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Postliberalismus – Elite auf der Ersatzbank
Patrick Deneens Postliberalismus gilt als intellektueller Ausdruck des populistischen Backlashes. Erstmals greifen auch Konservative den Neoliberalismus an. Doch die ökonomische Analyse bleibt so vage, dass man sich fragen muss, ob hier nicht einfach eine Elite gegen eine neue getauscht werden soll.
Wer hat Luigi Mangione verraten? Als der verdächtige junge Mann Anfang Dezember festgenommen wird, sitzt er nach seiner Flucht aus New York in einer McDonald’s-Filiale. Seit Tagen wurde nach dem 26-Jährigen gefahndet, mittels einiger unscharfer Fotos, die kurz vor dem Mord an einem hochrangigen Versicherungsmanager entstanden waren. Die digitale Öffentlichkeit war sofort auf seiner Seite. Nach seiner Festnahme hagelt es schlechte Rezensionen für den McDonald’s in Altoona, Pennsylvania. Ein Mitarbeiter hatte Mangione an die Polizei verpfiffen, nachdem ein Kunde den Verdächtigen erkannt hatte.
Ein paar Stunden später wurden auch Details aus dem Leben des Verdächtigen bekannt. Die Mangiones sind eine der einflussreichsten Familien Baltimores. Seine Familie besitzt Golfclubs, sein Cousin sitzt im Abgeordnetenhaus von Maryland, er selbst war Privatschüler und Ivy League-Absolvent.
Dass ausgerechnet er versucht, Chaos zu stiften und – wie hilflos auch immer – etwas gegen die unlauteren Praktiken von Konzernen in den USA zu tun, könnte nicht besser zur Diagnose vieler sogenannter Postliberaler passen. Und dass es der Working-Class-Kassierer ist, der fest auf der Seite des Gesetzes steht, fügt sich noch besser in die Diagnose, die diese kleine Gruppe der liberalen Gesellschaft stellt. Kern des postliberalen Weltbilds: Die Mehrheit der Gesellschaft wünscht sich Ruhe, Stabilität und klare soziale Strukturen – Werte, die der Liberalismus ihrer Ansicht nach durch radikale Individualisierung, Marktfreiheit und der Produktion einer abgehobenen Elite untergräbt. Mit Regime Change will der Politikwissenschaftler Patrick Deneen diese Kluft zwischen einer entkoppelten Elite und einer entwurzelten Bevölkerung analysieren und überwinden.
Die Gruppe um den Professor an der katholischen University of Notre Dame und den Verfassungsrechtler Adrian Vermeule entwickelte sich seit Trumps erster Präsidentschaft zu einer ernstzunehmenden Strömung des Konservatismus. Sie versprach, der republikanischen Partei nicht nur politisch, sondern auch intellektuell neues Leben einzuhauchen. Allen voran wegen des geforderten Bruchs mit dem ökonomischen Neoliberalismus stand die Gruppe um Deneen stets in Opposition zum vorherrschenden Neokonservatismus. 2016 brach Trump mit dieser Linie. Statt auf Free Trade setzen die Postliberalen auf einen durchaus starken Staat, der durch gezielte Industriepolitik und Protektionismus die wirtschaftliche Stellung der Arbeiter stärkt. Starker Staat und starke Wirtschaft sollen wiederum die Grundlage dafür bilden, dass jeder Einzelne nicht mehr seine eigenen Interessen gegen alle anderen durchzusetzen versucht, sondern ein christlich verstandenes Gemeinwohl das Ziel der Gesellschaft und jedes Einzelnen bildet.

Nils Schniederjann
Ein solch halbtheokratisches Paradies für konservative Arbeiter sind die USA während der ersten Trump-Präsidentschaft nicht geworden. Nichtsdestotrotz ist der Postliberalismus unter republikanischen Funktionären in Mode. Mit dem designierten Vizepräsidenten JD Vance ist nun erstmals ein Politiker in eine wichtige Machtposition aufgestiegen, der sich dem Postliberalismus verschrieben hat. Angesichts seines Alters und der Tatsache, dass Trumps politische Karriere in vier Jahren voraussichtlich beendet sein dürfte, könnte der Postliberalismus Trumps politisches Erbe sein. Patrick Deneen hat dafür mit Regime Change das entsprechende Manifest verfasst.
Sitzen Lehrer im Elfenbeinturm?
Am Anfang von Deneens Analyse steht die Behauptung, dass die unübersehbare Trennung zwischen den »Wenigen« und den »Vielen« ein grundlegendes Merkmal menschlicher Gesellschaften sei – und nicht, wie Marxisten argumentieren würden, eine politökonomische Konsequenz der Produktionsweise. Die Spaltung in das Volk (demos) und eine kleine Elite (aristoi): Damit verschreibt sich Deneen ganz der konservativen Tradition, eine völlig natürliche Teilung jeder Gesellschaft anzunehmen – ein »endemisches politisches Merkmal der menschlichen Natur« 1 Patrick Deneen: Regime Change. Towards A Post-Liberal Future, New York City 2023, S. 21: »endemic political feature of the human condition« . Der Liberalismus habe jedoch eine besonders destruktive Variante dieser Spaltung hervorgebracht. Dabei geht es dem Autor erstaunlicherweise nicht um die kaum zu übersehende ökonomische Spaltung, die in den letzten Jahrzehnten so enorm zugenommen hat. Drei Menschen besitzen inzwischen in den USA so viel wie die gesamte untere Hälfte. Für Deneen spielt das zwar eine Rolle; wichtiger ist ihm aber, dass diese drei Menschen keinen Kontakt mehr zur unteren Hälfte der Gesellschaft haben.
Seine Definition der heutigen Elite ist weit entfernt von konkreten ökonomischen Fragen. Frühere Eliten hätten zwar massive Reichtümer angehäuft, um ihre Mitmenschen zu kontrollieren – »die heutige Elite« schreibt er, »besitzt zum Teil beträchtliche materielle Güter, zum Teil aber auch nicht.« 2 Patrick Deneen: Regime Change. Towards A Post-Liberal Future, New York City 2023, S. 29: »Today’s elite, by contrast, may or may not own extensive material possessions« Für Deneen zählen abstrakte Eigentumstitel wie Aktien trotz der damit verbundenen Verfügungsgewalt nicht als Eigentum. Mit diesem kleinen Trick führt er ein bizarres Kriterium für die Zugehörigkeit zur Elite ein: Zur Elite gehöre, »wer einen sozialen Status besitz[t], weil er über die erforderlichen sozialen und bildungsmäßigen Fähigkeiten verfügt, um sich in einer Welt ohne stabilisierende Normen zurechtzufinden.« 3 Patrick Deneen: Regime Change. Towards A Post-Liberal Future, New York City 2023, S. 29: »[Part of the elite] are those who possess social status because they possess the requisite social and educational skills to navigate a world shorn of stabilizing norms«
Das heißt: Der reiche, aber ungebildete Erbe ist nicht Teil der Elite, eine gut ausgebildete Lehrerin, die ihre Rechnungen nicht zahlen kann, hingegen schon.
Am Ende war es immer der Liberalismus
Was Deneen bei der Identifizierung der Elite an Schärfe fehlt, macht er teilweise durch seine zutreffende Diagnose des Schicksals vieler Menschen am Ende der neoliberalen Ära wett. »Die Menschen aus der Arbeiterklasse«, so beobachtet er, »haben aufgehört, sich in Vereinen zu organisieren.« Sie seien heute auch seltener Mitglied in religiösen oder sozialen Organisationen. »Das Gefühl von Sinn und Unterstützung, das solche Einrichtungen einst auch Menschen mit schlechteren wirtschaftlichen Aussichten geboten haben, ist weitgehend durch die Anziehungskraft des Konsums ersetzt worden.« 4 Patrick Deneen: Regime Change. Towards A Post-Liberal Future, New York City 2023, S. 18: »People in the working classes have abandoned their traditional affinity to associational life. Today, they are far less likely to be members of religious or social organizations. The sense of meaning and support that such institutions might once have offered even people with diminished economic prospects has been largely replaced by the attractions of consumption.«
Diese Kritik am Kapitalismus als einer das Gemeinwesen zersetzenden Kraft ist nicht neu. Schon Karl Marx und Friedrich Engels schrieben im Kommunistischen Manifest, dass »alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige […] entweiht« 5 https://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/1848/manifest/index.htm werde. Mit Bowling Alone landete Robert Putnam 150 Jahre später in den USA einen Bestseller, der beschrieb, wie sich mit zunehmender Individualisierung soziale Gefüge auflösten. 6 Robert D. Putnam: Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community, New York City 2000. Vieles spricht dafür, dass sich der Trend zur Vereinzelung seitdem noch verstärkt hat. Deneen sieht sich dabei in einer Tradition mit dem Philosophen Alasdair MacIntyre und dem Historiker Christopher Lasch. Beide argumentierten vor einem marxistischen Hintergrund, dass es kleine Gemeinschaften sind, die das Potenzial für eine Gesellschaft jenseits von Kapitalismus und Liberalismus bergen. 7 Alasdair MacIntyre: After Virtue, Notre Dame 1981, s. auch https://jacobin.com/2022/11/alasdair-macintyre-biography-marxism-catholicism-community; Christopher Lasch: The True and Only Heaven: Progress and Its Critics, New York City 1991. Doch während MacIntyre und Lasch die ökonomischen Mechanismen hinter dieser Entwicklung 8 Siehe auch https://ysu.edu/center-working-class-studies/social-costs-deindustrialization explizit thematisieren, bleibt Deneen seiner idealistischen Lesart verhaftet: Der Liberalismus ist schuld. Während Marxisten wie Postmarxisten á la Lasch und MacIntyre auf die systematische Akkumulation von Macht und Kapital verweisen, sieht Deneen die Ursache für das Schicksal der Arbeiter im Verlust verbindlicher gesellschaftlicher Normen. Wäre ihm statt Newton der Apfel auf den Kopf gefallen, hätte er nicht die Schwerkraft entdeckt, sondern den Liberalismus beschuldigt.
Drei Spielarten der Liberalen
Deneen unterscheidet drei Spielarten des Liberalismus: den klassischen Liberalismus, den progressiven Liberalismus und den Marxismus. Jede dieser Strömungen, die sich nur darin unterscheiden, ob es eher das Volk oder die Elite ist, die den Fortschritt aufhält, sieht er als gescheitert an. Da ist zum einen der klassische Liberalismus. Seine Vordenker wie John Locke seien davon ausgegangen, dass durch die Liberalisierung der Märkte und die Überwindung traditioneller Normen eine kompetente Elite entstehe, die die Wirtschaft und Gesellschaft effizient organisieren könne. Gleichzeitig betrachteten sie das Volk als eine potenziell revolutionäre und damit gefährliche Kraft.
Eine zweite Spielart bezeichnet er als progressiven Liberalismus, für den John Stuart Mill stehe. Hier wird das Volk nicht als revolutionär, sondern im Gegenteil als kulturelle Bremse verstanden. Die Elite hingegen sei gut, weil sie das konservative Volk zum Fortschritt zwingen könne.
Die dritte Strömung sei der Marxismus. Dieser kann zwar auf Deneens Sympathien hoffen, weil er auf der Seite des Volkes gegen die Elite kämpft. Letztlich sieht er bei den Marxisten aber ein grundsätzliches Missverständnis: Die Marxisten unterschätzten, dass sich die breite Masse vor allem nach Beständigkeit, Tradition und vertrauten Lebensweisen sehne – also nach konservativen Werten. Warum es diese verschiedenen Spielarten des Liberalismus gibt, bleibt aufgrund seiner Weigerung, sich mit den ökonomischen Ursachen des kulturellen Wandels auseinanderzusetzen, aber völlig unklar.
Der Postliberale begreift aber schließlich: Das Volk ist konservativ und die gegenwärtigen Eliten sind schlecht. Eine Elite braucht es jedoch unbedingt: »Gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Strukturen, die auf das Gemeinwohl ausgerichtet sind, weisen zwangsläufig und unausweichlich Eliten auf« 9 Patrick Deneen: Regime Change. Towards A Post-Liberal Future, New York City 2023, S. 93: »Social, political, and economic arrangements ordered to the »good that is common« will necessarily and inescapably have elites« , schreibt Deneen. Die Frage ist bloß, welche Eliten das sind und ob sie wirklich dem Gemeinwohl verpflichtet sind. Sein Ideal nennt Deneen Aristopopulismus, also »eine Verbesserung der Aristokratie durch einen kraftvollen Populismus, und dann wiederum eine Verbesserung des Volkes durch eine bessere Aristokratie.« 10 Patrick Deneen: Regime Change. Towards A Post-Liberal Future, New York City 2023, S. 147: »A better aristocracy brought about by a muscular populism, and then, in turn, an elevation of the people by a better aristocracy« Letztlich ist es eine Anleitung, wie die Elite die Herzen der Arbeiterklasse zurückgewinnen kann.
Wie reaktionär ist die Mehrheit wirklich?
Sein Zerrbild der Arbeiterklasse hat wenig mit der Realität zu tun. Die Mehrheit der Menschen steht bei Deneen voll hinter seinem reaktionären politischen Projekt. Der Erfolg der Rechtspopulisten weltweit zeigt für ihn, dass die meisten Menschen vom Liberalismus nichts wissen wollen, egal ob er eher kulturell progressiv oder eher wirtschaftsnah und -liberal daherkommt 11 Patrick Deneen: Regime Change. Towards A Post-Liberal Future, New York City 2023, S. XIII: »The populist backlash around the world […] rejects the economic »neoliberalism« of the post–Cold War American imperium, demanding political and economic boundaries, protection of national industries, a robust social safety net, greater worker protections, and a more muscular prevention and even dismantling of monopolistic concentrations of economic power. Equally, it pushes back against the social liberalism of progressives, opposing the self-loathing embedded in contemporary approaches to national history, combatting the sexualization of children, seeking limits on pornography, rejecting the privatization of religious belief, and even has achieved an overturning in the legal domain of the libertarianism at the heart of America’s half-century abortion regime.« :
Der weltweite populistische Backlash […] fordert politische wie wirtschaftliche Grenzen, den Schutz der nationalen Industrien, ein solides soziales Sicherheitsnetz, einen besseren Schutz der Arbeitnehmer und eine energischere Verhinderung und sogar Zerschlagung von monopolistischen Machtkonzentrationen in der Wirtschaft. Ebenso wehrt er sich gegen den Sozialliberalismus der Progressiven, indem er sich gegen den Selbsthass im Blick auf die eigene Nation wendet, die Sexualisierung von Kindern bekämpft, Grenzen für Pornographie anstrebt, die Privatisierung des religiösen Glaubens ablehnt und sogar erreicht hat, dass das ein halbes Jahrhundert dauernde liberale amerikanische Abtreibungsregime auf juristischem Wege überwunden wurde.
Ob diese Erzählung stimmt, ist zweifelhaft. Zwar bezeichnen sich tatsächlich immer mehr Wähler als »konservativ«, 12 https://news.gallup.com/poll/506765/social-conservatism-highest-decade.aspx aber das Abtreibungsverbot musste gerade auf juristischem Weg durchgesetzt werden, weil es weit davon entfernt ist, mehrheitsfähig zu sein. 13 https://fivethirtyeight.com/features/dobbs-abortion-opinion-liability-republicans/ Sogar im Gegenteil: Nicht nur sind so viele Amerikaner wie nie für mehr Abtreibungsrechte, auch sind sie zunehmend für völlig uneingeschränkte Abtreibungsrechte. 14 https://fivethirtyeight.com/features/americans-increasingly-against-abortion-limits/ Und 71 Prozent der Amerikaner befürworten die Ehe zwischen zwei homosexuellen Partnern inzwischen. 15 https://news.gallup.com/poll/1651/gay-lesbian-rights.aspx
Es gibt Momente in diesem Buch, in denen Deneen zugibt, dass der Ausgangspunkt seiner idealen politischen Ordnung nicht die Mehrheit der Menschen ist – auch nicht die Mehrheit derer, die noch mit ihren eigenen Händen Mehrwert produzieren – sondern schlicht die Werte, die ihm persönlich am wichtigsten erscheinen. Sein Konservatismus, so Deneen, »beginnt (!) mit dem Primat der Familie, der Gemeinschaft und derjenigen menschlichen Werte, die nur durch die Bemühungen einer politischen Gemeinschaft gesichert werden können – und nicht mit dem Primat des Individuums.« 16 Patrick Deneen: Regime Change. Towards A Post-Liberal Future, New York City 2023, S. 94: »This »conservatism« […] begins with the primacy of the family, community, and the human goods that can only be secured through efforts of the political community—and not with primacy of the individual.« Da er diese Werte bereits voraussetzt, ist es nicht verwunderlich, dass er sich die Mehrheit der Menschen einfach zu diesem Ideal zurechtbiegt.
Ganz falsch liegt er mit seiner Analyse allerdings nicht. So konnte Trump seinen Vorsprung bei Wählern ohne College-Abschluss bei der letzten Präsidentschaftswahl weiter ausbauen. Die laut Nachwahlbefragungen wichtigsten Themen: Wirtschaft und Migration. Während für die Demokraten seit den 1970er Jahren und bis zur Wahl von Joe Biden die Wirtschaft wahlkampfrhetorisch immer mehr in den Hintergrund trat, rückte die kulturelle Sphäre als Gradmesser des Fortschritts in den Vordergrund. Trotz Bidens bemerkenswerter Industriepolitik scheint sich daran nichts grundlegend geändert zu haben, wie der desaströse Wahlkampf von Kamala Harris gezeigt hat.
Deneen hingegen steht für einen Konservatismus, der es mit der Verteidigung seiner Werte – allen voran Tradition, Stabilität und Gemeinschaft – insofern ernst meint, als er die Rolle des freien Marktes bei deren Zerstörung nicht ausspart. Zudem lassen sich die meisten Menschen nicht nur vom Staat, sondern auch von ihren Chefs nur ungern etwas vorschreiben. Den Siegeszug der Rechtspopulisten hat er bereits in seinem Erstlingswerk als Versuch der Mehrheit verstanden, die Souveränität sowohl über staatliche wie wirtschaftliche Strukturen zurückzugewinnen. Angesichts der vergangenen Jahrzehnte, in denen sich die wirtschaftspolitischen Ausrichtungen der US-Regierungen nur in der konkreten Ausgestaltung einer arbeiterfeindlichen und unternehmerfreundlichen Politik unterschieden, ist seine These, dass es auch unter konservativen Arbeitern ein Bedürfnis nach einer sozialdemokratischeren Wirtschaftspolitik geben könnte, durchaus berechtigt.
Raus aus der Stadt
Nun legt er einen Vorschlag vor, wie dieses potenzielle Elektorat zusammen mit einer anderen Elite eine neue politische Ordnung abseits liberaler Prinzipien schaffen soll – eine »mixed constitution«, in der sich Volk und Elite vermischen. Was das heißt, bleibt seitenlang unklar, so blumig schreibt er von der »inneren Harmonie« einer solchen Verfassung, deren »verschiedene Teile nicht mehr als Einzelteile wahrgenommen werden könnten«, sondern ineinander »verschmelzen« würden. 17 Patrick Deneen: Regime Change. Towards A Post-Liberal Future, New York City 2023, S. 127: »The genuinely »mixed constitution« becomes a »blending« of the various parts, no longer discernible as internally divided because it has achieved an internal harmony« Klar ist: Gemeint sind damit nicht ein paar checks and balances.
Auch wenn er seine Vermischung von Volk und Elite in einer politischen Ordnung mit seitenlangen Ausführungen über Tocqueville und Aristoteles zu intellektualisieren versucht, wird erst deutlich, was er meint, wenn man sich seine konkreten Vorschläge anschaut. Da ist zum Beispiel der Vorschlag, Washington D.C. als Stadt aufzulösen. In Zeiten von Telefon und Zoom-Konferenzen gebe es schließlich keinen Grund mehr, die Regierung zu zentralisieren. Statt sich auf diese eine Stadt und einige wenige Stadtteile zu konzentrieren, sollten die politischen Entscheidungsträger über das ganze Land verteilt werden 18 Patrick Deneen: Regime Change. Towards A Post-Liberal Future, New York City 2023, S. 172: »Across the nation there are many affordable if struggling cities with beautiful, if deteriorating, buildings that would greatly benefit from the redistribution of jobs, an educated workforce, and a morale boost. Better still, those who circulate only with other denizens of DC would now work alongside people from other walks of life and would unavoidably encounter those with very different life circumstances.« :
Im ganzen Land gibt es viele erschwingliche, wenn auch angeschlagene Städte mit schönen, wenn auch verfallenden Gebäuden, die von der Umverteilung von Arbeitsplätzen, gut ausgebildeten Arbeitskräften und einem Motivationsschub sehr profitieren würden. Besser noch: Diejenigen, die nur mit anderen Bewohnern von DC verkehren, würden nun mit Menschen aus anderen Gesellschaftsschichten zusammenarbeiten und unvermeidlich auf Menschen mit ganz anderen Lebensumständen treffen.
Wie genau die Menschen dazu gebracht werden sollen, bleibt unklar. Man ahnt aber, dass die Nutzung des Gewaltmonopols eine zentrale Rolle dabei spielt, wenn er schreibt, dass man die »politische Ordnung« nutzen müsse, um das Gemeinwohl zu fördern.
Mit kreativen Mitteln packt der Staat zu
Dass es auch sonst darum geht, den gesamten Staatsapparat gegen den Einzelnen in Stellung zu bringen, wird auch an einem anderen Vorschlag zur Vermischung von Volk und Elite deutlich: Deneen will nicht nur die Wehrpflicht wieder einführen, sondern plädiert darüber hinaus für weitere Pflichtdienste für das Gemeinwohl. Insgesamt, so schreibt er, müssten die Menschen »mit kreativen Mitteln zur Teilnahme an dem neuen Regime gezwungen werden.« 19 Patrick Deneen: Regime Change. Towards A Post-Liberal Future, New York City 2023, S. 175: »They should be forced through creative means into participation in a new regime of »mixed government«.« Wie kreativ diese Mittel sind, zeigen nicht nur seine konkreten Vorschläge. An anderer Stelle nennt er sein Ziel schlicht die »unverblümte Ausübung politischer Macht« 20 Patrick Deneen: Regime Change. Towards A Post-Liberal Future, New York City 2023, S. 164: »The raw assertion of political power by a new generation of political actors inspired by an ethos of common-good conservatism.« durch eine neue Elite.
Kann eine solche durch Zwang und autoritäre Maßnahmen geformte Gesellschaft das von Deneen beschworene Gemeinwohl erreichen? Die Geschichte legt nahe, dass solche Ansätze oft weniger eine Gemeinschaft schaffen als die Herrschaft einer kleinen Elite zu sichern. Seine Vision einer politischen Ordnung birgt das Risiko, dass Freiheit und Pluralismus geopfert werden, ohne dadurch die versprochene Stabilität und Gerechtigkeit zu realisieren.
Wer sich vom Staat mehr vorschreiben lassen will, der ist bei den Postliberalen also gut aufgehoben. Egal ob man sich von aktivistischen Richtern die Ehe für nicht-heterosexuelle Paare verbieten lassen will; ob man sich freut, wenn Abtreibungen wieder unter lebensgefährlichen Bedingungen stattfinden müssen; oder ob man sich Jahre seines Lebens für einen Pflichtdienst wegnehmen lassen will – für den totalisierenden Zugriff des Staates auf jeden Einzelnen sind die Postliberalen zu haben. Attraktiv ist das eigentlich nur für diejenigen, die anderen etwas vorschreiben wollen und die Macht dazu haben.
Für die Elite auf der Ersatzbank handelt es sich bei Regime Change also tatsächlich um eine hilfreiche Anleitung, wie sie endlich an die Macht kommen. Für alle anderen ist es eine Warnung, was passiert, wenn sie eingewechselt wird. Für den ersten Postliberalen wird es schon bei der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten am 20. Januar der Fall sein. Aber nicht alle Schritte, die Deneen in seinem Handbuch beschreibt, werden die Postliberalen umsetzen können, auch wenn sie den Vizepräsidenten stellen. Wie schon 2016 dürften die Chancen, dass sich Amerika endlich in das halbtheokratische Paradies für konservative Arbeitnehmer verwandelt, nach dem sich die Postliberalen anscheinend sehnen, eher gering sein.