»Private Government« von Elizabeth Anderson
Die Levellers, John Locke und Adam Smith – alles „linke“ Denker? Elizabeth Anderson problematisiert Unternehmen als „private governments“ und legt sich grundlegend die Frage vor, wie es dazu kommen konnte. Herausgekommen ist ein entleerter Egalitarismusbegriff auf tönernden historischen Füßen, wie Victor Loxen in seinem neuen Beitrag schreibt.
„Denken? Abstrakt?“ 1 G.W.F. Hegel, „Wer denkt abstrakt?“, S. 574, in: Eva Moldenhauer/Karl M. Michel (Hgg.), Werke. Bd. 2, Frankfurt a. M. 1979, S. 574-581. fragt uns posthum Georg Wilhelm Friedrich Hegel zu Beginn eines eigentlich schon 1807 entstandenen Essays. Lassen wir diese Fragen für einen Moment im Raume widerhallen.
Elizabeth Andersons Tanner Lectures on Human Values (2015) an der Princeton University warten mit dem scheinbaren Oxymoron „Private Government“ im Titel auf und versprechen also ein subversives Pamphlet gegen die Despotie privater Organisationen. Die Einleitung der Autorin stellt denn auch die prekäre Situation der US-amerikanischen Arbeitnehmer:innen heraus. Während der Staat der verfassungsrechtlichen Hegung unterworfen ist, könnten private Unternehmen ohne substantielle Grenzen Herrschaft über ihre Angestellten ausüben. Das Urinieren in Flaschen mangels faktischer Pausenzeiten ist da nur das berüchtigtste Beispiel. Doch an dieser Stelle, schon auf Seite XIX der Einleitung immerhin, muss die erste Wendung ins Konkrete vollzogen werden. Denn bereits die Rechtslage kann nur unter Mühen aus den USA abstrahiert werden. Die Doktrin der „state action“, also die Begrenzung des verfassungsrechtlichen Schutzes allein auf staatliches Handeln, lässt sich in der deutschen Arbeitsrechts- und Verfassungsdogmatik seit den 1950er Jahren vergeblich suchen. Tatsächlich ist der zweite Vortrag „Private Government“ deshalb für die Bundesrepublik analytisch nur mäßig folgenschwer und bietet auch kaum Neues 2 Die Firmentheorie wird nur gestreift und die Idee einer nicht nur staatlich gedachten Demokratie ist auch nichts neues, vgl. nur die Demokratie als „Lebensform“ in John Dewey, Democracy and Education. , zumal die hiesigen Verhältnisse explizit der Seite der Lösungen zugeschlagen sind (vgl. 70).
Victor Loxen
Erheblich anregender, vor allem für kritische Leser und Leserinnen, ist die historische Grundlegung im ersten Vortrag „When the Market Was ,Left‘“. Was sich kontraintuitiv geriert ist es auch, und wir dürfen mit den ersten Sätzen frühzeitig das ganze Elend einer geistesgeschichtlichen Planierraupe auf 36 Seiten erahnen. Das Ideal eines freien Marktes sei ein Anliegen der Linken gewesen, wobei diese Standortbestimmung in der politischen Gesäßgeographie als grob „egalitär“ ausgewiesen wird. Egalitär –, was genau bedeutet das hier? Paradigmatisch für dieses Streben nach „Gleichheit“ stehen der Autorin zufolge die Levellers des englischen Bürgerkrieges, aber auch die Kräfte hinter der Französischen und Amerikanischen Revolution seien in dieser eigentümlichen „Linken“ beheimatet. Jene Levellers haben bekanntlich gegen den Zunftzwang, die Staatsmonopole und die ubiquitären Zölle gewettert, in Sonderheit aber setzten sie sich für politische Partizipationsrechte und rechtliche Gleichheit ein. Gleichsam waren sie Verteidiger eines naturrechtlich grundierten Eigentums. Merkwürdigerweise schiebt Anderson die simultan aktiven Diggers, die auf eine egalitäre Neuverteilung der sich rasant entfeudalisierenden Eigentumsverhältnisse drängten, in der ersten Anmerkung klandestin beiseite. Hätte die Autorin zwischen den Diggers und den Levellers ein Kriterium der Unterscheidung gesucht, wären uns die folgenden Ausführungen vielleicht erspart geblieben. Geschehen ist das nicht. Vielmehr wird im weiteren Verlauf John Locke als rechtmäßiger Erbe der Revolutionäre um Thomas Rainborough präsentiert – damit ebenfalls ein echter anti-absolutistischer „Linker“, Kämpfer gegen „social hierarchy“ (15f.). In dieser Liste dürfen ferner liberale Avantgardisten wie Adam Smith und Demokraten wie Thomas Paine nicht fehlen, wobei Letzterer aufgrund seiner strikt anti-etatistischen, lockeanischen Gesinnung im „linken“ Lager Andersons campiert.
Der Leser durchläuft mithin eine tour de force vollkommener Differenzlosigkeit sowie Gleichgültigkeit gegenüber der sonstigen Literatur, die die skizzierten Ideenkreise und genannten Protagonisten als klassische Phänomene eines aufstrebenden, und dann revolutionären Bürgertums kennt, das die rechtliche Gleichheit in der Kategorie des citoyen 3 Vgl. zu Marxens Sicht Christoph Menke, Kritik der Rechte, S. 7ff. und die ökonomische Freiheit des Privateigentums 4 Vgl. zum Privatrecht und Eigentum konzis Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (1963), S. 19 Fn. 1; zur liberalen Tradition um Locke und Smith in Amerika, vgl. Gary Gerstle, Liberty and Coercion, S. 18ff. polemisch gegen den Adel in Stellung bringt. Den Aspekt des Bürgers als bourgeois, also als ökonomischer Akteur in einem keineswegs egalitären Kapitalismus nimmt Anderson zwar flüchtig zur Kenntnis, wischt ihn indes – entsprechend ihres eigenen philosophischen Entwurfes (vgl. „What is the Point of Equality“, 1999) – hastig als bloß sekundär, ergo: ephemer zur Seite. Die Bekämpfung von „social hierarchy“ sei „more fundamental“ (8). Dieser vulgäridealistischen Voreinstellung gemäß wird die Beschäftigung mit Marx zur Farce. Smiths prosaische Formulierungen des eigenen Modells einer formal gleichen Marktinteraktion vergleicht die Verfasserin mit Marxens ornamentalen Beschreibungen des Verhältnisses von Arbeiter und Kapitalist, um die moralische Kategorie des Egoismus 5 Nota bene im Gegensatz zum jungen Marx der Judenfrage, vgl. Karl Marx, „Zur Judenfrage“, in: Karl Marx/Friedrich Engels, MEW Bd. 1, S. 347-377; dazu: „der Egoismus ist überhaupt keine rechtstheoretische oder gesellschaftskritische Kategorie (sondern eine moralische)“, Christoph Menke, Kritik der Rechte, S. 10. auszuschlachten. Es gibt freilich nichts, das den Marx des „Kapitals“ weniger interessierte, als die moralischen Allüren und Befindlichkeiten der jeweiligen Klassenvertreter. Dass Marx die bürgerliche – vulgo: egalitäre – Gesellschaft überhaupt so kritisch sehen konnte, liegt laut Anderson an der der bürgerlichen Ordnung scheinbar externen und ihrer Ansicht nach wohl allein durch technische Entwicklungen gezeitigten Industrialisierung. Ehe sie einsetzte, konnte Smith noch eine „deeply humane vision“ (22) der Marktgesellschaft hervorbringen – man erinnere Helmut Schmidts Diktum – und Lockes Republikanismus ist keinesfalls die tendenziell wieder konservativere Konzeption der Herrschaft von Landeigentümern in England 6 Vgl. aber Neal Wood, John Locke and Agrarian Capitalism, S. 38, 70, passim. sowie einer gewaltsamen Landnahme in der Neuen Welt 7 Vgl. statt vieler Barbara Arneil, Locke and America, passim. , sondern eben in Wohlgefallen aufgelöster, „sozialer“ Egalitarismus. Der exogene Schock der Industrialisierung destruiert diese bürgerliche Idylle, besser: Geschichtsphilosophie irgendwann und irgendwo zwischen kurz vor 1800 (technisch, vgl. 22) und 1865 (Ende des Sezessionskrieges, vgl. 31f.), womit, folgt man der Verfasserin, erst die eigentlichen Probleme beginnen. Der republikanische agrarianism eines Thomas Jeffersons sei durch diese radikale Umwälzung der Wirtschaft zunichte gemacht worden. Das bukolische Idealbild einer ökonomisch unabhängigen yeomanry als Basis der Republik mit den tatsächlichen Miseren der industriellen Revolution zu vergleichen, ist jedoch eine Geschichtsbetrachtung nah am Kategorienfehler. Eine autarke Agrargesellschaft hat es in Amerika schon vorher, etwa in der Zeit des permanenten Preemption Acts von 1841, nicht gegeben. 8 Vgl. Louis M. Hacker, The Triumph of American Capitalism, S. 118ff.. Das gilt erst recht für das „enge“ England. 9 Christopher Hill, Pottage for Freeborn Englishmen: Attitudes to Wage Labour in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, S. 340, 348f., in: C. H. Feinstein (Hg.), Socialism, Capitalism and Economic Growth, S. 338-350. Die sozialen Folgen der Industrialisierung sind dann allerdings, im schnellen Wechsel der Kategorien, wiederum in streng moralisch-politischem Vokabular gehalten. So bräche sich eine „esteem hierarchy“ (33) Bahn und sogar die eigentlich sozio-ökonomische Kategorie des Klassenkampfes wird zu einem ideellen „anti-capitalist class conflict“ (25) amalgamiert. Was immer das bedeuten soll.
Der gesamte erste Vortrag ist eine beispielhafte Vorführung dessen, was Hegel in dem eingangs erwähnten Essay als schlechte Abstraktion aufweist. Die Vortragende entfernt den Begriff der rechtlichen Gleichheit aus der konkreten historischen Konfliktlage des 18. Jahrhunderts und subsumiert jedes gesellschaftliche Verhältnis – ob Bürgertum zu Adel, ob Arbeiter zu Bürgertum – unter diesen anachronistischen Maßstab. Im zweiten Teil ist übrigens das Unternehmen als „private government“ demgemäß kein durch die innere Logik des bürgerlichen Rechts möglich gewordenes Mittel der Kapitalakkumulation, 10 Vgl. zur bürgerlichen Gleichheit als Voraussetzung des Kapitalismus, vgl. Karl Marx, Das Kapital. Bd. 1 [MEW, Bd. 23], S. 183; Christoph Menke, „Die ›andre Form‹ der Herrschaft. Marx’ Kritik des Rechts“, in: Rahel Jaeggi/Daniel Loick (Hgg.), Nach Marx, S. 273-295. sondern ein „communist dictatorship“ (37). Aus der dargelegten begriffshistorischen Verirrung resultiert letztlich eine Verfallsgeschichte mit allenfalls dürftiger historischer Fundierung. 11 Ob etwa die Levellers wirklich dermaßen egalitär, insbesondere feministisch, eingestellt waren, hat Ann Hughes in einem Kommentar in der vorliegenden Edition (75-88) überzeugend angezweifelt. Für eine ernsthafte Darstellung des Egalitarismus hätte die Verfasserin mehrdimensional (citoyen/bourgeois) und kontextualisierend Entwicklungslinien von den Diggers 12 Vgl. zu den Diggers im Übrigen übersichtsartig George H. Sabine, History of Political Theory, S. 490-495; klassisch Eduard Bernstein, Sozialismus und Demokratie in der grossen Englischen Revolution. über Babeuf zu Marx; von den Levellers, über Locke zu Herbert Spencer und entsprechende Verstrebungen einziehen müssen. Für „Private Government“ gilt dagegen: Sauve qui peut!