvestitionen im Baugewerbe nach einer fast 15-jährigen Talfahrt wieder steigen und auch mehr Wohnungen gebaut werden, sinkt die Zahl von Sozialwohnungen konstant. 

Im Jahr 2015 steigen die Ankunftszahlen der Asylsuchenden auf fast 500 000. Die Bundestagsfraktion der SPD hält an ihrer Linie fest. Sie schreibt: „Unser Land ist mit der Versorgung der Flüchtlinge und Asylsuchenden gefordert, aber nicht überfordert. Es ist unsere humanitäre Pflicht, Schutzsuchende menschenwürdig aufzunehmen und zu versorgen“. Aber auch innerhalb der SPD registriert man, wie sich entlang der Migrationspolitik erste Risse zwischen Bund und Kommunen auftun. Die Sozialdemokratische Gemeinschaft für Kommunalpolitik fordert, wie viele andere, Entlastungen vom Bund. 

In der Folge wird der Umsatzsteueranteil der Kommunen sukzessive angehoben, das schlägt sich auch in leicht steigenden Realinvestitionen der Kommunen ab 2016 nieder. Aber auch ihr Aufgabenkatalog wächst deutlich, zum Beispiel wegen der Unterbringung und Integration von Geflüchteten. Auf den Straßen der deutschen Großstädte demonstrieren PEGIDA und seine Ableger mit bis zu 20 000 Menschen. Im Kielwasser der rechtsextremen Demonstranten gewinnt die AfD in den Umfragen mehr und mehr Stimmen. Die SPD-Führung ist als Juniorpartner weiter auf Kurs der Bundesregierung. „Wir schaffen das“ ist das Credo und es wird selbst von großen Teilen der Union getragen. Humanitäre Verantwortung und die Mammutaufgabe der Integration stehen im Fokus der Regierungsverantwortlichen. Doch die Union beginnt umzuschwenken, die Begrenzung von Migration wird wichtiger und auch in der SPD knarzt und knackt es. 

Erste Konflikte innerhalb der SPD

Zwei große Konfliktlinien durchkreuzen die SPD, „einmal horizontal, einmal vertikal“, schreiben Journalisten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung damals. Die horizontale Spaltung reiche vom „Studienrat, der sich in der Flüchtlingshilfe engagiert“, bis zum „traditionellen Vertreter der Arbeitnehmerschaft, der sozialpolitische Ängste und kulturelle Vorbehalte“ habe. Die vertikale Linie von der eher unbescholtenen Mitgliederbasis zu den Kommunalpolitikern, die Lösungen für praktische Probleme im Lokalen liefern müssen. Unabhängig von der Richtigkeit dieser Analyse, lassen sich entlang beider Achsen die ökonomischen Grundpfeiler freilegen, mit welchen die Migrationsdebatte in den Folgejahren immer enger verwoben wird: eine Überforderung des Sozialstaats und die wachsenden strukturellen und finanziellen Probleme der Kommunen. 

Die Bundestagswahl 2017 zeigt, dass die Migrationspolitik zum bestimmenden Thema der deutschen Politik geworden ist. Die Umfragen dokumentieren, dass es die Wahlentscheidung der Menschen maßgeblich beeinflusst, für viele ist sie das wichtigste Thema. Trotz innerer Konflikte orientiert sich die SPD weiterhin an einer humanitär-integrationspolitischen Migrationspolitik. Die Sozidaldemokraten sprechen sich im Wahlkampf für eine Wiederaufnahme des Familiennachzugs aus und möchten Abschiebungen erschweren, sofern Menschen länger als zwei Jahre im Land sind. Außerdem positionieren sie sich gegen eine Obergrenze. In ihrer Rede zu einer migrationspolitischen Beschlusssammlung ihrer Partei sagt Malu Dreyer: „Lasst uns gemeinsam dafür kämpfen, dass die einfachen, falschen Antworten der Rechten nicht geglaubt werden.“ Doch die SPD verliert weiter Stimmen, diesmal ist es Martin Schulz, dessen Schädel von den Scheinwerfern im Willy-Brandt-Haus angestrahlt wird, während er seinen Parteigenossen das magere Wahlergebnis verkaufen muss. Auch für ihn ist die Karriere in der Parteispitze beendet. Die SPD geht erneut als Juniorpartner der Union in eine Legislaturperiode. Wahlgewinner ist die AfD. Sie wird aus dem Stand drittgrößte Fraktion. 

Im Zentrum der Wahlkampfdebatten stand der Familiennachzug, obwohl er in der Praxis nur einen kleinen Kreis von Menschen betrifft. Der Sachverständigenrat für Migration und Integration schreibt: „Dieser Widerspruch zwischen der Sache selbst und ihrer politischen Aufladung deutet darauf hin, dass der Familiennachzug zu einer klassischen Stellvertreterfrage geworden ist“. Zwischen den Parteien der linken und rechten Hälfte des Spektrums wird 2017 noch über die großen Linien der Migrationspolitik gestritten. Das humanitär-integrationspolitische und steuerungs-ordnungspolitische Lager, jeweils geführt von SPD und Grünen, sowie Union und AfD, stehen sich gegenüber. Letztere konzentrieren sich auf die Begrenzung von Migration und argumentieren eher technokratisch, während Erstere die Integration in den Blick nehmen und humanistische Grundsätze betonen. Doch dieser Streit endet bald. 

Beginn einer Kehrtwende

Eine wichtige Personalie der zweiten Auflage der Großen Koalition ist Olaf Scholz. Der Hamburger Oberbürgermeister bekommt nach den Koalitionsverhandlungen den Posten des Vizekanzlers und Finanzministers. Als Schatzmeister der Bundesregierung hält er an der Fiskalpolitik seines Vorgängers Wolfgang Schäuble (CDU) fest. Die „Schwarze Null“ ist auch unter Scholz lange oberste Priorität. Gleichzeitig treten massive Investitionsbedarfe zutage. Im Zuge des Wohngipfels 2018 bezeichnet die Bundesregierung die „Wohnungsfrage“ als „zentrale soziale Frage unserer Zeit“. „Die Unterversorgung mit bezahlbarem Wohnraum“, habe sich, „zu einem gesamtstaatlichen Problem entwickelt“, heißt es. Trotzdem nimmt die Zahl von Sozialwohnungen auch in den Folgejahren weiter ab. Um die Kommunen zu entlasten, kämpft der Finanzminister für einen Schuldenschnitt, dafür will er sogar die Schuldenbremse aussetzen. Doch daraus wird nichts, die Union blockiert das Vorhaben. 

Im Sommer 2019 gibt eine Parteischiedskommission dem Parteiausschluss von Thilo Sarrazin statt. Der SPD-Politiker war mehrfach mit Publikationen und Äußerungen aufgefallen, die voller rechtsextremer Inhalte waren. „Bliebe Sarrazin Mitglied der SPD, entstünde nach außen der Eindruck, die SPD böte auch Mitgliedern mit Auffassungen im rechtspopulistischen Spektrum Raum“, heißt es ein Jahr später im Kommuniqué der Partei zum Ausschluss des Politikers. Seine Forderungen seien mit den „Grundwerten der Sozialdemokratie nicht vereinbar“. Trotz dieser Worte beginnt fortan ein migrationspolitischer Turn in der SPD. 

Das ordnungs- und steuerungspolitische Lager setzt sich im Bundestag durch. Auch innerhalb der SPD gewinnen seine Stimmen von nun an Gewicht. Die Große Koalition einigt sich auf die Einführung von Ankerzentren. Orte, an denen Behörden und Wohnräume unter einem Dach sind und Asylverfahren möglichst effizient und ortsgebunden durchgeführt werden sollen. Das Konzept kommt aus dem von Horst Seehofer (CSU) geführten Innenministerium. Aus den Reihen der SPD gibt es noch Kritik. „Nur, um die Zentren zu haben, um Menschen dort zu kasernieren, das wird die SPD sicher sehr kritisch begleiten beziehungsweise nicht mitmachen“, erklärt beispielsweise Eva Högl dem Deutschlandfunk. Trotzdem stehen bald die ersten Ankerzentren in Bayern, Sachsen und dem Saarland. 

Oft wird die Migrationsdebatte in diesen Jahren auf der kulturellen Ebene geführt. „Überfremdung“ und „Willkommenskultur“ sind die Schlagwörter. Das änderte sich. Mit dem Beginn der Coronapandemie lässt sich der Beginn einer Art Ökonomisierung der Debatte erkennen. Grund sind die Krisen, die die Folgejahre prägen. Mit den Lockdowns, die Anfang 2020 in Europa verhängt werden, bricht eine Zeit der ökonomischen Disruptionen an, die weder vom Kabinett Merkel, noch vom Kabinett Scholz aufgefangen werden. 

Die Entlastungen in der Pandemie reichen nicht aus, um beispielsweise die Gastronomie oder den Einzelhandel wieder auf die Beine zu bringen. Der Konsum bricht massiv ein. „Das deutsche Modell hält nicht ewig“, schreibt Alexander Brentler im Sommer 2021 im Jacobin Magazin. Unternehmen und Politik hätten es „verschlafen, das industrielle Modell weiterzuentwickeln“, schreibt er. Darüber hinaus zeichne sich bereits ab, dass von großen Investitionspaketen getriebene Standorte in China oder den USA künftig den internationalen Handel prägen werden, sofern die Bundesregierung nicht ebenfalls auf eine aktivere Wirtschafts- und Industriepolitik umschwenke, um die Krise zu überwinden. Letzteres geschieht nicht. 

Kehrtwende in der Migrationspolitik

Für die SPD sind die Krisenjahre nach 2020 ein Auf und Ab. Mitten in der Pandemie wird sie, bei der Bundestagswahl 2021, nach über zwanzig Jahren erstmals wieder stärkste Kraft. Sie gewinnt sogar mehr als fünf Prozent dazu, auch weil die Union mit Armin Laschet einen bemerkenswert schwachen Kandidaten – und die SPD den bisherigen Vizekanzler – ins Rennen schickt. Olaf Scholz, der 2013 noch am linken Bildrand lauschte, wie Peer Steinbrück die Wahlniederlage bedauerte, ist nun Bundeskanzler. Die Ampelkoalition entsteht. Der Koalitionsvertrag ist mit dem Motto „Mehr Fortschritt wagen“ überschrieben. Doch mit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine und dem Ausbleiben von Gaslieferungen verschlechtert sich im Frühjahr 2022 der Ausblick für die deutsche Industrie erneut. Ohne die günstige Energie aus dem Osten und ein umfassendes Konjunkturpaket macht sich die deutsche Wirtschaft auf den Weg in eine Rezession. 

Auch die finanzielle Situation in den Haushalten spitzt sich weiter zu. Der Konsum, während der Pandemie bereits angeknackst, erreicht nicht wieder das Vorkrisenniveau. Die Inflation frisst die Gehälter, die Reallöhne sinken und die Zinsen steigen. Statt Geld auszugeben, versuchen die Menschen zu sparen, wo sie nur können. Diese Krisenjahre verändern auch die Migrationsdebatte. Während der Pandemie gerät sie erst in den Hintergrund. Doch spätestens 2022 kehrt sie eng verwoben mit den ökonomischen Krisenerfahrungen zurück. Statt über „kulturelle Entfremdung“ wird nun über „Einwanderung in die Sozialsysteme“ oder „überlastete Kommunen“ diskutiert. Die Willkommenskultur der 2010er Jahre erlebt nach der Ankunft tausender ukrainischer Geflüchteter ein kurzes Comeback, stirbt dann jedoch. 

Eine Studie in der Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft untersucht die migrationspolitische Linie der SPD bis 2020 und kommt zum Schluss, dass diese bis dato in erster Linie von parteipolitischen Abwägungen und der Juniorrolle in der Großen Koalition geprägt sei. Die SPD könne originär-sozialdemokratische Positionen nicht vertreten, weil die Union ihr Koalitionspartner ist, so die These. Diese Annahme entpuppt sich als falsch. Auch als Seniorpartner an der Seite von Grünen und FDP kehrt die SPD in migrationspolitischen Fragen nicht zu ihrem humanitär-integrationspolitischen Ansatz der späten 2010er Jahre zurück. Im Gegenteil. Sie rückt auf der ordnungs-steuerpolitischen Linie weiter nach rechts. Hatte SPD-Justizministerin Katarina Barley 2018 noch gewarnt: „Wer ohne Kritik die Sprache der Rechtspopulisten übernimmt, ebnet genau diesen den Weg und betreibt ihre Sache“ steht nun ein Cover des Spiegel als Sinnbild für die neue Migrationspolitik der SPD. Bundeskanzler Olaf Scholz ist darauf abgebildet nebst dem Zitat: „Wir müssen endlich in großem Stil abschieben“ – der Wandel ist vollzogen. Der ZEIT-Journalist Ferdinand Otto schreibt, die SPD habe sich von ihrer „linken Lebenslüge verabschiedet”. 

Auf Einladung von SPD-Innenministerin Nancy Faeser und im Beisein von Olaf Scholz beschließt die Ampel im Oktober 2023 ein Abschiebepaket. Die Behörden erhalten mehr Befugnisse bei der Identitätsfeststellung von Geflüchteten. Ziel ist es, schneller abzuschieben. Zukünftig dürfen die Ermittler Wohnungen nach Datenträgern und Unterlagen durchwühlen. In Gemeinschaftsunterkünften sind sie dabei nicht mehr nur auf das Zimmer des Verdächtigen beschränkt. Außerdem schwelt ein Diskurs über die Frage, ob Geflüchtete Sach- statt Geldleistungen erhalten sollen. Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke, ebenfalls SPD-Politiker, spricht sich dafür aus. Auch die Union als größte Oppositionspartei bringt einen solchen Antrag im Bundestag ein. Wenige Wochen später werden ihre Wünsche erhört. 

Am 6. November findet im Kanzleramt ein Migrationsgipfel von Bund und Ländern statt. Olaf Scholz spricht von einem „historischen Moment“. Ein neues Finanzierungsmodell wird beschlossen. Der Bund zahlt fortan 7500 Euro pro Geflüchtetem an die Länder, statt, wie zuvor, pauschal 3,7 Milliarden. Die Kürzung von Leistungen wird vorangebracht. Außerdem bekommen Schutzsuchende in Zukunft Sachleistungen und Wertgutscheine, sowie eine Bezahlkarte anstelle von Geld. Es lässt sich rechtlich nur schwer oder gar nicht umsetzen, aber die Bundesregierung würde Asylverfahren in Zukunft am liebsten an den EU-Außengrenzen durchführen. Eine Position, für die CSU-Innenminister Horst Seehofer einst von den Sozialdemokraten angefeindet wurde, doch die Ampelparteien, die Union und sogar die AfD sind sich in der Migrationspolitik plötzlich so nah wie nie zuvor. 

Überlastete Kommunen sind ein Problem der Fiskalpolitik, nicht der Migration 

Eine weitverbreitete Erklärung für den steuerungspolitischen Turn der SPD lautet, die Partei wolle AfD und Union nicht das Feld überlassen. Weil beide Parteien mit ihrer migrationskritischen Rhetorik in jüngsten Umfragen und Landtagswahlen Gewinne verzeichneten, sähen sich die Sozialdemokraten gezwungen, nachzuziehen. Auch die Annahme, die SPD orientiere sich strategisch an den dänischen Sozialdemokraten, ist beliebt. Die „Socialdemokraterne“ haben mit einer betont sozialpolitischen und migrationskritischen Politik starke Ergebnisse eingefahren. Allerdings ist umstritten, ob wirklich ihre Migrationspolitik dafür verantwortlich ist. Erfolgsgarant der Partei ist eigentlich das Beharren auf traditionellen sozialdemokratische Positionen, wie die Erhöhung des Mindestlohns, Investitionen in das Gesundheits- und Sozialwesen, sowie der Ausbau von Kindergärten und Schulen, wie Emmanouil Mavrozacharakis in seiner Studie „The Transformation of Social Democracy“ (2022) schreibt. 

Auf der Suche nach einer Erklärung scheint der Blick auf den ökonomischen Kontext etwas vielversprechender. Die starke Wirtschaft, mit Exportüberschüssen, soliden Konsumausgaben und geringe Preissteigerungen, war lange imstande, die Parteien im humanitär-intergrationspolitischen Lager zu festigen. „Unser Wohlstand ist groß, wir können ihn teilen“, so lautete das Narrativ. Die – wenn auch kleinen – finanziellen Spielräume für Entlastungen in den Kommunen, sorgten in den 2010er Jahren dafür, dass sich insbesondere SPD und Grüne als handlungsfähig ausgeben und aus der Suche nach einem Sündenbock – Migranten – heraushalten konnten. Diese Zeiten sind vorbei. 

Dann ist da die Fiskalpolitik der FDP. Die Schuldenbremse gilt unter Finanzminister Christian Lindner als indiskutabel. Sie beschneidet den Handlungsspielraum der Bundesregierung jedoch so weit, dass klassische sozialdemokratische Politik, die einen großen unterstützenden Staat bevorzugt, nahezu unmöglich wird. Die SPD scheint sich zwischen einem großen Sozialstaat und eine humanitären Migrationspolitik positionieren zu müssen. Wissenschaftler nennen dies das „Dilemma der Progressiven“. 1 Eliosa Harris und Friederike Römer schreiben beispielsweise, dass sozialdemokratische Parteien dazu tendieren, sozialpolitische Rechte von Migranten zu beschneiden, wenn der fiskalische Druck steigt. Dies lässt sich auch im Falle der SPD beobachten. Statt die Schuldenbremse anzugreifen und damit einen Bruch der Ampelkoalition zu riskieren, nimmt sie die kostengünstigeren Politikvorschläge rechter Parteien auf. Und statt auf den Investitionsbedarf in den Kommunen oder den sozialen Wohnungsbau hinzuweisen, strebt sie eine Reduktion der Zahl von Geflüchteten an. So soll der Druck aus den Kommunen entweichen, obwohl nur gerade einmal etwa 20 000 Menschen nach geltendem Recht abgeschoben werden dürfen und weniger Geflüchtete keinen Cent mehr Geld in die Kommunen spülen. 

Wieder haben wir es mit einer Stellvertreterdebatte zu tun, nur hat sie diesmal, anders als die Debatte um den Familiennachzug 2018/19 keine spaltende, sondern eine einende Wirkung innerhalb der Parteienlandschaft. Betrachtet man die Diskussionen um die Landtagswahlen in Bayern und Hessen im Oktober 2023, kann man, in Fragen von Migration und Asyl, eine Einigkeit unter den Parteien erkennen, die so zuvor selten herrschte. Die Versäumnisse bei der Finanzierung von Kommunen und Wohnraum haben zudem eine lange Vorgeschichte, Ökonomen und Ökonominnen warnen nicht erst seit 2014 vor dem Verschleiß. 

Die Verquickung der Migrationsdebatte mit den ökonomischen Problemlagen ist abgeschlossen und eine Abkehr von der lähmenden Macht der Schuldenbremse scheint angesichts der politischen Machtverhältnisse – auch jener innerhalb der SPD – unwahrscheinlich. Zwar schlug Parteichefin Saskia Esken kürzlich in der Rheinischen Post vor, die Schuldenbremse auszusetzen und die Berliner Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe pflichtete ihr, mit Blick auf die „Flüchtlingsnotlage“ bei. Auch der SPD-Spitzenkandidat von 2013 und einstige Architekt der Schuldenbremse, Peer Steinbrück, kommentiert im Spätsommer 2023 im Tagesspiegel, die Schuldenbremse sei „bei unserer schlechten Infrastruktur nicht durchzuhalten“. Doch der Bundeskanzler gilt weiterhin als Verfechter eines sparsamen Staates. 

Die Strukturmängel der Bundesrepublik, der Mangel an bezahlbarem Wohnungen, ebenso wie die Überlastung von Lehrkräften oder die leeren Kassen der Kommunen werden nicht fiskal- und wirtschaftspolitischen Versäumnissen, sondern der Migrationspolitik angelastet. Hinzu kommt der nahezu vollständige Verlust des humanitär-integrationspolitischen Lagers im Bundestag. Man ist an Mark Fishers „Kapitalistischen Realismus“ erinnert, wenn der ZEIT-Journalist Ferdinand Otto schreibt, man könne „aus einer Wohnung nicht zehn und aus einem Lehrer nicht 20 machen“ und müsse diesen Fakt, „bei der Einwanderungspolitik“ mitbedenken. Die Erinnerung daran, dass Politik gestalten kann, scheint mancherorts bereits zu verblassen. 

Der kommende Bundeshaushalt mit seinen umfassenden Einsparungen deutet darauf hin, dass die strukturellen Probleme in Bälde eher größer als kleiner werden. Das sind finstere Aussichten für alle. Für die SPD, weil sie Tag für Tag an Zustimmung verliert und in Umfragen mittlerweile auf 15 Prozent abgesackt ist, während sie wie gelähmt scheint, angesichts der Blockadehaltung des Finanzministers. Für Bürgerinnen und Bürger, die ihrer Kommune beim Verfall zuschauen müssen. Vor allem aber für jene, die Schutz suchen in diesem Land und nun den Kopf hinhalten müssen, für jedes Schlagloch, das Chaos auf dem Wohnungsmarkt oder das nächste geschlossene Schwimmbad.