Philipp Lenhard: „Man wollte die Marxsche Kapitalismuskritik an die neue Situation anpassen“
Der Historiker Philipp Lenhard hat ein neues Buch über die Geschichte des Instituts für Sozialforschung geschrieben: »Café Marx«. Otmar Tibes hat mit ihm über die Anfänge des Instituts sowie über dessen Verhältnis zum Marxismus und die Entstehung der »Dialektik der Aufklärung« gesprochen.
Herr Lenhard, vor hundert Jahren ist das Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main eröffnet worden. Wie ist es zu seiner Gründung gekommen?
Die Institutsgründung verdankte sich einer Verkettung unwahrscheinlicher Zufälle, und genau das macht sie in der historischen Rückschau auch so einzigartig. Der junge deutsch-argentinische Kommunist Felix Weil wollte nach dem Ersten Weltkrieg mit seinen Freunden Max Horkheimer und Friedrich Pollock, die er aus dem Studium kannte, ein marxistisches Institut eröffnen, weil Marx an den Universitäten nicht gelehrt wurde. Davon träumten sicher viele, aber nur Weil hatte als zukünftiger Erbe des milliardenschweren Weizenimperiums seines Vaters auch die finanziellen Mittel dazu. Das viele Geld hätte aber nicht ausgereicht, wenn Weil, der selbst höchst geschickt agierte, nicht zahlreiche Unterstützer gehabt hätte – da war zunächst der Kieler Soziologe Kurt Albert Gerlach, ein anarchistischer Schüler von Ferdinand Tönnies, der als Gründungsdirektor vorgesehen war und die erste programmatische Denkschrift des Instituts in Gründung verfasste; da waren aber auch die Unterstützer in der Frankfurter Universität und auch auf politischer Ebene, allen voran der Preußische Kultusminister Konrad Haenisch, ein Sozialdemokrat, und der Ministerialbeamte Erich Wende, der der Zentrumspartei nahestand. Alles in allem also eine ziemlich bizarre Gemengelage und man ist eigentlich erstaunt, dass Felix Weils Idee wirklich am Ende erfolgreich umgesetzt werden konnte.
Finanziell war das Institut auf Hermann Weil, dem Vater von Felix Weil, angewiesen. Warum hat dieser sich dazu bereit erklärt, ein marxistisches Forschungsinstitut zu finanzieren?
Sicherlich geht diese Entscheidung auf die Initiative seines Sohnes zurück. Auf der anderen Seite gab es in Frankfurt eine lange Tradition des Mäzenatentums. Hermann Weil war Teil davon, er spendete an zahlreiche Einrichtungen, unter anderem an die gewerkschaftsnahe Akademie der Arbeit. Politisch sympathisierte er nach dem Krieg wohl am ehesten mit dem liberalen Flügel der Sozialdemokratie. In der Forschung wurden auch andere persönliche Motive diskutiert, etwa ein Schielen auf die Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Frankfurter Universität. Weil war zudem über den wachsenden Antisemitismus in Deutschland besorgt, vor allem nach der Ermordung Walther Rathenaus im Juni 1922. Das Attentat ging der Gründungsphase des Instituts unmittelbar voraus und die Tatsache, dass das Institut laut Gerlachs Denkschrift neben der Erforschung der Sozialgeschichte auch zur Aufklärung über den Antisemitismus beitragen wollte, dürfte ein zusätzlicher Ansporn gewesen sein.
Philipp Lenhard
Wer übernahm nach der Gründung die Leitung des Instituts?
Nach dem überraschenden Tod von Gerlach wurde zunächst händeringend nach einem geeigneten Ersatz gesucht. Die Wahl fiel schließlich auf den sich damals bereits im Rentenalter befindlichen österreichischen Sozialhistoriker Carl Grünberg. Er war ein anerkannter Forscher, Herausgeber einer renommierten Fachzeitschrift und gilt als Vater des Austromarxismus. Unter seinen Schülern sind Karl Renner, Rudolf Hilferding und Otto Bauer. Trotz dieses ausgezeichneten Rufes kam es zu Verstimmungen in der Fakultät der Universität Frankfurt, als sich Grünberg in der Eröffnungsrede unmissverständlich zum Marxismus als politischer Anschauung und wissenschaftlicher Forschungsmethode bekannte. Dass das Institut ein »Café Marx« sein würde, also eine marxistische Forschungsstelle, war nun nicht mehr zu leugnen.
Inwiefern sollte das Institut »marxistisch« und auch »undogmatisch« sein?
Die Bezeichnung »undogmatisch« ist vor allem eine nachträgliche Zuschreibung. Wenn Sie an Georg Lukács‘ Essay »Was ist orthodoxer Marxismus?« denken, dann sehen Sie, dass es dieser Generation junger, akademisch gebildeter Kommunisten durchaus darum ging, den richtigen Marxismus zu vertreten. Lukács war kein Institutsmitarbeiter, aber sein Werk übte großen Einfluss auf die dortigen Diskussionen aus. Als Teilnehmer der von Felix Weil, Richard Sorge und Karl Korsch an Pfingsten 1923 organisierten »Ersten Marxistischen Arbeitswoche« (EMA) war er auch persönlich mit mehreren Institutsmitarbeitern verbunden. Der von diesem Kreis als Scheitern empfundene Ausgang der Novemberrevolution warf die Frage auf, ob die marxistische Geschichtsphilosophie der Arbeiterbewegung ein Irrtum gewesen war. Man wollte nun zurück zu den Quellen, um die Marxsche Kritik des Kapitalismus zu rekonstruieren und an die neue Situation anzupassen. Einerseits also Bergung und Sichtung des historischen Erbes der Arbeiterbewegung, andererseits der Blick auf die Veränderbarkeit der Gegenwart. Dafür brauchte man ein eigenes Institut.
Die »Erste Marxistische Arbeitswoche« ist auch als »erstes Theorieseminar der Frankfurter Schule« bezeichnet worden. Liegen die Wurzeln des Instituts in der EMA?
Diese Formulierung, die glaube ich von dem sehr verdienstvollen Korsch-Herausgeber Michael Buckmiller stammt, würde ich mir nicht zueigen machen. Zum einen gab es 1923 noch nichts, was man mit Fug »Frankfurter Schule« hätte nennen können, zum anderen war die EMA auch kein offizielles Seminar des Instituts. Zahlreiche Mitarbeiter des Instituts aus den Anfangsjahren haben an der Tagung teilgenommen, etwa Friedrich Pollock, Richard Sorge, Rose und Karl August Wittfogel, aber es gab eben auch andere Teilnehmer, die mit dem Institut unmittelbar nichts zu tun hatten – neben dem bereits erwähnten Georg Lukács waren das zum Beispiel die Feuilletonchefin der Roten Fahne, Gertrud Alexander, Clara Zetkins Sohn Konstantin, der einstige Liebhaber Rosa Luxemburgs, oder auch Margarete Lissauer, eine expressionistische Schriftstellerin und Frauenrechtlerin. Was alle Teilnehmer miteinander gemein hatten, war ihr Interesse an marxistischer Theorie und ihre Nähe zu einer Kommunistischen Partei.
Wie eng war das Institut mit der KPD verknüpft?
Enger als Pollock und Horkheimer später zugeben würden. Sie waren zwar beide ebenso wenig Parteimitglieder wie Felix Weil oder Carl Grünberg, aber die Beziehungen waren trotzdem sehr eng. Besonders auf der Ebene der Mitarbeiter und Doktoranden gab es zahlreiche personelle Verflechtungen. Und eines der Gründungsmitglieder der »Gesellschaft für Sozialforschung«, der Kulturwissenschaftler Eduard Fuchs, war sogar Mitbegründer des Spartakusbundes und der KPD. Fuchs war es auch, der im Einvernehmen mit Pollock und Weil eine Dependance des Instituts in Berlin aufbaute, das sogenannte »Sozialwissenschaftliche Archiv«. Fuchs kaufte zu rein wissenschaftlichen Zwecken einen Teil des KPD-Parteiarchivs an und verpflichtete sich im Gegenzug, einige Parteimitglieder als Bibliothekare anzustellen. Dadurch geriet das Institut ins Visier der Behörden, das Archiv wurde polizeilich durchsucht und das Personal aufgrund vermeintlich illegaler Tätigkeiten inhaftiert. Pollock zog die Notbremse und ließ das Sozialwissenschaftliche Archiv darauf schließen, aber das »Café Marx« war nun aktenkundig. Dieser und einige andere Vorfälle führten dazu, dass besonders unter Horkheimers Leitung später eine knallharte Linie durchgesetzt wurde, wonach parteipolitische und wissenschaftliche Tätigkeiten strikt auseinandergehalten werden mussten.
Mitte der Zwanzigerjahre begann das Institut sich von der kommunistischen Bewegung und der KPD zu distanzieren. Hat auch eine Distanzierung vom Marxismus stattgefunden?
Das hatte weniger mit einem Wandel des politischen Bewusstseins als vielmehr mit den Entwicklungen in der kommunistischen Bewegung zu tun. Die KPD-Tradition war die Rosa Luxemburgs und ihr waren auch Weil, Horkheimer und einige andere verbunden. Je mehr die Bolschewiki zur dominanten Kraft in der Komintern wurden und auch die KPD nach ihrem Vorbild umgestalteten, desto mehr wurde auch der »Luxemburgismus« marginalisiert – und dann, unter Stalin, ja auch verfolgt. Es gab am Institut bis zur Emigration einige straffe Leninisten, aber eben auch jene, die als »Rechte«, »Versöhnler«, »Trotzkisten« oder »Ultralinke« – je nach ideologischem Schwenk und sowjetischem Interesse – aus der Partei ausgeschlossen wurden. Das Institut fungierte als Sammelbecken aller linken Strömungen in der Weimarer Republik.
Am Ende ließ sich dieser Pluralismus aber nicht durchhalten. Von den vielen sowjetischen Kooperationspartnern des Instituts sind im Zuge der stalinistischen Säuberungen etliche ermordet worden, allen voran der Direktor des Moskauer Marx-Engels-Instituts (MEI), Dawid Rjasanow. Er wurde 1931 als angeblicher »menschewistischer Verschwörer« verhaftet und ins Strafexil nach Saratow deportiert. Anfang 1938 wurde er dann in einem Schnellprozess als vermeintlicher »Rechts-Trotzkist« zum Tode verurteilt und erschossen. Ähnlich erging es auch deutschen Mitarbeitern des MEI, die auf Vermittlung des Frankfurter Instituts nach Moskau gekommen waren – sei es der Historiker Karl Schmückle, der Ökonom Kurt Nixdorf oder der Anglist Walter Haenisch (übrigens der Sohn des SPD-Kultusministers): Sie alle wurden 1937 oder 1938 von Stalins Schergen ermordet. Es ist schon wichtig, diese Geschichten im Hinterkopf zu behalten, wenn man über das Verhältnis des Instituts zum Marxismus spricht. Trotzdem bedeutete die Ablösung von der kommunistischen Bewegung und besonders von der Sowjetunion keine Abkehr vom Marxismus – schließlich teilte die Institutsführung die Marxdeutungen der zweiten und dritten Internationale ja ohnehin nicht.
Aber fand nicht unter der Leitung von Horkheimer doch ein Paradigmenwechsel am Institut statt?
Ja, ganz eindeutig, aber nicht im Sinne einer Abkehr vom Marxismus. Hatte der Schwerpunkt unter Grünberg noch auf der historischen Forschung gelegen, so kam Horkheimer von der Philosophie und Psychologie her. Was ihn vor allem auszeichnete, waren seine Fähigkeiten zur Synthese. Horkheimer regte an, die Forschung interdisziplinär zu gestalten, allerdings unter Anleitung einer Philosophie, die er »Materialismus« nannte – eine Mischung aus Marx, Kant, Schopenhauer und Freud, grob gesagt. Man kann sehr genau erkennen, dass Horkheimer auch neue Leute anzog. Er brachte das Psychoanalytische Institut im Institutsgebäude unter und stellte Erich Fromm als Leiter einer neuen psychoanalytischen Abteilung an. Der spätere Literatursoziologe Leo Löwenthal, der schon seit 1925 am Institut war, wurde nun zu einem der wichtigsten Mitarbeiter. Und auch Theodor W. Adorno, der sich mit Horkheimer und Pollock angefreundet hatte, näherte sich dem Institut an. Es kamen also neue Felder dazu, Literaturwissenschaft, Musiktheorie, Psychoanalyse usw.
Nach der Weltwirtschaftskrise begann der Nationalsozialismus in Deutschland zu erstarken. Auch Arbeiter schlossen sich diesem an. Wie positionierte sich das Institut in den frühen Dreißgerjahren zur Arbeiterbewegung?
Es gab da eine große Distanz, würde ich sagen. Das hatte zum einen biographische Gründe, denn die meisten Institutsmitarbeiter hatten einen bürgerlichen Hintergrund. Entscheidender ist aber der theoretische Aspekt. Horkheimers Materialismus war eigentlich ein Marxismus, dem das Proletariat als revolutionäres Subjekt abhanden gekommen war.
War diese Kritik am Proletariat nicht eine Abkehr vom Marxismus?
Vom Marxismus der Arbeiterbewegung sicherlich, aber nicht von Karl Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie. Im »Kapital« bezeichnet Marx die Ware Arbeitskraft als »variables Kapital«, also als einen Bestandteil des Kapitals selbst. So fern liegt der Gedanke nicht, dass auch die Eigentümer dieser Ware, nämlich die Arbeiter, gewissermaßen ins Kapital integriert werden können. Horkheimer sah diese Integration der Arbeiter ganz luxemburgianisch im Reformismus der SPD, die den Kapitalismus nicht mehr abschaffen, sondern nur noch verbessern wollte. Aber natürlich gilt dies umso mehr für die Volksgemeinschaftskonzepte der extremen Rechten, bis hin zur NSDAP. Hilde Weiss, Erich Fromm und einige andere Institutsmitarbeiter hatten durch empirische Erhebungen herausgefunden, dass ein beträchtlicher Teil der Arbeiter und Angestellten autoritäre Einstellungen hegte. Insofern war der Horkheimer-Kreis 1933 wenig erstaunt darüber, dass auch ein beträchtlicher Teil der unorganisierten Arbeiterschaft zu den Nazis überlief.
1933 haben die Nazis das Institut geschlossen und das Gebäude beschlagnahmt. Still und leise hatte man vorher das Stiftungsvermögen ins Ausland gebracht und vor den Nazis versteckt. Über Genf war man dann nach New York emigriert. Warum verließ man Genf und wie ging es danach weiter?
Besonders Horkheimer hatte in dieser Situation den richtigen politischen Instinkt, vielleicht auch weil er von klein auf eher ängstlich und pessimistisch war. 1933 rettete dieser Charakterzug ihm und vielen seiner Kollegen, die ja größtenteils Juden waren, das Leben. Neben dieser leisen Ahnung gingen auch alltägliche Erfahrungen und auch die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Forschung in die Entscheidung ein, schon vor Hitlers Machtübernahme ein Exil vorzubereiten. Was den Gang ins Exil selbst anbelangt, so muss auch über andere Personen gesprochen werden, etwa über Pollock, der den Kontakt zur Internationalen Arbeitsorganisation in Genf herstellte, und besonders über Felix Weil, der zusammen mit seinem Finanzverwalter Erich A. Nadel und einigen anderen das Geld in die Niederlande schaffte und dem Zugriff der Nazis entzog. In Genf führte das Institut dann vor allem die erste interdisziplinäre Kollektivstudie unter Horkheimers Leitung durch, das Großprojekt über »Autorität und Familie«. Die Genfer Filiale blieb auch danach lange Zeit der Dreh- und Angelpunkt für die europäischen Geschäfte des Instituts, aber das Kernteam versuchte schon wenige Monate nach der Ankunft in der Schweiz, eine Emigration in die USA vorzubereiten. Das hatte zum einen mit Visaschwierigkeiten zu tun, vor allem aber mit der Befürchtung, auch die Schweiz könnte faschistisch werden. Das ist glücklicherweise nicht passiert, sodass beispielsweise Horkheimers Eltern im Schweizer Exil den Holocaust überleben konnten.
Die nationalsozialistische Judenverfolgung betraf auch Familienangehörige und Freunde der Institutsmitglieder. Wie gingen diese damit um?
Das Institut unterstützte dutzende, vielleicht sogar hunderte Emigranten mit kleineren oder größeren Zuwendungen, half bei Affidavits und stellte Kontakte zu Hilfsorganisationen her. Die institutionelle und die private Ebene verschwamm hier häufig, weil Bürgschaften natürlich nur Privatpersonen ausstellen konnten, das Institut aber wiederum Empfehlungsschreiben oder Anstellungszusagen aufsetzte. Horkheimer und Pollock haben besonders viele Affidavits ausgestellt, aber sie verdienten auch deutlich mehr als andere Mitarbeiter. Wenn man sich anschaut, wem sie konkret geholfen haben, dann sieht man, dass es eine große Bandbreite von Kollegen, Verwandten oder auch nur entfernt Bekannten gab, die Hilfe benötigten. Aber selbst das finanziell und personell gut ausgestattete Institut geriet schnell an seine Grenzen. Zudem waren die Mitarbeiter ja selbst Emigranten und versuchten sich in der neuen Heimat zurechtzufinden. Da verdrängte man manchmal auch das Leid in Europa und lebte einfach sein Leben. Das mag sich aus heutiger Perspektive unmoralisch anhören, aber ich denke, es ist einfach eine menschliche Reaktion.
Das Deutsche Reich investierte bis in die letzten Kriegswochen Ressourcen in die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden. Wie dachten die Institutsmitarbeiter über die Judenverfolgung? War eine marxistische Analyse des Nationalsozialismus möglich?
Bemerkenswert ist zunächst, wie lange der Antisemitismus in der Forschung des Instituts keine oder zumindest nur eine untergeordnete Rolle spielte. Es gibt immer mal wieder ein paar Bemerkungen dazu, etwa in einem frühen Werk Karl August Wittfogels oder in Pollocks Büchlein über Werner Sombart, aber zum zentralen Forschungsobjekt wird der Antisemitismus eigentlich erst Anfang der 1940er Jahre. Horkheimers Aufsatz »Die Juden und Europa« aus dem September 1939 versuchte erstmals systematisch, den Antisemitismus aus dem Monopolkapitalismus abzuleiten. Es ist nach wie vor ein faszinierender Aufsatz, aber die Argumentation ist letztendlich wenig überzeugend und auch Horkheimer wollte den Text später nicht nachgedruckt sehen. Umgekehrt muss man sagen, dass die Institutsmitarbeiter zu den wenigen innerhalb der Linken gehörten, die den Antisemitismus als Problem wirklich ernst genommen haben, wenn auch sehr spät. Die übliche Haltung war: Der Antisemitismus ist nur eine Ablenkung der Arbeiter, ein Nebenwiderspruch, und wir müssen uns auf den Klassenkampf konzentrieren. Horkheimer und Co. merkten spätestens Anfang der 1940er Jahre, dass es so einfach nicht ist und dass sie mit dem Judenhass theoretisch wie praktisch nicht fertigwerden. Das Resultat dieses Ringens ist das Kapitel »Elemente des Antisemitismus« in der »Dialektik der Aufklärung«, noch heute ein Schlüsseltext der Antisemitismusforschung.
Ist die Entstehung der »Dialektik der Aufklärung« vielleicht weniger dem Versuch geschuldet, die Marx‘sche Kritik der politischen Ökonomie zu aktualisieren, als den Nationalsozialismus und den Holocaust zu verstehen?
Ich würde das nicht gegeneinander ausspielen. Was heißt denn unter dem Gesichtspunkt von Auschwitz über den Kapitalismus sprechen? Eine Kapitalismuskritik, die Holocaust und Nationalsozialismus nicht als grunderschütternde Erfahrung in sich aufnimmt, ist bestenfalls eine Form der Verdrängung. Schon vor dem Holocaust war es lachhaft zu behaupten, wir würden noch immer im Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts leben. Deshalb hat ja Pollock seine These vom »Staatskapitalismus« als einer neuen kapitalistischen Epoche vorgelegt. Aber natürlich stellt sich dann die Frage, was der Staatskapitalismus eigentlich mit Auschwitz zu tun hat, und diesbezüglich hat auch Pollock keine besonders guten Antworten parat gehabt. Die »Dialektik der Aufklärung« versucht diesem Problem zu entgehen, indem sie einen Höhenflug über die Zivilisationsgeschichte unternimmt. Das Problem ist, dass dabei wiederum die Spezifik der kapitalistischen Epoche bisweilen etwas aus dem Sichtfeld gerät.
Was haben die Autoren in der »Dialektik der Aufklärung« vom Marxismus behalten und was haben sie verworfen?
Das Buch ist ein Zeugnis des Scheiterns der menschlichen Zivilisation angesichts dessen, was sich zeitgleich auf den Schlachtfeldern, hinter den Frontlinien und in den Konzentrations- und Vernichtungslagern abspielte. Die Fortschrittsgeschichte, die der Marxismus entworfen hatte und laut der die Menschheit zwangsläufig irgendwann aus dem Jammertal heraustreten und den Sozialismus erreichen würde, verwarfen Horkheimer und Adorno entschieden. Wohlgemerkt nicht die Perspektive der menschlichen Emanzipation als solche, sondern nur die Annahme einer historischen Zwangsläufigkeit. Sie stellten fest, dass man sich auf »die Geschichte« oder »den Weltgeist« nicht verlassen konnte, sondern ein Fortschritt, der auf Triebverzicht, Opfer und Ausbeutung basierte, vielmehr immer tiefer ins Verderben hineinführte. Sie forderten deshalb eine Selbstkritik der Aufklärung, die die repressiven Voraussetzungen der menschlichen Kultur sichtbar machte, um diese zu verändern. Dazu gehörte ganz zentral auch die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise und ihre Ersetzung durch eine rationale Produktions- und Distributionsform. Insofern hat das Buch natürlich immer noch einen marxistischen Kern, wenn man so will.
Eine letzte Frage: Wie würden Sie die Thesen der »Dialektik der Aufklärung« heute – achtzig Jahre nach ihrem Erscheinen – bewerten?
Die Situation ist natürlich heute eine andere als in den 1940er Jahren, aber es gibt eben dennoch den russischen Zerstörungskrieg gegen die Ukraine, am 7. Oktober fand das größte antisemitische Massaker seit dem Holocaust statt und rechtsradikale Parteien eilen in Deutschland und anderswo von Wahlerfolg zu Wahlerfolg. Die Frage, die sich stellt, ist, warum es all diese Übel nach allem, was passiert ist, »immer noch« gibt – und damit sind wir wieder beim prekären Begriff des Fortschritts. Können wir in einem emphatischen Sinne wirklich vom Voranschreiten der Menschheit hin zu mehr Freiheit, Gleichheit und Glückseligkeit für alle sprechen? Das würde ich doch bezweifeln.
Vielen Dank für das Gespräch!