Philippa Sigl-Glöckner: „Vergangene Missstände werden zu einer künftigen Notwendigkeit gemacht.“
Deutschland hat sich Schuldenregeln ausgeliefert, die wichtige Investitionen verhindern und Arbeitslosigkeit zu einer Notwendigkeit machen. Und sie beschneiden eine der höchsten Funktionen des Parlaments, wie Philippa Sigl-Glöckner im Gespräch mit Otmar Tibes zu ihrem Buch »Gutes Geld« erklärt.
Frau Sigl-Glöckner, vor mehreren Wochen ist die Carolabrücke in Dresden eingestürzt. Die marode Brücke ist zum Symbol mangelnder Investitionen in die Infrastruktur geworden. Sparen wir uns heute selbst kaputt, um die Schuldenbremse einzuhalten?
Leider tun wir das. Ehrlich gesagt hat mich die Überraschung über den Einsturz der Carolabrücke auch ein wenig überrascht. Eine marode Infrastruktur ist schließlich kein Zufall, wenn man die Fiskalpolitik eines Landes mehr auf das Sparen ausrichtet und weniger auf das Investieren. Sie ist vielmehr das logische Ergebnis einer solchen Politik. Und in Deutschland hat ein regelrechtes Kaputtsparen mittlerweile Tradition, wenn man zum Beispiel auch auf den Verteidigungsbereich guckt.
Ganz ohne Verteidigung haben wir heute einen Investitionsstau von über 180 Milliarden EUR in den Kommunen. Die große Frage lautet, wie es zu dieser astronomischen Summe kommen konnte?
Wenn man sich die Historie ansieht, fand bereits unter Helmut Kohl eine fiskalpolitische Verschiebung statt. Ende der Achtzigerjahre stellte er Ziele seiner Regierung hintan, um Geld einzusparen. Allerdings wollte Kohl nicht um des Sparens willen sparen, sondern um Spielraum für Steuersenkungen zu schaffen. Damals hatten Steuersenkungen noch eine klare Priorität vor der Verringerung von Staatsschulden. Mit der Einführung der Europäischen Schuldenregeln 1992 änderte sich das dann. Als Indikator für gesunde Staatsfinanzen ist ein Defizit von 3% und eine Staatsschuldenquote von 60% vereinbart worden. Die SPD griff das in Deutschland auf, um der Regierung vorzuwerfen, zu viel Geld für die Deutsche Einheit auszugeben. Nach und nach entwickelte die Kennzahl von 60% sich dann zu einer politischen Waffe. Politisch noch wichtiger als Investitionen zu tätigen, wurde es dann die Schuldenquote einzuhalten. Ich glaube deshalb, dass es vollkommen unsinnig ist, Prozentzahlen in Gesetzestexte zu schreiben. Sie können zu einer politischen Waffe werden und eine gefährliche Eigendynamik entwickeln. Es wird dann um sie herumgetanzt, wie um ein Goldenes Kalb.
Wie kam es eigentlich dazu, dass man eine Schuldenquote von 60% in die Europäischen Verträge geschrieben hat? Gibt es eine ökonomische Begründung dafür?
Leider gibt es keine ökonomische Begründung dafür. In Wahrheit hätte man in den Neunzigerjahren auch 70% oder 80% vereinbaren können. Als Indikator für nachhaltige Staatsfinanzen sagen 60% nämlich nicht viel aus. Man muss vielmehr von Fall zu Fall beurteilen, ob ein Staat sich übermäßig verschuldet hat. In dem Europäischen Währungsausschuss, der die Schuldenquote 1991 vorgeschlagen hat, ist das auch angemerkt worden. Dennoch hat dieser dann eine Schuldenquote mit 60% beschlossen. Aus den Sitzungsprotokollen geht nicht hervor, warum. Auch keiner der damals Beteiligten, die ich für mein Buch befragt habe, konnte mir das erklären. Genau genommen ist in den Europäischen Verträgen dann aber keine starre Obergrenze beschlossen worden. Artikel 126 schreibt lediglich vor, dass die EU-Kommission die Einhaltung der Haushaltsdisziplin auf Basis der Schuldenquote überprüfen soll. Die 60% wurden dann in einem angehängten Protokoll festgehalten, damit der Rat diese im Zweifel auch wieder ändern kann. Nichtsdestotrotz wird die Finanzpolitik heute in allen EU-Staaten von einer Schuldenquote von maximal 60% dominiert.
Philippa Sigl-Glöckner
Noch strenger als die europäischen Schuldenregeln ist die deutsche Schuldenbremse. Im Verhältnis zum Vorjahres-BIP ist dem Bund eine Neuverschuldung von gerade mal 0,35% erlaubt. Auch hier fragt man sich: Wieso nur 0,35%?
Auch für diese Zahl gibt es keine ökonomische Begründung. Sie ist vielmehr ein Zufallsprodukt. In der Finanzkrise gab der deutsche Staat 500 Milliarden Euro für die Bankenrettung aus und legte ein kleines Konjunkturpaket auf. Ende 2008 war aber klar, dass noch ein zweites Paket erforderlich war. Die Haushaltspolitiker der Union sahen ihre Chance gekommen. Sie machten die Einführung der Schuldenbremse zur Bedingung für ein zweites Konjunkturpaket. 2009 traf sich dann die Föderalismuskommission, um zu einer Einigung zu kommen. Die neue Schuldenregel sollte sicherstellen, dass Deutschland die europäischen Vorgaben einhielt. In der Interpretation des Bundesfinanzministeriums hieß das, die gesamtstaatliche Kreditaufnahme auf 0,5% zu begrenzen. Der Bund hielt es dann für fair, die 0,5% hälftig zwischen Bund und Länder aufzuteilen. Um aber noch nachgeben zu können, eröffnete die Bundesregierung die Gespräche mit der Forderung nach 0,35% für den Bund. Unerwarteterweise erklärte Horst Seehofer dann, dass die Länder überhaupt keinen Spielraum für neue Schulden brauchten. So hat der Bund die Verhandlungen mit den 0,35% wieder verlassen, die dann ins Grundgesetz geschrieben wurden. Das vollkommen Absurde an der Geschichte ist aber, dass die EU eine strikte Neuverschuldungsgrenze von maximal 0,5% nie vorgegeben hat. Europa verlangte lediglich, dass jedes Land sich ein sogenanntes mittelfristiges Fiskalziel setzen sollte. Das hätte auch bei 1% liegen können und musste auch nicht jedes Jahr erreicht werden.
Zu der strukturellen Neuverschuldung von 0,35% kommt noch die Konjunkturkomponente hinzu. Wie funktioniert diese?
Hinter der Konjunkturkomponente steckt ein keynesianischer Gedanke: Anstatt einen festen Kreditrahmen vorzugeben, soll die Obergrenze für die Neuverschuldung höher ausfallen, wenn die Wirtschaft schlecht läuft und niedriger, wenn sie gut läuft. Keynes hat diese Vorstellung mit dem fiskalpolitischen Ziel der Vollbeschäftigung verknüpft. Die Schuldenbremse bremst die Wirtschaft aber schon wesentlich früher, nämlich wenn das sogenannte Produktionspotenzial erreicht ist. Das Produktionspotenzial wird mit einer komplizierten Formel berechnet. Etwas verkürzt ist es nichts anderes als die durchschnittliche Wirtschaftsleistung der Vergangenheit. Insbesondere in Krisenzeiten hat die Gleichsetzung von Produktionspotenzial und vergangener Wirtschaftsleistung aber einen gefährlichen prozyklischen Effekt, da das Potenzial stets kleiner geschätzt wird, je schlechter es für die Wirtschaft lief. Laut Berechnungen der Bundesregierung ist das Potenzial von 2019 bis 2024 um gut 100 Milliarden EUR geschrumpft. Trotz schwacher Wirtschaft fällt die zulässige Kreditaufnahme deshalb relativ gering aus. Gerade mal 22 Milliarden Euro darf der Bund 2024 aufnehmen. Mit der Schuldenbremse kann es Hochdruckpolitik nach einer Krise also gar nicht geben.
Bei der Berechnung des Produktionspotenzials gibt es eine Annahme, die hochbrisant ist. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass eine gewisse Mindestarbeitslosigkeit bei der Berechnung vorausgesetzt wird. Muss es in Deutschland also Arbeitslosigkeit geben?
Leider muss es das. Dahinter steckt die Idee, dass ein Sockel an Arbeitslosigkeit notwendig bleibt, da sonst die Wirtschaft überhitzen könnte. Mit anderen Worten: die Beschäftigten dürfen nicht übermutig werden und zu hohe Löhne verlangen, da Unternehmen sonst ihre Preise erhöhen und die Inflation ansteigt. Bei der Berechnung des Produktionspotentials funktioniert Arbeitslosigkeit also wie ein gesellschaftlicher Inflationsschutz. Aus normativer Sicht ist das natürlich absurd. Zugespitzt könnte man auch sagen, dass die Schuldenbremse eine marxsche Reservearmee notwendig macht. Nach einer Krise muss die Reservearmee auch umso größer ausfallen, je schlimmer die Krise war. Bei der Berechnung der sogenannten NAIRU – der notwendigen Arbeitslosenquote, die nicht die Inflation anfacht – zählen nämlich wieder Vergangenheitswerte. So wird die tatsächliche Arbeitslosigkeit der Vergangenheit zur notwendigen Arbeitslosigkeit erklärt. In Spanien hat das bereits abwegige Ergebnisse hervorgebracht. Nach der Finanzkrise stieg dort die Arbeitslosigkeit stark und die NAIRU kletterte auf 16%. Laut EU-Kommission durften 2011 bis 2015 also nicht weniger als 16% der Spanier arbeitslos sein, da sonst Inflationsgefahr bestanden hätte. Sinnvolle Finanzpolitik ist so gar nicht mehr möglich, da Krisenschäden aus der Vergangenheit zu einer künftigen Notwendigkeit werden.
Aber wenn eine marxsche Reservearmee erforderlich ist, wie kann dann z.B. »Fördern und Fordern« noch ein legitimer Grundsatz der Arbeitslosenpolitik sein? Auf der einen Seite brauchen wir Arbeitslosigkeit, auf der anderen sanktionieren wir sie?
Das ist eine berechtigte Frage und weist auf die Widersprüchlichkeit der heutigen Politik hin. Ich glaube nicht alle in der Politik sind sich der Implikationen der Regeln bewusst. Wenn man von der Reservearmee wegkommen will, müsste man von der heutigen Sparregel wegkommen und die Vollbeschäftigung wieder zum obersten Ziel der Fiskalpolitik machen. Dann wären auch Sanktionen im Kontext des Bürgergelds etwas besser zu rechtfertigen. Schließlich könnte die Politik zumindest sagen, dass sie versucht jeder und jedem Beschäftigung zu ermöglichen.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die Schuldenbremse auch in Hinblick auf den Anteil erwerbstätiger Frauen problematisch ist. Werden Frauen von der Schuldenbremse benachteiligt?
Ja und das liegt auch an der Berechnungsmethode des Produktionspotenzials. Weil wir das Potenzial anhand einer vergangenen Beschäftigungszahl errechnen und Frauen in Deutschland traditionell am Herd standen, backen wir mit der Schuldenbremse eine niedrigere Erwerbstätigenzahl von Frauen in das künftige Produktionspotenzial mit ein. Dieses gilt dann schon als erreicht, wenn in Deutschland ungefähr so viele Frauen erwerbstätig sind, wie in der Vergangenheit. Würden morgen mehr Frauen erwerbstätig, dann würde das Potenzialmessgerät der Schuldenbremse anzeigen, dass die Wirtschaft überausgelastet sei und die Regierung sparen muss, um die Arbeitslosigkeit zu erhöhen. Zu den ersten Leuten, die dann ihren Job verlieren, zählen traditionell schwache Beschäftigte, also tendenziell Frauen oder junge Beschäftigte und Leute ohne Kündigungsschutz. Das hat man auch in der Coronazeit beobachten können. Wenn das Grundgesetz gleichzeitig aber sagt, dass Frauen und Männer gleiche Chancen auf einen Job haben sollen, dann widerspricht diese Berechnungsmethode der Geleichberechtigung von Männern und Frauen fundamental.
In Ihrem Buch widmen Sie ein Kapitel John Maynard Keynes. Bekanntlich hat dieser das Ziel der Vollbeschäftigung begründet. Warum wäre dieses Ziel fiskalpolitisch sinnvoller als das heutige Sparziel?
Mit der Schuldenbremse können wir unser wirtschaftliches Potenzial schlicht nicht ausschöpfen, was nicht nur schwierig in Hinblick auf gesellschaftliche Ziele wie Wohlstand und Selbstbestimmung ist, sondern auch Geld kostet. Höhere Sozialausgaben für Erwerbslose, geringere Steuereinnahmen durch weniger Einkommensteuerzahler und höhere staatliche Rentenzuschüsse, die die fehlenden Beiträge kompensieren müssen, belasten den Haushalt dauerhaft. So betrachtet ist es vollkommen rätselhaft, wieso sich die deutsche Politik zwar eine Schuldenregel gegeben hat, die Nachfragepolitik erlaubt, sie dann aber so ausgestaltet hat, dass sie das wirtschaftliche Potenzial kleinhält.
Wenn wir davon ausgehen, dass die Abschaffung der Schuldenbremse aufgrund der benötigten Zweidrittelmehrheit im Bundestag unrealistisch bleibt, wie müsste man die Schuldenbremse reformieren, um sie wieder dem Ziel der Vollbeschäftigung anzunähern?
Glücklicherweise ist die Berechnungsmethode für das Produktionspotenzial selbst nicht im Verfassungstext verankert. In diesem wird lediglich von einer »Normallage« gesprochen und davon, dass sich der Bund mehr verschulden darf, wenn die Wirtschaft schlecht läuft und weniger, wenn sie gut läuft. Mit einfacher Mehrheit könnte der Bundestag die Definition der Normallage also verändern, wenn er das wollte. Hierfür hat das Dezernat Zukunft bereits 2021 einen Reformvorschlag vorgelegt: Anstatt das Potenzial pauschal als Fortschreibung der vergangenen Wirtschaftsleistung zu definieren, sollte es um die Vollauslastung der Wirtschaft gehen. Ab wann die Wirtschaft als voll ausgelastet gilt, müssen die Mitglieder des Bundestags dann auf Basis ihrer politischen Überzeugungen festlegen. Also zum Beispiel: Gelten 35, 40 oder 50 Stunden als Vollzeit? Streben wir eine Gesellschaft an, in der Männer und Frauen gleiche Chancen auf Erwerbsarbeit haben? Wie viel Zuwanderung in den Arbeitsmarkt soll es geben?
Sie schreiben in Ihrem Buch auch, dass die Schuldenbremse womöglich verfassungswidrig sei. Warum?
Weil sie eine unveräußerliche Funktion des Parlaments beschneidet, nämlich die Hoheit über den Haushalt. Man kann jetzt natürlich argumentieren, dass das Parlament die Schuldenbremse selbst beschlossen hat. Allerdings darf der Gesetzgeber, das Parlament, sich in einer Demokratie nicht selbst entmachten. Wesentliche Entscheidungen muss der Bundestag per Gesetz selbst treffen, anstatt sie der Verwaltung oder den Ministerien zu überlassen. Zu diesen wesentlichen Entscheidungen gehören die Kreditaufnahme aber auch die Antworten auf Fragen der Gleichstellung oder Arbeitszeit. Das hat ja mit unseren grundsätzlichen Vorstellungen zur Gesellschaftsordnung zu tun und ist hochpolitisch. Man sollte sich hierüber im Klaren sein, weil die Schuldenbremse die Gewaltenteilung der Bundesrepublik stört. So unglaublich es klingt: Heute bestimmt über die Kreditaufnahme nicht mehr das Parlament, sondern eine Formelsammlung, die niemand kennt, und die aus den Tiefen des deutsch-europäischen Verwaltungsapparats kommt.
Zusätzlich zu anderen Fiskalregeln sollten wir auch bessere Indikatoren zur Messung unserer Wirtschaft verwenden, schreiben Sie. Sie schlagen eine »Wirtschaftsnutzleistung« vor. Wie funktioniert diese und was kann sie besser als das BIP?
Wir haben heute eine Wirtschaft, in welcher das Geld dorthin fließt, wo es im Übermaß vorhanden ist, während es dort fehlt, wo es dringend gebraucht wird. Das ist kein Zufall. Wenn wir die Größe des Staats mit der Schuldenquote begrenzen, dürfen wir uns nicht wundern, dass es immer mehr Autos in Deutschland gibt, aber nicht genug Schulen. Wollen wir hiervon wegkommen, dann brauchen wir ein neues Ziel. Dieses sollte so beschaffen sein, dass es unsere gesellschaftlichen Ziele abbildet und finanzielle Nachhaltigkeit reflektiert. Das BIP tut das nicht, weil es nichts darüber aussagt, ob genug Investitionen getätigt werden oder wir ausreichend gute Jobs haben. Beides brauchen wir für stabile Staatsfinanzen aber. Also brauchen wir einen Indikator, der den Nutzen der Wirtschaftsaktivität misst. Im Gegensatz zum BIP erfasst die Wirtschaftsnutzleistung nicht nur die Wertschöpfung, sondern wie viel der Wirtschaftskreislauf von dem abwirft, das wir brauchen: Erziehung, Bildung, Pflege, gute Löhne und Renten. Gesundheit und Wohnen müsste man noch mit aufnehmen. Die Nutzleistung vermisst also nicht die Höhe eines Stapels von Autos, sie misst, ob die Geldströme dorthin fließen, wo wir sie brauchen. Sie zeigt, ob wir unseren Wohlstand im Interesse der Gesellschaft einsetzen. Wachstum, eine zunehmende Nutzleistung und die Einhaltung der Klimaziele bilden zusammen sicher nicht perfekte, aber praktisch hilfreiche Zielkoordinaten für die Fiskalpolitik.
Vielen Dank für das Gespräch!