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Mit Power-Point zum demokratischen Sozialismus?

Den Anfang machte Alexandria Ocasio-Cortez vor vier Jahren: Seitdem kommen immer mehr junge, linke Kandidat*innen in den USA in die Politik. Eine entscheidende Rolle spielen dabei Gruppen wie »Brand New Congress« und »Justice Democrats«, so auch bei den diesjährigen Midterms. Ob sich die Demokratische Partei auf diese Weise wandeln lässt, bleibt aber weiterhin fraglich.

»Grausamer Optimismus«, schrieb die Kulturtheoretikerin Lauren Berlant, liegt dann vor, »wenn etwas, das man begehrt, in Wirklichkeit ein Hindernis für das eigene Wohlergehen ist«. Man könne diese Dynamik in ganz verschiedenen Lebensbereichen beobachten, so Berlant, in persönlichen Beziehungen beispielsweise, bei der Arbeit, in Alltagssituationen oder in der Politik. Wir jagen »unerfüllbaren Fantasien des guten Lebens« nach, führte Berlant aus, und untergraben schon durch unseren Ansatz, gefangen in Gewohnheiten, die eigenen Ziele.

Politik kann sich wie grausamer Optimismus anfühlen. Man wählt Partei X, weil man sich wünscht, dass sie sich nach Jahrzehnten der Stagnation oder Regression doch erneuern kann. Man unterstützt Reform Y, weil man hofft, dass sich dadurch ein grundlegender Umbruch vermeiden lässt. Man wartet darauf, dass bestimmte Institutionen ihren selbstgefassten Ansprüchen nachkommen, obwohl diese Ansprüche eigentlich immer nur theoretisch geblieben sind. Sich den gesellschaftlichen und politischen, aber auch den eigenen Mustern zu entziehen, ist schwer; neue zu entwickeln noch schwerer. Dabei ist genau das, Beispiel Klimawandel, oft die Voraussetzung für – beziehungsweise die einzige Chance auf – wirklichen Fortschritt.

Teile der amerikanischen Linken haben sich einem Projekt verschrieben, bei dem es nicht schwerfällt, eine Art von grausamen Optimismus zu erkennen. Es geht bei diesem Projekt darum, die Demokratischen Partei von außen und innen zu reformieren, um aus ihr so etwas wie eine linke Partei zu machen. Grausam könnte der Optimismus in dem Fall sein, weil das Vorhaben auf so viele mächtige Gegenkräfte stößt, dass ein Verschieben dieser Partei nur bis zu einem bestimmten Punkt möglich scheint und die Mühen eventuell schon bald ins Leere laufen. Statt auf Führungskräfte wie Nancy Pelosi und Chuck Schumer einzuwirken, so die Warnung, sollte man sich besser radikalen Projekten widmen, bei denen Kapitalinteressen nicht von vornherein die Grenzen des Möglichen markieren. 

Lukas Hermsmeier

Lukas Hermsmeier, geboren 1988 in Berlin, lebt seit 2014 in New York und arbeitet dort als freier Journalist und Autor. Er schreibt unter anderem für »Zeit Online«, die »Taz« und »Die Wochenzeitung« über amerikanische Politik und Kultur, mit Fokus auf linke Bewegungen. Foto: Antonia Polkehn

Andererseits aber, und daraus speist sich die Hoffnung, hat der Druck in den vergangenen Jahren deutliche Spuren im Programm der Partei hinterlassen, sodass man bislang kaum pauschal von verschwendeter Energie sprechen kann. Solange sich die Demokratische Partei wandeln lässt, bleibt wohl gar nichts anderes übrig, als es zu versuchen. Die Frage ist, wie man es versucht.


Saikat Chakrabarti, Alexandra Rojas, Corbin Trent und Zack Exley lernten sich durch den ersten Wahlkampf von Bernie Sanders im Jahr 2015 kennen. Vier Menschen aus unterschiedlichen Winkeln des Landes, mit verschiedenen Wegen in den Aktivismus, verbunden durch ein Verständnis dafür, dass es Zeit für einen politischen und wirtschaftlichen Wandel ist. Als sich im Frühjahr 2016 anbahnte, dass Sanders’ Kandidatur scheitern würde, überlegten die vier, wie es weitergeht. Innerhalb von wenigen Wochen kam die Idee auf, politischen Talenten aus der Bevölkerung den Weg ins Parlament zu bahnen. »Außergewöhnlich gewöhnliche Menschen« wollten sie finden, um die von Sanders verfolgte Agenda durchzusetzen. Die Organisation Brand New Congress war geboren. 

Das ambitionierte bis größenwahnsinnige Ziel bestand zunächst darin, bei den anstehenden Midterms-Wahlen 2018 für alle 435 Kongresswahlbezirke eine*n Herausforder*in zu suchen. Bedingung war, dass die Kandidat*innen – ob Demokraten, Republikaner oder Unabhängige – eine staatliche Krankenversicherung und einen menschenwürdigen Mindestlohn unterstützten sowie den Einfluss des Geldes auf die Politik zu minimieren bereit sind. Gesucht wurden Sozialarbeiterinnen, Ingenieure, Musikerinnen, Pflichtverteidiger – wer auch immer Politik neu gestalten wollte und sich im besten Fall in ihrer oder seiner Community bereits als Führungskraft bewiesen hatte. 

Die vier Gründer*innen von Brand New Congress griffen auf ihre persönlichen Kontakte und die Organizing-Infrastruktur aus der Sanders-Kampagne zurück, zogen monatelang von Stadt zu Stadt, um Menschen davon zu überzeugen, sich selbst oder ihre Bekannten zu nominieren. Rund 12 000 Bewerbungen landeten so bei ihnen, wesentlich mehr als erwartet. Ein Großteil dieser Bewerbungen kam jedoch aus verschiedenen Gründen nicht infrage. Statt 435 Kandidat*innen waren es am Ende nur 30, bei denen sich die Organisation für ein offizielles endorsement und damit für eine Begleitung im Wahlkampf entschied. Von diesen 30 Kandidat*innen zog genau eine einzige im Januar 2019 in den Kongress: Alexandria Ocasio-Cortez. 

Der Erfolg von Ocasio-Cortez bewies, dass sich die Mühe lohnen kann, wenn man eine Außenseiterin gezielt unterstützt. Offensichtlich wurde allerdings auch, dass sich diese Art des Wahlkampfes mit den bisherigen Kapazitäten nur bei einer sehr begrenzten Zahl von Kandidat*innen durchführen lässt. Bereits im Laufe des Jahres 2017 bastelten Chakrabarti, Rojas, Trent und Exley deshalb an einer neuen Organisation, die mit realistischeren Zielen und ausgereifterem Plan linke Gegenkräfte fördern wollte. Zusammen mit Cenk Uygur und Kyle Kulinski, zwei Moderatoren der YouTube-Show The Young Turks, entwickelten sie eine frische Marke: die Justice Democrats. Der Fokus lag von nun an auf Wahlbezirken, in  denen die Demokratische Partei die sichere Oberhand hat, wo also keine Gefahr besteht, dass die Republikaner von einem Binnenkonflikt bei den Democrats profitieren könnten – Bezirke, in denen es sich aber lohnt, den oder die Amtsinhaber*in in den Vorwahlen herauszufordern. Insgesamt zehn Politiker*innen haben es bislang durch die Hilfe der Justice Democrats in den Kongress geschafft. 

Auch für die nun anstehenden Halbzeitwahlen 2022 zeichnen sich Erfolge ab: In Pennsylvania gewann die linke Kandidatin Summer Lee, unterstützt von den Justice Democrats, im Mai die Vorwahlen. Die 34-Jährige wird nun mit großer Wahrscheinlichkeit die Hauptwahlen gewinnen und im Januar 2023 ins Repräsentantenhaus in Washington ziehen. Gute Chancen hat auch Greg Casar, der im 35. Wahlbezirk von Texas antritt. Als Mitglied des Stadtrates von Austin war der 33-jährige Casar durch seinen Einsatz für Arbeiterinnen- und Mieterrechte aufgefallen. Mit der 39-jährigen Delia Ramirez aus Chicago tritt eine Kandidatin an, die sowohl Erfahrung im Parlament von Illinois als auch als Housing-Aktivistin hat. Und dann wäre da noch Maxwell Frost, 25 Jahre alt und ehemaliger Uber-Fahrer, der im Januar als jüngster Kongressabgeordneter aller Zeiten in die Geschichte eingehen könnte. Frost, der in den vergangenen Jahren als Direktor der Organisation »March for Our Lives« gegen Waffengewalt gekämpft hat, tritt in Florida an: nicht die einfachste Umgebung für einen progressiven Politiker also. Umso wichtiger war es für Frost, genau wie für die anderen genannten Kandidat*innen, dass Justice Democrats und Brand New Kongress sie von Anfang an unterstützt haben, und zwar auf jeder Ebene: strategisch, finanziell und auf der Straße.


Brand New Congress und Justice Democrats sind die Wegbereiter einer neuen progressiven Maschinerie, die sich rund um die Demokratische Partei entwickelt hat. Von der Suche nach Kandidat*innen über die Durchführung der Wahlkämpfe bis zur parlamentarischen Arbeit ist mittlerweile jeder Schritt abgedeckt. Die Plattformen Way to Win und Left Rising beispielsweise kümmern sich um die Finanzierung der Kampagnen durch Crowdfunding. Als Beratungsfirma für progressive Projekte fungiert New Deal Strategies, gegründet von der bekannten Strategin Rebecca Katz. Der Think Tank New Consensus konzentriert sich darauf, Ideen wie den Green New Deal in Gesetzestexte zu übersetzen. Eine übergeordnete Funktion nehmen die Inkubatoren Momentum und Movement School ein, durch die Aktivistinnen und Organizer ausgebildet werden. Politische Nachwuchskräfte bekommen hier die Werkzeuge mit, um dezentrale Bewegungen zu gestalten. Die Organizerinnen Kandace Montgomery und Varshini Prakash sagten mir, wie wichtig Momentum für die Entwicklung ihrer Organisationen gewesen sei. Über 1500 junge Menschen in mehr als 30 Bundesstaaten haben in den ersten fünf Jahren diese Schule durchlaufen. Finanziert werden die genannten Organisationen hauptsächlich durch Spenden. 

Seitdem Gruppen wie Justice Democrats und Brand New Congress sich systematisch in Wahlkämpfe einmischen, oft in Zusammenarbeit mit den Ortsgruppen von Sunrise Movement und den Democratic Socialists of America, hat sich der Druck auf moderate bis konservative Abgeordnete deutlich erhöht. Es sei eine Sache, Politiker*innen um eine progressive Agenda zu bitten, erklärt Alexandra Rojas, Geschäftsführerin der Justice Democrats. Es sei eine andere Sache zu sagen: »Wenn du deinen Job behalten willst, solltest du das und das tun.«

Der New Yorker spricht von der »PowerPoint-Linken«. Was die Wahlen betrifft, werden Kandidat*innen nicht nach Gefühl ausgesucht, sondern auf Basis bisheriger Ergebnisse und Studien. Zum Ausdruck kommt durch diesen Begriff auch, dass die neue progressive Maschinerie mindestens so pragmatisch wie idealistisch ausgerichtet ist. Wo es noch keine Mehrheiten gibt, wird sich mit radikalen Forderungen zurückgehalten. Wo wenig Chancen auf eine erfolgreiche Kampagne bestehen, sollen auch keine Ressourcen verschenkt werden. 

Dass das System längst noch nicht verfeinert ist, wurde im Sommer 2021 deutlich, als die Sanders-Vertraute Nina Turner, hinter der ein großes Netzwerk progressiver Gruppen stand, in der Kongresswahl für Ohio ihrer moderaten Konkurrentin Shontel Brown unterlag. Während Turner die urbanen Bezirke der Schwarzen Arbeiter*innenklasse knapp gewann, verlor sie die weißen Vorstädte zu deutlich. Die Niederlage war ein Rückschlag für die Linke. Und es war eine Erinnerung daran, wie viel Macht weiterhin vom konzernnahen Establishment der Demokrat*innen ausgeht. Brown profitierte wesentlich davon, dass sich namhafte Figuren wie Hillary Clinton und Jim Clyburn sowie zahlreiche Lobbyorganisationen auf ihre Seite gestellt hatten. Am Ende konnte Turners Kampagne jedoch auch einfach zu wenige Menschen mobilisieren, die an die Realisierungsmöglichkeit ihrer Versprechen glaubten. 

Die Niederlage von Turner zeigte, welche Bedeutung Geld und alte Machtverbindungen im Richtungskampf der Demokratischen Partei spielen. Wer Kandidat*innen der Mitte von links herausfordert, muss deshalb nicht nur mehr Einzelspender*innen finden. Es geht umso mehr auch um die Frage, wie man das eigene Programm erzählt und verkauft. Mit welchen Themen gewinnt man? Was für Formulierungen sind zu vermeiden? Wie lässt sich ein politischer Wandel mit Durchsetzungsperspektive verbinden? 

Der Think Tank Data for Progress, 2018 durch den Aktivisten Sean McElwee gegründet, hat auf diesem Feld eine entscheidende Rolle eingenommen. Data for Progress führt Umfragen zu progressiven Gesetzesvorschlägen durch, belässt es aber nicht bei der Veröffentlichung der Ergebnisse, sondern ordnet diese im Detail ein, oft verbunden mit konkreten Vorschlägen, was die Ausarbeitung und Kommunikation der entsprechenden Ideen angeht. Für politische Entscheidungsträger, Journalistinnen, Aktivisten und Politologinnen sind die Studien zu einer belastbaren Analysegrundlage geworden. Sogar im Weißen Haus kommt die Arbeit von Data for Progress an. Präsident Biden beziehe sich auf die Organisation in persönlichen Gesprächen, heißt es. 

Die Ergebnisse von Data for Progress sind immer wieder erstaunlich. Eine staatliche Arbeitsplatzgarantie? Befürworten 64 Prozent der Gesamtbefragten. Ein Erlass aller Studiumsschulden? Wollen 61 Prozent der Demokraten. Für eine Streichung von 50000 Dollar pro Person gibt es sogar parteiübergreifende Unterstützung. Eine Vermögensteuer für Multimillionäre? Längst Mehrheitswillen der amerikanischen Bevölkerung.

Von Bedeutung für die parlamentarische Linke ist Data for Progress aber nicht dadurch, dass passende Ergebnisse produziert werden – in der Methodik sind sie so seriös wie andere Umfrageinstitute. Ein Alleinstellungsmerkmal hat Data for Progress, weil sie bestimmte Fragen an die Menschen richten, die sonst selten gestellt werden. Über die Jahre ist dadurch ein detailliertes Meinungsbild entstanden, das zeigt, dass die Amerikaner*innen – an einigen Punkten inklusive der republikanischen Wähler*innen – eine progressivere Politik wollen, als ihnen die zwei großen Parteien anbieten. Diese Erkenntnis ist einerseits deprimierend, da sie die Diskrepanz zwischen den elitären Strukturen und der Bevölkerung offenbart, in ihr steckt zugleich aber auch das Potenzial eines Aufbruchs. Linke Politik scheitert in erster Linie nicht an der Rückständigkeit der vielen, auch, wenn das Politiker*innen der Mitte gerne als Schutzbehauptung vorbringen, sondern am Unwillen der wenigen. Andersrum wäre es komplizierter. 


Was aber bedeutet das für linke Politik? Während die Umfragen von Data for Progress die Popularität vieler vermeintlich radikaler Forderungen bestätigen, wäre es trostlos, sich nur an gegenwärtig beliebten Punkten zu orientieren. Für Dinge kämpfen, die erst Jahre oder Jahrzehnte später mehrheitsfähig sein könnten – ist das nicht ein Wesen linker Politik? Die wachsende Professionalisierung und Routinisierung der progressiven Maschine rund um die Demokratische Partei birgt deshalb ein Risiko. Wenn nur noch die Reformen angeschoben werden, mit denen man auf der sicheren Seite steht, und nur noch die Kandidat*innen unterstützt werden, die sofortige Chancen auf einen Sieg haben, dann wird transformative Energie fast zwangsläufig gedrosselt. Mit anderen Worten: Mehrheiten für einen Wandel findet man nicht, man schafft sie. 

Dieser Text stammt aus Lukas Hermsmeiers Buch „Uprising – Amerikas neue Linke“ (Klett-Cotta-Verlag, Februar 2022) und wurde vom Autor für die Midterms aktualisiert.