Postkonservatismus und kein Ende der Geschichte

Die von Panajotis Kondylis aufgeworfenen Fragen ums Ganze des Konservatismus, machen den zeitlosen Reiz seines großen Werks aus. Um diesen Reiz zu erkennen, muss man die These eines definitiven Endes des Konservatismus auch nicht teilen, schreibt Tobias Adler-Bartels.

Der Konservatismus ist derzeit wieder in aller Munde. Seit längerer Zeit sind die Unionsparteien auf der Suche nach ihrem konservativen Markenkern und müssen dabei feststellen, dass ihr historisch begründeter Anspruch auf den Konservatismus zunehmend infrage gestellt wird – sei es durch Vertreterinnen und Vertreter eines ökologisch begründeten Wertkonservatismus oder durch (neu-)rechte Akteure, die gegen eine vermeintliche Auflösung des authentischen Konservatismus (durch die Union) polemisieren. Der Konservatismus ist also ein durchaus „stacheliges Wort“ 1 https://www.faz.net/podcasts/f-a-z-essay-podcast/f-a-z-essay-podcast-konservativ-ein-stacheliges-wort-16584536.html  und erfreut sich dennoch großer Beliebtheit. Ob Sahra Wagenknecht, Gregor Gysi, Gesine Schwan, Cem Özdemir oder Thilo Sarrazin – Plädoyers für einen (vagen) Begriff des Konservativen eint Politikerinnen und Politiker fast aller Parteien. 2 Siehe die Beiträge in Michael Kühnlein (2019): konservativ?! Miniaturen aus Kultur, Politik und Wissenschaft, Berlin.

Eine gewisse Beliebigkeit des ideologischen Grundvokabulars im Allgemeinen sowie des Begriffs des Konservativen im Besonderen konstatierte der griechische Privatgelehrte Panajotis Kondylis (1943-1998) bereits Anfang der 1990er Jahre in einem Beitrag für die FAZ, in dem es hieß: „Als soziale Träger dessen, was man heute jeweils ‚Konservativismus‘ nennt, werden […] bald die Verfechter der Planwirtschaft und der Diktatur im Osten, bald die Befürworter der Marktwirtschaft und des Parlamentarismus im Westen, manchmal auch ökologisch motivierte Freunde der unversehrten Natur oder religiös gesinnte Feinde des Minirocks angeführt.“ 3 Panajotis Kondylis: Die Antiquiertheit der politischen Begriffe, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 5.10.1991, S. 8 (wiederabgedruckt in: Ders.: Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg, Berlin, S. 91-104).  Diese Unverbindlichkeit des Konservatismus war jedoch keineswegs Zufall, sondern unmittelbarer Ausdruck eines lediglich polemischen Gebrauchs des Begriffes, der mit dem realen konservativen Denken nichts (mehr) zu tun hatte. Über den tatsächlichen Konservatismus könne man lediglich in der Vergangenheitsform reden, da diese Ideologie im 19. Jahrhundert untergegangen sei, so Kondylis. Den Konservativen im Zeitalter der Massendemokratie betrachtete er somit entweder als tragische oder als groteske Figur, schließlich liege diesen Selbstbekenntnissen notwendig ein „ethisch-ideologisches Selbstverständnis“ zugrunde, „das sich nicht mit der Einsicht versöhnen will, dieses System lebe inzwischen längst von dem, was man in wahrhaft konservativen Zeiten ‚Hybris‘ nannte.“ 4 Ebd.

Tobias Adler-Bartels

Tobias Adler-Bartels ist Politikwissenschaftler und arbeitet derzeit an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg im Bereich der Politischen Theorie und Ideengeschichte. In seinem Dissertationsvorhaben erforscht er die Radikalisierungsdynamiken des deutschen Konservatismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert.

Diesen Gedanken eines postkonservativen Zeitalters hatte Kondylis bereits in seinem 1986 erschienenen Werk „Konservativismus – Geschichtlicher Gehalt und Untergang“ ausführlich ausgearbeitet. Das lange Zeit vergriffene und somit in den jüngeren Diskussionen um den Konservatismus meist vernachlässigte Werk liegt nun endlich wieder in einer Neuauflage beim Berliner Verlag Matthes & Seitz vor. Für eine geschichts- und politikwissenschaftliche Forschung, die den Konservatismus als (historischen) Gegenstand gerade wiederentdeckt, 5 Siehe u.a. Martina Steber (2017): Die Hüter der Begriffe. Politische Sprachen des Konservativen in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland, 1945–1980, Berlin/Boston, Martin G. Maier (2019): Der herausgeforderte Konservatismus. Von 1968 bis zur Berliner Republik, Marburg, Florian Finkbeiner (2020): Nationale Hoffnung und konservative Enttäuschung. Zum Wandel des konservativen Nationenverständnisses nach der deutschen Vereinigung, Bielefeld sowie Thomas Biebricher (2019): Geistig-moralische Wende. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus, Berlin.  hat dieses Buch einiges zu bieten, weshalb im Folgenden zunächst in groben Zügen Kondylis‘ Rekonstruktion vom Aufstieg und Untergang des Konservatismus nachgezeichnet werden soll, ehe die zentrale These vom Ende des konservativen Denkens erörtert wird.

Rechtfertigungsideologie der societas civilis

Schon der Titel des Werkes offenbart die – nicht nur für selbsternannte Konservative, sondern auch für die Konservatismusforschung – provokative Stoßrichtung. Schließlich lässt sich nach Kondylis der Konservatismus lediglich als historisch-konkreter Epochenbegriff verstehen, der unmittelbar mit der Geschichte des alteuropäischen Adels verknüpft ist. Lediglich im historischen Rahmen der Verteidigung der Einheit von Staat und Gesellschaft im Sinne der societas civilis bezeichne der Konservatismus „eine fest umrissene, genau identifizierbare und längst abgeschlossene sozial- und geistesgeschichtliche Erscheinung“ (S. 36). Mit dem allmählichen Niedergang der alteuropäischen Adelsgesellschaften sei dann spätestens ab der Mitte des 19. Jahrhunderts das definitive Ende des Konservatismus verbunden: „Außerhalb dieses sozial- und geistesgeschichtlichen Rahmens kann vom Konservativismus nur metaphorisch oder in polemischer bzw. apologetischer Absicht die Rede sein.“ (28) Dieser historisch-konkrete Begriff des Konservatismus steht sowohl quer zu psychologisch oder anthropologisch begründeten überzeitlichen Konzeptionen einer konservativen Haltung bzw. Disposition (Michael Oakeshott) als auch zu formalisierten Strukturbegriffen des Konservativen, die jede Verteidigung des Status Quo in Absehung ideologisch-programmatischer Kontinuitäten als konservativ erfassen. 6 In diesem Sinne weiterhin einschlägig: Samuel Huntington (1957): Conservatism as an Ideology, in: The American Political Science Review 51 (2), S. 454-473.  Zugleich formuliert Kondylis eine klare Absage an die „rein hermeneutische Fiktion“ (137) eines postulierten Übergangs von einem lediglich vorreflexiven Traditionalismus zu einem sinnorientierten Konservatismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wie es Karl Mannheim in seiner Pionierstudie zum altkonservativen Denken dargestellt hat. 7 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit einschlägigen Werken der Konservatismusforschung findet bei Kondylis nicht statt, vielmehr werden diese eher en passant in einer langen ersten Fußnote – die in der Neuausgabe leider in Endnoten umgewandelt wurden – abgekanzelt.  Mit derlei Vorstellungen „von einem stummen unreflektierten Traditionalismus der vorrevolutionären Zeit“ (158) räumt Kondylis in seinem Werk auf und rekonstruiert hierzu in drei chronologischen Abschnitten Geburt und Tod des westeuropäischen Konservatismus.

Vorangestellt ist dieser historischen Darstellung ein Kapitel zur Problematik des Begriffes. In der Kontrastierung des Konservatismus als einer „durch spezifische Merkmale gekennzeichneten Einheit in der Geschichte der Politik und des Geistes“ (27) – in expliziter Analogie zu Epochenbegriffen wie Reformation oder Aufklärung – auf der einen, und dem ‚Konservatismus‘ (in Anführungszeichen) als eines beliebig adaptierbaren polemischen Schlagwortes auf der anderen Seite, veranschaulicht Kondylis seine gerade für selbsternannte Konservative provokante These: Für den zeitgenössischen Sprachgebrauch sei „nicht die sozial- oder geistesgeschichtliche Kontinuität des eigentlichen, historischen Konservativismus verantwortlich, sondern vielmehr die Wandlung oder Spaltung des Liberalismus“ (39; Herv. i. Orig.). Als somit der ‚politische Bewegungsbegriff‘ (Reinhart Koselleck) des Konservatismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den politischen Diskussionen aufkam, war die damit bezeichnete Sache bereits vollumfänglich im Untergang begriffen. 8 Der Konservatismus steht somit wie alle modernen Ismen für die Verzeitlichung der politischen Semantik; die politischen Bewegungsbegriffe „kompensieren […] ein Defizit an Erfahrung durch einen Zukunftsentwurf, der erst einzulösen sein wird.“ (Reinhart Koselleck (2010): Die Verzeitlichung der Begriffe, in: Ders.: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a.M., S. 82).  Gegen eine in seinen Augen eindimensionale Begriffsgeschichte, die lediglich die Wortgeschichte des Konservativen rekonstruiere und ohne Sinn für genetische und strukturelle Tiefenanalysen zum „Sprachidealismus“ (35) tendiere, setzt Kondylis auf eine Rekonstruktion der Genese des konservativen Denkens avant la lettre. 9 Den Eintrag zum Lemma Konservativ, Konservatismus im Lexikon der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ schrieb daher auch nicht Kondylis – der dagegen die Artikel Reaktion, Restauration sowie Würde (zus. mit Viktor Pöschl) verantwortete –, sondern der Historiker Rudolf Vierhaus.

Im Hauptteil seines opulenten Werkes verfolgt Kondylis dementsprechend in zwei Kapiteln mit dem antiabsolutistischen Konservatismus der altständischen societas civilis seit dem 16. Jahrhundert sowie dem gegenrevolutionären Konservatismus nach 1789 die beiden zentralen historischen Entwicklungsstufen des Konservatismus. Den historischen Ausgangspunkt des konservativen Denkens datiert Kondylis somit entgegen den meisten historischen Darstellungen gleich um einige Jahrhunderte nach vorne. Der Konservatismus entsprang demnach dem Kampf der adligen Schichten Westeuropas – seine Untersuchung bezieht sich explizit auf Frankreich, Großbritannien und die deutschsprachigen Länder – gegen den Zerfall der Einheit von Staat und Gesellschaft der alteuropäischen Sozialordnungen und profilierte sich zunächst in Abgrenzung zum modernen Souveränitätsgedanken des absolutistischen Staates der frühen Neuzeit. Den Hintergrund bildete eine fundamentale Sinnkrise der aristokratischen Kreise ab dem 16. Jahrhundert, die sich von absolutistisch-willkürlichen Monarchen, einer bisher unbekannten sozialen Dynamik innerhalb des eigenen Standes sowie neuen Ansprüchen des aufstrebenden dritten Standes zunehmend herausgefordert sahen. Die Aristokratie weist Kondylis somit als „Hort konservativen Denkens“ (140) aus; in ihrem Kampf für die gott- und naturgegebene Einheit von Staat und Gesellschaft bzw. (christlicher) Ethik und Politik avancierten die adligen Kreise zum sozialen Träger der konservativen Ideologie und reformulierten ein antikes Oikos-Ideal, das sich gegen den egalitären Individualismus sowohl der absolutistischen Monarchen als auch der (früh-)aufgeklärten Schichten richtete und dagegen eine hierarchische Stufenordnung der Gesellschaft sowie „die Priorität der Gruppe gegenüber dem in ihr geborenen und zu ihr lebenslänglich gehörenden Individuum“ (201) proklamierte. Die antiegalitäre Stoßrichtung dieses altständischen Denkens fand in der Adaption des antiken Rechtsgrundsatzes suum cuique (Jedem das Seine) seinen prägnanten Ausdruck; diese Rechtsauffassung richtete sich zugleich gegen die Ansprüche des modernen Naturrechts und sollte die (organische) Kontinuität der transzendental begründeten Gemeinschaften garantieren, wie Kondylis prägnant formuliert: „Recht wird nicht gemacht, sondern ist, und zwar ist es als Bestandteil, Ausdruck und Ausfluss einer unabänderlichen göttlich-natürlichen Ordnung.“ (269; Herv. i. Orig.).

Der gegenrevolutionäre Konservatismus und die bürgerliche Gesellschaft

Die zweite Phase des gegenrevolutionären Konservatismus datiert dann auf den Zeitraum ab 1789; im ausgerufenen „Kampf gegen die liberale und die (aus konservativer Sicht mit der liberalen wesensgleiche) demokratische Revolution“ (30) entwickelte der Adel nun ein ideologisches Selbstbewusstsein, eröffnete politische Handlungsperspektiven und trat so zugleich den langen – und folgt man Kondylis‘ Perspektive: verhängnisvollen – Marsch in und durch die Institutionen des modernen Staates an. Als Akteure im Staat entwickelten sich die Konservativen nach Kondylis somit nolens volens zu Promotoren der bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung – die Rechtfertigungsideologie der societas civilis transformierte sich in diesem historischen Prozess zur „Interessenpolitik“ (478) bürgerlicher Schichten. Die Krise des Adels um 1800 führte demnach paradoxerweise zunächst zu einer „ideologische[n] Revitalisierung des Konservativismus“ (492), der sich als politische Bewegung innerhalb des Rahmens der modernen Parteien- und Massenpolitik nunmehr auf das „Terrain des Feindes“ (495) begeben musste. 

In diesem Kontext verweist Kondylis auf eine „weitgehende Säkularisierung und Modernisierung“ (259) der konservativen Begriffe und veranschaulicht diesen markanten Sprachwandel an zahlreichen Beispielen markanter Gegenbegriffsbildungen. Zielte der Begriff des Rechts im Rahmen der societas civilis noch auf die Einheit von göttlichem und natürlichem Recht, der jeder „Setzungscharakter“ (82) fremd war, so sei hingegen dem modernen, d.h. voluntaristischen Gesetz bereits die Tendenz „zur Reform oder gar zur Revolution“ (96) eingeschrieben. Die Rationalisierung sowie die damit einhergehende „dramatische Wandlung des Vernunftbegriffs“ (177), die Kontrastierung der altständischen Freiheiten (im Plural) mit dem emphatischen Kollektivsingular der Freiheit oder auch die ambivalente ‚Entdeckung‘ der gegen den revolutionären Universalismus gerichteten Nation als „ureigene Individualität, deren Charakter sich nicht nach Belieben oder mit Gewalt ändern lässt“ (356) verweisen somit allesamt auf die polemische Dimension dieser konservativen Begriffspolitik, die Kondylis an vielen Stellen seiner Untersuchung betont. Zugleich stellen diese strategisch-programmatischen Entwicklungen nach Kondylis lediglich ein letztes Aufzucken des dahinsiechenden Konservatismus dar – durch das Auseinandertreten von Staat und (bürgerlicher) Gesellschaft in der vormärzlichen Epoche sei schließlich das definitive Ende der Einheit der societas civilis und somit des ‚klassischen‘ Konservatismus eingeleitet worden.

Das Ende des Konservatismus thematisiert dann der Abschnitt „Die Auflösung des Konservativismus und die Verteilung seines Erbes“, indem die „Assimilierung“ (473) des Adels durch die Gesellschaft nachgezeichnet wird, „an deren konsequentem Ende die Preisgabe des Ideals der societas civilis und die Anerkennung der Trennung von Staat und Gesellschaft in ihren konkreten Implikationen steht“ (492). Das strategische Bündnis mit dem (Rechts-)Liberalismus gegen die sozialistische Gefahr wertet Kondylis dementsprechend als ein Beispiel für die Abkehr von der konservativen Orthodoxie, die das definitive Ende dieser Ideologie anzeigt. Das verstreute Erbe des Konservatismus verfolgt Kondylis dann in kleineren intellektuellen Zirkeln um politische Schriftsteller wie Thomas Carlyle oder John Ruskin, der Action Française oder den Vertretern der sogenannten Konservativen Revolution. Indem diese Akteure zwar eindeutig konservative Denkmotive aufgreifen, diese jedoch zugleich mit voluntaristischen, ästhetizistischen und elitistischen Politikvorstellungen verknüpfen, verkehren sie nach Kondylis den ursprünglichen Sinn des Konservatismus. Die konservativen Revolutionäre der Weimarer Republik deutet Kondylis als Ausdruck einer „Radikalisierung großer Teile des Bürgertums“, die der „tatsächlich vollzogenen Verschmelzung von Konservativismus und Liberalismus eine Gestalt gegeben [hat]“ (581). Der aggressive Antiliberalismus dieser selbsternannten Jungkonservativen – erinnert sei nur an Arthur Moeller van den Brucks programmatische Parole „An Liberalismus gehen die Völker zu Grunde“ 10 Arthur Moeller van den Bruck (1923): Das dritte Reich, Berlin, S. 64.  – ist für Kondylis kein Widerspruch, sondern wird von ihm vielmehr als Kompensationsphänomen eines militanten Bürgertums gedeutet, das „zwischen der Skylla des einheimischen Proletariats und der Charybdis des westlichen Kapitalismus“ stand und „gegen den inneren Feind umso mehr [wütete], als es sich gegenüber dem äußeren machtlos sah“ (584). Dem (liberalen) Westen weist Kondylis daher im mindesten eine fatale Mitschuld für die militante Radikalisierung des bürgerlichen Milieus in Deutschland zu. 11 Kondylis‘ Überlegungen für eine alternative Geschichte des deutschen Konservatismus argumentieren dabei oftmals nah am Revanchismus, wenn es etwa heißt: „Ohne die Niederlage ausgerechnet durch die liberal-parlamentarischen Mächte des Westens und ohne Versailles wäre das ‚Revolutionäre‘ bei der ‚konservativen Revolution‘ […] höchstwahrscheinlich fortgefallen, und die Verschmelzung von Konervativismus [sic!] und Liberalismus angesichts der sozialistischen Gefahr hätte eine andere beziehungsweise ‚westliche‘ Form angenommen“ (581).  Etwas unvermittelt endet das Werk dann mit Ausführungen zur autoritären Sehnsucht der nachkonservativen Rechten im frühen 20. Jahrhundert sowie einer äußerst knappen Schlussbemerkung, die dem Ganzen keinen neuen Gedanken mehr hinzufügt.

Ein postkonservatives Zeitalter?

Kondylis‘ Werk über den Aufstieg und Untergang des Konservatismus hat die Auseinandersetzung um den historischen Konservatismus in den 1980er Jahren wiederbelebt und gilt zurecht als ein Standardwerk zur Entwicklungsgeschichte des konservativen Denkens. Trotz seines Umfangs ist die Lektüre des Buches ein kurzweiliges Vergnügen, da es Kondylis versteht, die historischen Zusammenhänge anschaulich und pointiert darzustellen, auch wenn manchmal eine gewisse Tendenz zum geistesgeschichtlichen Höhenflug zu konstatieren ist. So überdeckt das Schlagwort der societas civilis einige Ambivalenzen und Differenzen der altständischen Ordnungen und auch die Parallelisierungen der Entwicklung des westeuropäischen Konservatismus sind nur um den Preis einer gewissen Ausblendung der Eigen- und Besonderheiten der britischen, französischen sowie deutschen bzw. preußischen Tradition zu haben. 12 Zur Rezeption und Kritik des Werkes siehe Hans-Christof Kraus (2019): Panajotis Kondylis und sein ‚Konservativismus‘-Werk – Zu einem Klassiker neuerer Ideengeschichtsschreibung, in: Horst Falk (Hrsg.): Panajotis Kondylis und die Metamorphosen der Gesellschaft. Ohne Macht lässt sich nichts machen. Aufsätze und Essays, Berlin, S. 25-45.

Grundlegender jedoch als diese Diskussionen um die historischen Details der Studie ist die Frage um die kontroverse These eines postkonservativen Zeitalters. Diese soll abschließend mit Blick sowohl auf Kondylis Ideologieverständnis als auch das komplexe Verhältnis von Konservatismus und Liberalismus kritisch geprüft werden. Indem Kondylis den Konservatismus als „Fortsetzung und zum Teil Weiterentwicklung der Ideologie der societas civilis im Dienste deren herrschender Schichten“ (157) beschreibt, verknüpft er sein Verständnis von Ideologien unmittelbar und notwendig mit einer eindeutig identifizierbaren gesellschaftlichen Gruppe oder sozialen Klasse. Dementsprechend lässt sich nach Kondylis das Triptychon der sogenannten Großideologien aus Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus lediglich für einen sehr kurzen Zeitraum im 19. Jahrhundert nachweisen, „[d]enn nur um 1848 standen sich Adel, Bürgertum und Proletariat auf einem einzigen Schlachtfeld gegenüber.“ 13 Kondylis: Die Antiquiertheit der politischen Begriffe (wie Anm. 3), S. 94. Weiterhin heißt es dort: „Die moderne Massendemokratie hat somit die Begriffe ‚Konservativismus‘, ‚Liberalismus‘ und ‚Sozialismus‘ mit einem Schlag gegenstandslos gemacht“, weil sie „die großen kollektiven Subjekte aufgelöst [hat], mit denen sich jene Begriffe verbanden“ (S. 101).  Eine so zugrunde gelegte starre Beziehung von ideologischen Gruppen und Programmatiken verschließt sich jedoch systematisch der Dynamik und Komplexität der nachrevolutionären politisch-ideologischen Konstellationen – der Beginn des ‚Zeitalters der Ideologien‘ entpuppt sich dann realiter bereits als Anbruch einer postideologischen Epoche. 14 Siehe Klaus von Beyme (2002): Politische Theorien im Zeitalter der Ideologien. 1789-1945, Wiesbaden.  Aus der Diagnose einer zunehmenden sozialen Ungebundenheit des Ideologischen folgt jedoch keineswegs zwangsläufig eine grundsätzliche Entideologisierung.

Versteht man hingegen Ideologien relativ allgemein als komplexe Deutungskulturen, in denen Akteure darauf abzielen, politische Identitäten zu entwickeln, partikulare Traditionen zu stiften und somit Wirklichkeiten zu konstruieren, 15 So bspw. Marius S. Ostrowski (2022): Ideology, Cambridge.  dann erscheint das 19. Jahrhundert weniger als Ende, sondern vielmehr als Transformationsphase des Konservatismus. Indem Kondylis seinen Konservatismus starr an die Sozialformation des europäischen Adels knüpft und diesem genau in dem Moment den Todesschein ausstellt, in dem sich der Konservatismus erstmalig selbst bewusst wird, verschließt er sich gerade der eigentlichen Ideologisierung des Konservativen. Der neue „Drang zum Aktivismus“ (306) selbsternannter Konservativer im vormärzlichen Preußen stellt den durchaus faszinierenden Versuch dar, Residuen einer untergehenden Welt- und Sozialordnung mittels der neuen ideologischen Potenziale zu retten. Während dies aus Kondylis‘ Perspektive ein von vornherein zum Scheitern verurteiltes und aufgrund dieser Aussichtslosigkeit auch possierliches Unterfangen ist, haben zugleich jüngere Werke der historischen Konservatismusforschung diese (durchaus widersprüchliche) Anknüpfung der altkonservativen Akteure an die eigene Denktradition rekonstruiert. 16 Siehe u.a. Doron Avraham (2008): In der Krise der Moderne. Der preußische Konservatismus im Zeitalter gesellschaftlicher Veränderungen 1848 – 1876, Göttingen oder Amerigo Caruso (2017): Nationalstaat als Telos? Der konservative Diskurs in Preußen und Sardinien-Piemont 1840 – 1870, Berlin/Boston.  So entwickelten die preußischen Altkonservativen mit ihren Konzepten des christlichen Staates und des monarchischen Prinzips Leitmotive einer Ideologie, die zwar nicht mehr notwendig an die Sozialformation des Adels gebunden war, zugleich aber (noch) eindeutig auf das Ideal der societas civilis bezogen blieb. Und selbst wenn man die These teilt, wonach der Konservatismus doch an sein Ende gekommen sei, bleibt die nicht minder relevante Frage nach dem genauen Todeszeitpunkt, die Kondylis unbeantwortet lässt. Im kritischen Anschluss an Kondylis hat daher jüngst Stefan Breuer die vielfältigen „Ausgänge des Konservatismus in Deutschland“ beschrieben, um so „die Möglichkeit, aber auch die Notwendigkeit“ auszuloten, „den von Kondylis gesteckten Rahmen für eine Nachgeschichte des Konservatismus zu erweitern.“ 17 Stefan Breuer (2021): Ausgänge des Konservatismus in Deutschland, Darmstadt, S. 29.

Auch wenn es somit zutrifft, dass selbst militante Konservative wie Arthur Moeller van den Bruck zu bemerkenswerten Konzessionen an den kapitalistischen Zeitgeist bereit waren, so wiegt dies doch keineswegs ihre fundamentale Absage an das westliche Modell eines liberalen Verfassungsstaates und einer repräsentativen Demokratie auf. Sowohl radikalkonservative Solitäre wie Paul de Lagarde, August Julius Langbehn oder Wilhelm Heinrich Riehl im 19. Jahrhundert als auch die jungkonservative Bewegung der Weimarer Republik propagierten ein intransigentes Verständnis des Konservatismus als motivationale Ressource für ihre jeweiligen Umsturzphantasien und bedienten sich hierbei im Arsenal der gegenrevolutionären Konservativen. Der „Kampf gegen eine Verirrung der Geschichte […], die mit der Neuzeit beginnt“ (260) offenbart durchaus eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit zwischen diesen Erzählungen von einer liberalen Kolonisierung der europäischen Geisteswelt der radikalen Konservativen auf der einen und Kondylis‘ Diagnose eines postkonservativen Liberalismus auf der anderen Seite.

Kein Ende der Geschichte

Für eine kritische Konservatismusforschung, die gerade wieder im Begriff ist, die im deutschen Kontext sehr eingetretenen Pfade von Apologie und Polemik zu überwinden, bietet das Werk von Kondylis unabhängig von diesen Fragen zum potenziellen Ende der Ideologie einen Steinbruch an Anknüpfungspunkten und intellektuellen Herausforderungen. Es ist ein Werk „für historisch und politikwissenschaftlich interessierte Leserinnen und Leser, die […] an Perspektiven interessiert sind, die die eigenen Erwartungshaltungen produktiv enttäuschen“ (651), wie es Daniel-Pascal Zorn in seinem informativen Nachwort zur Neuauflage formuliert hat. Dass die von Kondylis aufgeworfenen Fragen stets Fragen ums Ganze des Konservatismus sind, macht den zeitlosen Reiz dieses Werkes aus, auch wenn man die These eines definitiven Endes des Konservatismus nicht notwendig teilt. Die Neuauflage dieses grundlegenden Werkes lädt auch gegenwärtig wieder dazu ein, darüber zu reflektieren, „warum der Konservatismusbegriff heute überhaupt verwendet wird, das heißt welche polemischen und ideologischen Bedürfnisse zu seiner Wendung drängen“ (36), und somit die Selbst(miss)verständnisse zeitgenössischer ‚Konservativer‘ vor dem Hintergrund einer langen Tradition konservativen Denkens (ideologie-)kritisch einzuordnen.