Die Freiheit führt das Volk (1830), Eugène  Delacroix

Quo vadis, Moderne?

Dasjenige Ereignis, das wie kein zweites die Krise des Absoluten markiert, ist die Französische Revolution – und mit ihr das Heraufkommen der modernen Ökonomie, schreibt Daniel-Pascal Zorn. Kann der Mensch noch der absoluten Vergesellschaftung entgehen?

Dasjenige Ereignis, das wie kein zweites die Krise des Absoluten markiert, ist die Französische Revolution. Sie steht dabei keineswegs nur für das heroische Motiv einer erfolgreichen Selbstermächtigung. Auch die Phase des Terrors und der Staatsstreich im November 1799 – dem 18. Brumaire des VIII. Jahres des republikanischen Kalenders –, in dem Napoleon die Macht an sich reißt, repräsentieren diese Krise. Die Französische Revolution steht nicht nur für die Eroberung und den Sturz des Absoluten, an dessen Stelle die ›Vernunft‹ eingesetzt wird, sie steht auch für die Pervertierung und Instrumentalisierung dieser ›Vernunft‹. Einer ›Vernunft‹, die nurmehr den absoluten Willen eines Einzelnen – sei es Maximilien de Robbespierre, sei es Napoleon Bonaparte – verschleiert. Doch die Französische Revolution ist nicht die einzige Revolution, die das Leben der Menschen für immer verändern wird.

Die zehn Jahre von 1789 bis 1799, vom Sturm auf die Bastille bis zur militärischen Entmachtung des Parlaments, finden in einer Zeit statt, die später – in Anlehnung 1 Hans-Werner Hahn: Die industrielle Revolution in Deutschland, München 32011, S. 51.  an die politische Umwälzung – ebenso genannt wird: die industrielle Revolution. Die Einführung von Produktionsmaschinen, Innovationen in der Arbeitsorganisation und der Motor des Dreischritts Effizienz-Profit-Wettbewerb verändern die Ökonomie des Vorreiterlandes England, bald aber auch die Ökonomien der anderen europäischen Staaten von Grund auf.

Für die meisten Menschen rückt an die Stelle der Selbsterhaltung durch Landwirtschaft die abstrakte Produktion von Rohstoffen und deren Weiterverarbeitung in Fabriken. Durch die fortlaufende Steigerung der Produktion und die Erschließung neuer Absatzmärkte benötigen diese Fabriken immer mehr Arbeitskräfte. Während das Absolute in Religion und Politik immer mehr unter Druck gerät, schickt sich die Ökonomie an, die werdende bürgerliche Gesellschaft zu bestimmen.

Daniel-Pascal Zorn

Daniel-Pascal Zorn ist promovierter Philosoph, Historiker und Literaturwissenschaftler. Er lehrt und forscht in Wuppertal und ist Autor beim Klett-Cotta-Verlag. Dort erschienen sind »Logik für Demokraten«, »mit Rechten reden« und »Das Geheimnis der Gewalt«. Im März 2022 ist sein neues Buch »Die Krise des Absoluten« erschienen.

Auch in der Philosophie finden diese Entwicklungen ihr Echo. Aus ihr ist die Frage nach dem Absoluten hervorgegangen und sie ist es auch, die am längsten an dieser Frage festhält. Sie ist noch ganz gefesselt von dem Streit um das wahre Prinzip, eingebunden in subtile Begriffsunterscheidungen, als politisch und ökonomisch Tatsachen geschaffen werden. Der Aufstieg der Wissenschaften, der die Durchsetzung technologischer Neuerungen begleitet, und die Verabschiedung der absoluten Herrschaft sorgen dafür, dass der Religion in der neuen Gesellschaft nur noch eine untergeordnete Rolle zukommt.

In wenigen Jahrzehnten verschieben sich Koordinaten, die das Leben der meisten Menschen für Jahrhunderte bestimmt haben. Ein gewaltiger Riss klafft zwischen dem Gestern und dem Heute und er lässt das Morgen zugleich verheißungsvoll und bedrohlich aussehen. Die Geschichte wird selbst zu einer Ressource, wird machbar. Bald darauf setzt der Streit ihrer Produzenten ein, die ganz verschiedene Vorstellungen davon haben, wie sie sich in Zukunft weiterentwickeln soll.

Die Furie des Verschwindens

Für Joachim Ritter ist Hegel der Philosoph dieser Zeit des Umbruchs. In dem 1956 erschienenen Text Hegel und die französische Revolution steht er, wie vor ihm Augustinus und Cusanus, für einen Bruch in der Zeit, eine Krise, die Wirklichkeit und Denken gleichermaßen erfasst. In Hegels Philosophie, so Ritter, wird »das Problem der … Zeit und der Gesellschaft ausgetragen …, die politisch mit der Revolution in Frankreich und – ebenso umwälzend – mit der Ausbildung der Industrie in England aufkommt und im Begriffe steht, die jetzige Wirklichkeit zu werden.« 2 Joachim Ritter: Hegel und die französische Revolution (1956), in: Ders.: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt a. M. 2003,
S. 183–233: 189.

Für Ritter stellt Hegel nicht einfach irgendeine philosophische Theorie auf, die man dann als ›absoluten Idealismus‹ etikettieren könnte. Er stellt sich vielmehr die Frage, wie das, was die Vernunft als »die Gegenwart dessen, was immer war, immer ist und immer sein wird«, begreift, und wie es vor allem in dieser neuen Wirklichkeit, »in dem gegenwärtigen Zeitalter gefunden und als seine Wahrheit begriffen werden kann«. 3 30  Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 190. Diese Gegenwart ist durch die Umwälzung aller Lebensbereiche »fragwürdig und zum Problem geworden« und es ist die Aufgabe der Philosophie, das »Wesen der geschichtlich-politischen Gegenwart« auszubuchstabieren.

Hegel sieht, so Ritter, sehr genau, dass die Krise des Absoluten nicht einfach nur eine Frage philosophischer Begriffsbildung ist. Je weiter die europäische Diskussion um das Absolute gediehen ist, desto weiter hat sich das Göttliche zurückgezogen. Diejenigen zeitgenössischen theologischen Strömungen, die den Glauben in die Innerlichkeit und das Gefühl hinein verlegen, sind Ausdruck dieses Rückzugs.

In dieser Rückzugsbewegung ins Subjekt versucht der religiöse Glaube, »das Göttliche … aus der gottlos gewordenen Gegenwart in das Innere und in die Natur« zu »rette[n]«, auf Kosten der »Wahrheit des Göttlichen« in der Welt und in hilfloser Anerkennung der allseitigen »Emanzipation« von ihm, die sich im säkularen und religionskritischen Bürgertum bald zu zeigen beginnt. Dieser Rückzugsort ist die »Subjektivität«, der schillernde Begriff, in dem sich alles Innere ausdrückt, was den Menschen bewegt. In der »romantische[n] Flucht aus der Wirklichkeit setzt sie voraus, dass das Göttliche die Macht über die objektive Realität verloren hat.« 4 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 191.  Doch sie hört nicht auf, nach dem Absoluten zu suchen – und nimmt als erstes sich selbst in Augenschein.

Die Feier der neuen Innerlichkeit und die romantisch verzauberte Natur sind nicht nur Ausdruck einer ästhetischen Mode. Sie bilden zusammen auch das Residuum, in dem sich das immer weiter aus dem Leben der Menschen verdrängte Absolute noch zeigen kann. Während die Projektion des Absoluten in das Innenleben dieses immer weiter vergrößert und ausgestaltet und zu einem Unbewussten hin vertieft, verwandelt sich das Absolute durch die wissenschaftliche Forschung in die unermessliche Entfaltung lebendiger Vielfalt in der Natur, aus der es wiederum bald in das Leben selbst übergeht. Das Absolute verschanzt sich so in der Tiefe des subjektiven Innenlebens und in der nicht reduzierbaren Voraussetzung des lebendigen Organismus. Insbesondere in der letzteren Version nimmt es bald totalitäre Züge an.

»Freiheit und Willkür sind begriffliche Nachbarn. Schnell kann die eine in die andere übergehen, die Französische Revolution hat es gezeigt.«

Wo das Absolute aus Staat und Gesellschaft vertrieben wurde, hat augenscheinlich die Freiheit seinen Platz eingenommen. Doch Freiheit und Willkür sind begriffliche Nachbarn. Schnell kann die eine in die andere übergehen, die Französische Revolution hat es gezeigt. Die Philosophie kann also nicht einfach in die Innerlichkeit oder in die Natur ausweichen. Sie muss sich, so Hegel, der Frage stellen, wie Staat und Gesellschaft nach der Vertreibung des Absoluten aussehen müssten, damit die Freiheit erhalten bleibt und eben nicht in Willkür umkippt.

Dafür reicht eine Phänomenologie des Geistes nicht aus. Das »Problem der Emanzipation« muss »in seiner ganzen Radikalität« konfrontiert werden. Hegel tut das, »indem er die Hilfe der Einen Philosophie«, des an der Vernunft orientierten Denkens, »herbeiruft und ihre Theorie zur Theorie der Zeit und der sich in ihr vollziehenden Umwälzung macht.« 5 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 192.  Noch einmal erhebt sich die Philosophie und macht sich zum kritischen Maßstab einer neuen Gestalt der Geschichte: der bürgerlichen Gesellschaft, die nach der französischen Revolution im Entstehen begriffen ist.

Für Ritter »gibt [es] keine zweite Philosophie, die so sehr und bis in ihre innersten Antriebe hinein Philosophie der Revolution ist wie die Hegels.« Die Revolution, die für die Krise des Absoluten steht, ist für Hegel das Grundproblem seiner Epoche. Ihre Auswirkungen zeigen sich überall, von den Revolutionskriegen und den Eroberungsfeldzügen Napoleons bis zur Konterrevolution der ›Heiligen Allianz‹ und der von ihr vorangetriebenen Restauration, die in die zweite Lebenshälfte Hegels fällt.

Doch Hegel ist kein Reaktionär, der die Revolution als Verlust des Ewiggestrigen beklagt. Im Gegenteil: Er bleibt bis ins hohe Alter ein Freund der Revolution, für den die »Erfahrungen des Terrors« untrennbar verbunden sind mit dem Sieg der Freiheit, den diese Revolution für Hegel weltgeschichtlich bedeutet. Die Revolution ist beides, Freiheit und Willkür. In Hegels Verständnis gehört »der Enthusiasmus für das, was mit ihr in die Geschichte getreten ist« und das »Wissen um die Ungelöstheit ihrer Probleme und um die Notwendigkeit ihres Zusammenbruchs als ›Tyrannei‹ zusammen.« In dieser widersprüchlichen Verbindung hat die Revolution also »das Problem gestellt, das die Epoche auszutragen hat.« 6 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 196.

Hegels Philosophie ist eine Philosophie der Freiheit. In ihr findet das philosophische Denken sein »Grundelemen[t]« und seinen »einzigen Stof[f]«. 7 Zitiert nach Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 197. Weil auch die Revolution, d.h. die Befreiung vom Absoluten, einen geschichtlich nicht mehr überbietbaren Anspruch auf die Freiheit erhebt, wird »die Philosophie auf diese Weise zur Theorie der Zeit«. Indem die Philosophie »die politische Freiheit der Revolution in ihrem Wesen zu begreifen« lernt, versteht sie die Natur des Problems besser, das durch dieses Wesen gestellt wird. Philosophisch ist Freiheit für Hegel »der Stand des Menschen, in dem er sein Menschsein verwirklichen und so er selbst sein … kann.« 8 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 197.  Wird die neu errungene politische Freiheit diesem Begriff gerecht? Garantiert sie »das Selbstseinkönnen des Menschen«? 9 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 198. Wie muss, fragt sich Hegel, ein Staat aussehen, der diese Errungenschaft garantiert?

Ritter fasst zusammen: »Das Problem … liegt darin, die Rechtsform der Freiheit zu finden und … eine Rechtsordnung auszubilden, die der Freiheit des Selbstseins angemessen ist« 10 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 199. . Die Revolution hat »zum ersten Male die politische Freiheit als Recht« eingefordert und mit diesem Schritt »das Selbstseinkönnen des Menschen« nicht in Bezug auf besondere Einzelne, sondern »universal« und damit »im Verhältnis zu allen Menschen zum Prinzip und Zweck der Gesellschaft und des Staates erhoben.« Es gilt, diesen Anspruch des Selbstseinkönnens auf Wege seiner Entfaltung zu prüfen, die seine Realisierung nicht in Willkür und Tyrannei enden lassen. Die Revolution ist nicht mehr rückgängig zu machen. Der Weg in die Vergangenheit ist versperrt. »Jede gegenwärtige und künftige Rechts- und Staatsordnung muss von dem universalen Freiheitsprinzip der Revolution ausgehen und es voraussetzen11 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 201.

Doch die Frage nach der Freiheit greift noch weiter aus. Sie betrifft nicht nur die Staats- und Gesellschaftsform, sondern sie betrifft auch das Verständnis von Geschichte selbst. Für Hegel gibt es einen Unterschied zwischen Geschichte und Weltgeschichte: das Prinzip der Weltgeschichte ist »[d]ie Einheit von Freiheit und Menschsein«: »Geschichte [wird] dann zur Weltgeschichte …, wenn sie den Menschen … zu ihrem Subjekt hat.« Mit der Revolution ist der Mensch zum Subjekt der Geschichte geworden. Von nun an kann es nur noch eine Geschichte seiner Freiheit geben, nämlich die Weltgeschichte als Entfaltung dieser Geschichte der Menschheit.

Doch die Freiheit ist in der Revolution in Willkür umgeschlagen. Die Philosophie muss also, in einem Gedankenexperiment, eine alternative Geschichte entwerfen, in der die Freiheit, die durch die Revolution ermöglicht wurde, eine stabile und produktive Ordnung hervorbringt. Diese Ordnung ist der »Schlüssel … zu der verschütteten und« durch den Terror der tatsächlichen Revolution »in Frage gestellten positiven Bedeutung der … Zeitenwende«. 12 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 199.

Tertium non datur

Bevor sich Ritter Hegels Projekt zuwendet, räumt er jedoch noch mit einem Missverständnis auf, das der Philosoph Rudolf Haym in die Welt gesetzt hat. Für Haym ist insbesondere der späte Hegel ein Vertreter der Reaktion, ein Philosoph im Dienst des preußischen Staatsverständnisses. Die Grundlinien der Philosophie des Rechts, in denen Hegel die genannte Aufgabe durchführt, sich dem von der Revolution aufgeworfenen Problem zu widmen, sind für Haym Ausdruck einer »Vergottung des Staates« 13 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 185. . Hegels berühmten Satz »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig« 14 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede, S. 24.  kann Haym nur als Bekräftigung dieses Urteils verstehen: Hegel will damit offenbar den Staat, wie er ist, als »vernünftig« ausweisen, schreibt er doch selbst, dass es ihm nicht darum geht, »einen Staat, wie er sein soll«, zu »konstruieren«, sondern »vielmehr, wie er … erkannt werden soll.« 15 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede, S. 26.  Und erkannt werden kann ja nur das, was schon da ist.

Ritter nähert sich Hayms Verdikt mit Verständnis. Aus der Perspektive des 1821 geborenen Haym, so Ritter, muss Hegels Rechtsphilosophie wie ein Relikt aus einer überkommenen Vergangenheit erscheinen. Hayms Vorlesungen Hegel und seine Zeit werden 1857 veröffentlicht. Zu dieser Zeit hat sich die Entwicklung, die aus Hegels Sicht noch in der Spannung der Krise stand, bereits selbst überholt und sich in einer neuen Ordnung verfestigt.

In der »modernen Gesellschaft«, aus der heraus Haym schreibt, so Ritter, »haben … die Hegelschen Begriffe des Seins, des Göttlichen, des Absoluten jeden positiven Inhalt und jede gegenwärtige Wahrheit verloren«. Verwendet Hegel diese Begriffe zu seiner Zeit als Überbleibsel der großen europäischen Diskussion über das Absolute, um eben dessen Verabschiedung in der Revolution und ihre Folgen zu bedenken, so erscheint »ihre jetzige Anwendung nur noch als ›Reaktion‹«, als Sehnsucht nach der verlorenen Vergangenheit.

Für Haym ist »Hegels Philosophie … grundsätzlich« und verständlicherweise »zur Vergangenheit geworden«, so Ritter weiter, »weil die« für ihn »gegenwärtige Zeit sich von der Metaphysik und Theologie befreit hat.« 16 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 188.  Damit aber macht Haym Hegels Aufgabenstellung der Philosophie nachträglich plausibel: Die Not, den Möglichkeitshorizont der kommenden Entwicklungen aus der Gegenwart der Revolution heraus zu verstehen, wird bestätigt durch ein Denken, das schon ein Vierteljahrhundert nach der Veröffentlichung ein philosophisches Buch nur noch in das Schema ›Revolution oder Restauration‹ einordnen kann.

Aber Hegels berühmter Satz in der Rechtsphilosophie – »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig« – ist keineswegs so zu verstehen, dass Hegel den real existierenden Staat mit der Vernunft gleichsetzt. Er besagt in gewisser Hinsicht das genaue Gegenteil: die Vernunft selbst ist »die gründende Substanz« und also der Maßstab »der Wirklichkeit« und zugleich »ihre Wahrheit«. 17 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 187. Der Staat hat »den Menschen« nicht nur in Bezug zu sich oder der Gesellschaft, sondern »in seinem Verhältnis zum Göttlichen« 18 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 186.  zum Inhalt. Dieses Göttliche ist, für Hegel, das Absolute als Vernunft, d. h. im Sinne der Weltgeschichte: als Erhaltung und Erweiterung des Seinkönnens des Menschen.

Der von Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts entworfene Staat hat deswegen die Aufgabe, »die Verwirklichung des Menschseins und seiner Freiheit zu ermöglichen«. 19 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 198. Ob der Staat dieser Aufgabe gerecht wird, das beurteilt die Vernunft, indem sie sich seine konkrete Entfaltung der Idee der Freiheit ansieht. Diese konkrete Entfaltung wiederum bedeutet für den Staat, das zu vermitteln, was in der Krise des Absoluten auseinanderzufallen droht: Freiheit und Vernunft, Vergangenheit und Gegenwart. Wenn nur eine Seite dieser einander gegenüberliegenden Konzepte sich der vakanten Position des Absoluten bemächtigt, gerät der werdende Staat sofort selbst in eine Krise. Das hat die Französische Revolution gezeigt.

»Hegel schlägt nicht vor, was der Staat sein soll. Er analysiert, was er sein und werden kann – im Positiven wie im Negativen, gemessen an der Vorgabe, Verwirklichung der menschlichen Freiheit zu sein.«

Dafür reicht es jedoch nicht aus, einen Staat einfach so philosophisch zu entwerfen. Der Staat soll zwar als konkrete Verwirklichung der Vernunft verstanden werden und auf dasjenige Problem antworten, das durch die Französische Revolution gestellt wird. Aber damit dieser philosophische Entwurf tatsächlich ein Maßstab für den konkreten, sich geschichtlich entwickelnden Staat sein kann, muss Hegels Entwurf diejenigen Startbedingungen teilen, die auch der tatsächliche Staat voraussetzen muss. Hegel kann nicht in die Zukunft schauen. Aber er kann sich den Status quo ansehen, den Staat im historischen Werden und aus seinen Bedingungen die mögliche Entwicklung dieses Staates ableiten.

Dieses Vorgehen Hegels macht seine Grundlinien zu einer Philosophie des Rechts zugleich zu einem Staatsentwurf und einer Kritik dieses Entwurfs. Hegel schlägt nicht vor, was der Staat sein soll. Er analysiert, was er sein und werden kann – im Positiven wie im Negativen, gemessen an der Vorgabe, Verwirklichung der menschlichen Freiheit zu sein. Beides gerät in den Blick: die Sackgassen, in die der Staat sich manövrieren könnte, aber auch das Potenzial, das er zur Verwirklichung der Freiheit des Menschen besitzt. Der von Hegel entwickelte Staat ist also eine Art ›vernunftlogische Hochrechnung‹ derjenigen Bedingungen, die Hegel an der vor seinen Augen ablaufende Entstehung des bürgerlichen Staates ablesen kann. Hegels Text ist eine Risikoanalyse, eine Darstellung der möglichen Wege und Irrwege, die der moderne bürgerliche Staat nehmen kann.

Auch das Schema ›Revolution oder Restauration‹, in das Haym ihn einordnen wird, hat Hegel ausführlich analysiert. Es entspricht zu seiner Zeit zwei verschiedenen Weisen, auf die Revolution zu reagieren. Die Restauration blickt in die Vergangenheit. Sie ist als Reaktion auf die Revolution »selber das – wesentlich nachrevolutionäre – Erzeugnis der Revolution.« Ihre Forderung, zur alten Ordnung zurückzukehren, »ist darin begründet, dass die Revolution in der Setzung der universalen … Freiheit« die Geschichte verneint, die diese Freiheit so lange verunmöglicht hat. Die revolutionäre Freiheit wiederum blickt in die Zukunft. Sie »[trägt] den Widerspruch in sich …, dass sie«, die ja in einer spezifischen historischen Situation erscheint, zugleich »die geschichtlichen Substanzen des menschlichen Daseins von sich ausschließt«. 20 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 209.

Die Revolution will die Vergangenheit loswerden, die Restauration will zu ihr und ihren Sicherheiten zurück. Die Französische Revolution bedeutet »für beide«, die nach hinten gewandten Vertreter der Restauration und die nach vorne stürmenden Vertreter der Revolution, »das Ende der bisherigen Geschichte«. Während die Vertreter der Restauration auf der Herkunft als Maßstab beharren, ist »die Zukunft« der Revolutionäre »ohne Beziehung zur Herkunft«. 21 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 212.

Ritter nennt diesen Konflikt zwischen Herkunft und Zukunft Entzweiung. Die Einheit der Geschichte zerbricht in die Vorstellungen der Ewiggestrigen und die Vorstellungen der Jünger des Fortschritts von dem, was Geschichte sein und werden soll. Auf der einen Seite wird »die romantische Wiederherstellung des Alten« gefordert, auf der anderen »seine Überwindung im Fortschritt« – die beiden Auffassungen von Geschichte, einseitig orientiert an Herkunft oder Zukunft, »treten auseinander; die geschichtliche Kontinuität zerreißt; die neue Zeit wird zum Ende der bisherigen Geschichte«. 22 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 211.

Was auf der einen Seite als Sieg der Freiheit über die Geschichte gefeiert wird, ist auf der anderen Seite auch der Verlust dieser Geschichte als sinnstiftender Ressource. Die Revolution stellt damit den Philosophen nicht nur vor das Problem, Freiheit als Grundlage eines Staates so zu denken, dass sie nicht, wie in der Französischen Revolution geschehen, in Willkür umschlägt. Sie stellt ihn auch vor die Herausforderung, die Entzweiung von Herkunft und Zukunft zu beenden, die beiden auseinandergerissenen Perspektiven auf die Geschichte wieder miteinander zu verbinden. Ohne eine solche Verbindung und Vermittlung stehen sich die beiden Lager in der bürgerlichen Gesellschaft bald feindselig gegenüber.

Hegels Antwort auf das Problem der Entzweiung von Herkunft und Zukunft besteht nach Ritter darin, Revolution und Geschichte miteinander in Bezug zu setzen. Der Begriff der Weltgeschichte, der diesen Bezug leisten soll, macht die Revolution, die alle Geschichte für beendet erklärt, zum Höhepunkt dieser Geschichte. Die Weltgeschichte ist also Hegels Versuch, an die Stelle der alten Geschichte der ein für alle Mal überwundenen Herrschaft des Absoluten eine Geschichte zu setzen, in der auch die Revolution Platz findet, die diese Herrschaft überwunden hat.

»Wenn es der Revolution darum geht, eine verbindliche »Rechtsform der Freiheit zu finden«, dann muss sie sich auch an diesem Anspruch messen lassen. Die Verbindlichkeit des Rechts muss die Freiheit für alle absichern – und zwar ohne dass sich die Freiheit über das Recht selbst stellt und so in Willkür umschlägt.«

Dafür verbindet Hegel die Weltgeschichte mit einem Begriff der Freiheit, den er aus der antiken und der christlichen Begriffstradition entlehnt und schränkt mit ihm dasjenige Moment ein, das den Freiheitsbegriff der Revolution zur Willkür werden lässt. Wenn es der Revolution darum geht, eine verbindliche »Rechtsform der Freiheit zu finden«, 23 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 199. dann muss sie sich auch an diesem Anspruch messen lassen. Die Verbindlichkeit des Rechts muss die Freiheit für alle absichern – und zwar ohne dass sich die Freiheit über das Recht selbst stellt und so in Willkür umschlägt.

Die Aufgabe, die Hegel dem modernen bürgerlichen Staat stellt, ist anspruchsvoll. Der Freiheitsbegriff der Revolution ist »mit dem Widerspruch der Entzweiung belastet«, denn sie wendet sich »gegen alle geschichtlich vorgegebenen Ordnungen« 24 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 225.  und bald gegen Ordnung überhaupt. Als bloß »negative« oder »›abstrakte‹ Freiheit«, als Willkür der Verneinung jeglicher Ordnung wird sie zur »Furie des Verschwindens«. 25 Zitiert nach Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 225. Sie »treibt« die Revolution »in die Selbstzerstörung hinein und ruft … die Mächte der Wiederherstellung herbei«. 26 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 225. Die ›Heilige Allianz‹ der europäischen Mächte, die nach dem Untergang Napoleons versuchen, die alte Ordnung wiederherzustellen, ist das historisch konkrete Beispiel für diesen Vorgang. Für sie hat Hegel daher auch »keine Sympathien« 27 Hans Friedrich Fulda: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, München 2003, S. 259; Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch Leben – Werk – Schule, Stuttgart 2010, S. 400.  und sieht sie als Rückschritt in der Geschichte des Staates.

Techniken der Unterdrückung

Das Problem der Entzweiung bestimmt aus Ritters Sicht Hegels gesamte Philosophie. Durch die verlorengegangene Bindekraft des Absoluten treten nämlich nicht nur Herkunft und Zukunft auseinander. Auch die Rückzugsorte des Absoluten, das Subjekt und das Objekt, geraten in einen Gegensatz. Als wären sie eigene, säkulare Konfessionen einer jeweils eigenen Art von Absolutem, radikalisiert sich das Subjekt in existenziellen und ästhetischen Formen, während das Objekt im Positivismus den alleinigen Anspruch auf Wahrheit erhebt.

Das Problem der Entzweiung ist außerdem mit dem Problem der Freiheit verbunden. Freiheit gerinnt zu Willkür, wenn sie sich selbst verabsolutiert. Ebenso geraten Subjekt und Objekt, Herkunft und Zukunft in einen Gegensatz zueinander, wenn sie einseitig als eigentlicher Ursprung, als Derivat des Absoluten genommen werden. Man überwindet die Entzweiung nicht »dadurch …, dass man sich entweder auf die eine oder die andere Seite schlägt, um das ihr jeweils Entgegengesetzte als nichtseiend zum Verschwinden zu bringen.« Freiheit bleibt nur bewahrt, wenn es zu einem Anspruch immer noch eine Alternative geben kann.

Hegels Philosophie beginnt, so Ritter, damit, dass »sie das Ganze … in die Entzweiung setzt«, es also aus dem Blickwinkel der Entzweiung wahrnimmt, und das Absolute nicht als dieses oder jenes, sondern vielmehr »als die ›Macht der Vereinigung‹ begreift und sich so dem absoluten Fixieren der Entzweiung entgegensetzt, um die ›festgewordenen Gegensätze‹ … zu vermitteln und zu versöhnen«. 28 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 215. Um diese »Macht der Vereinigung« zu erreichen, muss das Denken »spekulativ« werden.

Das bedeutet nicht, dass es »herumspekulieren« soll wie man Hegel immer wieder unterstellt hat. Die »Spekulation« kann man zurückführen auf »speculari, speculor«, »umherspähen«. Das verweist auf den »römischen Wachposten … der nach Gefahren und Missgeschicken Ausschau hielt«. 29 Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals, Zürich 62012, S. 16. Übertragen auf die Philosophie heißt das: spekulatives Denken ist besonders aufmerksam auf die Probleme und die Schwierigkeiten, die Sackgassen und Widersprüche, in die das Denken bei der Auseinandersetzung mit seinen Problemstellungen geraten kann. Hegel entwickelt sein spekulatives Denken entsprechend aus der Auseinandersetzung mit denjenigen Schwierigkeiten, in die aus seiner Sicht das Denken anderer Philosophen gerät – vor allem dann, wenn es zu einseitig denkt.

Diese spekulative Form von Hegels Denken ist für Ritter aber nur die zeitweise Umsetzung seines Denkens im Reich der Philosophie, dort eben ausgehend von innerphilosophischen Problemen, die Hegel aus der großen europäischen Diskussion über das Absolute übernimmt. Hegels berühmte ›idealistische‹ Philosophie – die Phänomenologie des Geistes, die Wissenschaft der Logik – ist tatsächlich eine Binnenerscheinung seines Denkens, eine Anwendung seines Lösungsversuchs zu einem Problem, das sich ganz woanders stellt. 30 Vgl. Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 212, 215–216.  Diese Schriften sind philosophische Zwischenschritte auf dem Weg eines Denkens, das im Konkreten beginnt und sich auf das Konkrete bezieht. 31 Vgl. Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 247.

Wenn sich die Philosophie wirklich als eine Philosophie der Vermittlung verstehen will, muss sie ihr philosophisches Verständnis von Freiheit mit einer »Analyse der konkreten geschichtlichen Bewegung« verbinden, unter deren Bedingungen es erst zur Entzweiung kommt. Mit diesen konkreten Bedingungen setzt sich schon der junge Hegel intensiv auseinander. Die »Theorie der Entzweiung«, die »allgemeinen Problem[e] der Revolution« und »Fragen der konkreten politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Verhältnisse der Zeit« gehören zusammen.

»Die »Theorie der Entzweiung«, die »allgemeinen Problem[e] der Revolution« und »Fragen der konkreten politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Verhältnisse der Zeit« gehören zusammen.«

In Bern, wo Hegel eine Hauslehrerstelle innehat, übersetzt er die 1793 erschienenen Vertraulichen Briefe über das vormalige staatsrechtliche Verhältnis des Waadtlandes, in denen der Anwalt Jean-Jacques Cart über »die Unterdrückung durch die Berner Aristokratie« 32 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 216.  berichtet. Hegel »verzeichnet möglichst genau alle näheren Umstände«, er studiert »die Technik der Unterdrückung« am konkreten Beispiel, »wie Unterdrückung ›wirklich‹ arbeitet, in welchen Rechtsformen und Handlungen sich politischer Kampf ›wirklich‹ vollzieht«. Er setzt sich außerdem »gründlich mit den sozialen und ökonomischen Problemen Englands« auseinander, »mit der Geschichte der amerikanischen Revolution«, arbeitet sich ein in die »Reform des preußischen Landrechts«. Noch bevor Hegel seine spekulative Philosophie systematisch entwirft, konfrontiert er sie – und sich – mit dem »konkret Geschichtlichen der Revolutionsepoche«. 33 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 217.

Hegel begreift durch diese Auseinandersetzung, so Ritter, dass all diese Probleme »nicht in der spekulativen Deduktion einer neuen, seinsollenden Welt überwunden werden« können. Nicht das, was die Philosophie – oder die Vertreter von Revolution oder Restauration – sich unter Geschichte vorstellen, kann Grundlage der Auseinandersetzung sein; »[d]ie Geschichte selbst ist der Boden, auf dem die Idee wirklich ist und wirkt«. Geschichte wird gemacht, in ihr verbinden sich Idee und Praxis, Natur und Geist, Subjekt und Objekt, Traditionen der Vergangenheit und Hoffnungen für die Zukunft auf einzigartige und konkrete Weise.

Die bürgerliche Gesellschaft basiert nicht auf philosophischen Idealen. Sie folgt praktischen Zwecken, Machtinteressen und Organisationsformen. In Bern und Frankfurt studiert und kommentiert Hegel James Steuarts Inquiry into the principles of political economy und »wird mit der Gesellschaftstheorie der englischen Politischen Ökonomie bekannt34 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 218.  Hegel »geht«, so Ritter, in diesem Zusammenhang »auf, dass das Geschichtliche der Revolution und des ganzen Zeitalters und aller ihrer Probleme das Aufkommen der modernen industriellen bürgerlichen Arbeitsgesellschaft ist.« 35 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 218–219.  Französische Revolution und industrielle Revolution gehören zusammen, sie bilden eine Einheit. Die Konsequenzen der einen sind nicht ohne die Konsequenzen der anderen zu verstehen.

Die Macht der Unterscheidung

Diese Einsichten setzt der späte Hegel in seiner Rechtsphilosophie um. Der antik-christlich reflektierte Freiheitsbegriff, die Erhaltung und Erweiterung des Seinkönnens des Menschen, bildet den Maßstab, mit dem der neue Staat und seine Gesellschaft beurteilt werden. Gegenstand dieser Beurteilung sind aber nicht die »politischen Theorien der Revolution«. Denn diese haben »die unmittelbare Bestimmung, die revolutionäre Emanzipation aus den vorhandenen Institutionen und Rechtsformen zu ermöglichen und diese in der Setzung des Neuen zu destruieren.« Der Freiheitsbegriff der Revolution kommt »prinzipiell nicht über die Negativität hinaus«. 36 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 220. Sein Verdienst ist es, die alte Ordnung ein für alle Mal überwunden zu haben. Aber als Ausgangspunkt für eine Gesellschaft braucht Hegel einen Freiheitsbegriff, der nicht nur Freiheit von etwas, sondern auch Freiheit zu und durch etwas zum Ausdruck bringt.

Hier kommt der antik-christliche Freiheitsbegriff ins Spiel. Er bringt eine genuin reflexive Freiheit zum Ausdruck, d.h. eine Freiheit, die sich aus dem Rückbezug auf die je eigenen, immer schon vorausgesetzten Möglichkeiten ergibt. Diese kann ich in allem, was ich sage und tue, erkennen – im Nachhinein. Etwas war möglich. Die Möglichkeit lässt sich nicht sinnvoll verneinen, denn auch diese Verneinung war dann, wenn ich sie vollziehe, möglich. Also muss auch noch die abstrakte negative Freiheit der Revolution sie voraussetzen, wenn sie wesentlich darin besteht, die Geschichte und die alte Ordnung zu verneinen. Weil aber diese Möglichkeit notwendig vorausgesetzt wird, bejahe ich, wenn ich meine Möglichkeit bejahe, zugleich die Möglichkeit aller anderen Menschen.

Das macht die Freiheit, die Hegel anstelle der Französischen Revolution setzt, nicht nur im Anspruch, sondern auch im konkreten Vollzug universal. Jeder Mensch muss können. Und was er kann, ist nicht von vornherein bestimmt. Der Mensch ist Seinkönnen, das genau deswegen, weil es Seinkönnen ist, seine Möglichkeiten auch erweitern kann. Menschen haben ungleiche Möglichkeiten, aber sie können voneinander lernen. Menschen können für andere Menschen arbeiten und so deren Seinkönnen erweitern. In der Entfaltung meiner Möglichkeiten erschließen sich mir neue Möglichkeiten. Wenn der bürgerliche Staat die Freiheit zu seiner Grundlage erklärt und diese Freiheit »das Selbstseinkönnen des Menschen« 37 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 198.  bedeutet, dann ist es die Aufgabe des Staates diesen »Stand des Menschen« zu garantieren, »in dem er sein Menschsein verwirklichen«, sein eigenes Seinkönnen entfalten und erweitern, »verwirklichen und so er selbst sein kann.« 38 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 197.

Damit ist der Freiheitsbegriff geklärt, der das Kriterium, den Maßstab der Beurteilung bildet. Aber Hegel entwirft seinen Staat, wie gesagt, nicht als abstrakte Entfaltung dieser Freiheit. Er wählt »das geschichtliche Kennzeichen der bürgerlichen Gesellschaft«, die im Entstehen ist, zum Ausgangspunkt, denjenigen Gesellschaftsentwurf also, der »ihre Emanzipation aus den vorgegebenen … Ordnungen« am besten »zum Ausdruck bringt.« Hegel will einen Staat entwerfen, wie er sich idealtypisch aus den Vorgaben der politischen Ökonomie entwickelt.

»Die konkrete Entfaltung der neuen bürgerlichen Gesellschaft folgt ökonomischen Prinzipien. Hegel baut, heißt das, die sich in der Realität bereits abzeichnende liberale bürgerliche Gesellschaft philosophisch nach.«

Er versteht »das von der Politischen Ökonomie übernommene Naturprinzip der Gesellschaft zugleich als das geschichtliche Prinzip ihrer emanzipativen Konstituierung«. 39 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 226. Die Französische Revolution hat nur den Weg bereitet. Die konkrete Entfaltung der neuen bürgerlichen Gesellschaft folgt ökonomischen Prinzipien. Hegel baut, heißt das, die sich in der Realität bereits abzeichnende liberale bürgerliche Gesellschaft philosophisch nach. Er entwirft ein Modell ihrer möglichen Entwicklung. Dieses Modell unterwirft er dann dem kritischen Blick der Vernunft. An dieses Modell stellt Hegel die Frage, ob die bürgerliche Gesellschaft, ausgehend von der Bedürfnisnatur des Menschen, in der Lage ist, das Seinkönnen des Menschen, seine Freiheit, zu erhalten und zu erweitern.

Für die Konstruktion seines Modells der kommenden bürgerlichen Gesellschaft beruft sich Hegel auf die Ökonomen Adam Smith, Jean-Baptist Say und David Ricardo. Ihre »neu[e] ökonomisch[e] Wissenschaft« hat »für die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft die gleiche Bedeutung, wie Kepler sie für die Theorie der Planetenbewegungen hat.« 40 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 221.  Sie dient Hegel als Ausgangspunkt für die Prinzipien »der schon vorhandenen, geschichtlich bereits ausgebildeten gesellschaftlichen Realität«, 41 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 220. wie sie sich in der industriellen Revolution – vor und nach der Französischen Revolution, zugleich maßgeblich beeinflusst durch sie – entfaltet.

Wie diese Revolution, so ist auch das an die Stelle des Absoluten tretende Naturprinzip eine »Macht der Unterscheidung«. Und doch gibt es hier eine wesentliche Differenz. Die Entzweiung der Revolution tritt vor allem negativ auf: Sie trennt die Zukunft von der Herkunft und schafft so überhaupt erst den Raum, in dem sich die neuen Ideen zur Machbarkeit der Geschichte, zum freien Umgang mit Natur und Mensch, entfalten können. Ihre Negativität ist aber unfruchtbar. Die abstrakte Freiheit, auf die sie sich beruft, führt in die Selbstzerstörung, wenn sie nicht eingehegt und gestaltet wird.

Die Formen der Entzweiung, die mit der industriellen Revolution und der politischen Ökonomie auftreten, haben dagegen einen positiven Sinn, nicht im Sinne einer Bewertung, sondern einer konkreten Erschaffung von Neuem. Das »von der Politischen Ökonomie übernommene Naturprinzip der Gesellschaft« begründet eine ökonomische Ordnung, die sich in den Raum hinein entfaltet, den die Revolution ermöglicht. Die Entwicklung einer »geschichtsunabhängigen Natur des Menschen« ist aus politischer Sicht eine Befreiung von Bestimmungen der Tradition und die Eröffnung einer Selbstbestimmung des Menschen.

Ökonomisch bedeutet sie eine effizientere Handhabung der Arbeitskraft des Menschen. Der so abstrakt erscheinende Ausdruck vom »geschichtliche[n] Prinzip ihrer emanzipativen Konstituierung« 42 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 226.  besagt im Klartext, dass Emanzipation ein zweischneidiges Schwert ist. Sie bringt einerseits die Freiheit der Selbstbestimmung und das Ideal des Seinkönnens in die Welt, befreit sich von der Last der Herkunft und eröffnet einen Zukunftshorizont, in den hinein die Menschen sich entwerfen können. Andererseits ermöglicht diese Emanzipation auch, dass der aus den geschichtlichen – familiären, staatlichen – Bindungen herausgelöste Mensch nun »gesellschaftlich ohne Beziehung zu dem, was er außerdem ist, als Arbeiter, als Produzent oder als Konsument verstanden werden«  43 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 227. kann.

Philosophisches Saatgut

Es ist eine seltsame Verschiebung der Differenz, die zwischen dem ›Auch‹ und dem ›Nur‹ spielt. Solange der Mensch durch die Geschichte und das Absolute gebunden ist, kann er sich nur im Rahmen dessen entwerfen, was diese Ordnungen vorgeben. Aus dieser Unterdrückung befreit sich die Revolution mit einem Akt der radikalen Trennung. Der Mensch ist nun nichts mehr von dem, was ihn einst bestimmte. Er kann vollkommen beliebig das eine und auch das andere sein.

Doch diese Form der Freiheit ist selbstzerstörerisch, wie die Re- volution gezeigt hat. Sie lässt keine Ordnung zu, weil ihre Vorstellung von Freiheit die radikale Negation von Ordnung ist. In den von ihr geschaffenen Raum tritt nun die ökonomische Ordnung ein. Sie geht, wie die Revolution, von der Freiheit der Menschen aus, sich selbst zu bestimmen. Sie sagt: »Ja, der Mensch kann dies und auch das sein. Aber ist es nicht am effizientesten, am produktivsten, für uns alle am besten, wenn er vor allem dies ist? Jeder hat doch Bedürfnisse. Oder? Das ist, bei aller Freiheit, unsere gemeinsame Grundlage. Also bauen wir doch unsere Gesellschaft darauf auf.«

Aus dem ›Auch‹ ist ein ›Vor Allem‹ geworden. Hegel sieht, so Ritter, das Problem, dass aus dem ›Vor Allem‹, das sich im Naturprinzip, im Begriff von der »geschichtsunabhängigen Natur des Menschen« zum Ausdruck bringt, ein ›Nur‹ werden kann. Hegel versteht den Menschen im Rahmen der politischen Ökonomie auch »als Subjekt der Gesellschaft«, als »Produzent und Konsument, der in der Arbeit seiner Bedürfnisbefriedigung nachgeht, sich zu erhalten und seinen Wohlstand zu mehren« – eben: das eigene Seinkönnen zu erhalten und zu erweitern.

»In der Ausgestaltung der Gesellschaft nach den Prinzipien der ökonomischen Ordnung beginnt die Entzweiung, sich zu verabsolutieren. Sie wird zur eigentlichen Natur des Menschen.«

Aber, so Hegel, das muss nicht für die Gesellschaft gelten, die dazu neigt, ihre neue Ordnung in Begriffen der Natur auszudrücken. Die »Begründung der Gesellschaft auf die Natur« ist für Hegel eine »Form, in der« die Gesellschaft sich »gegenüber der Geschichte der Herkunft verselbständigt«. 44 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 227. Die Gesellschaft, nicht die ereignishafte Revolution selbst, ist nun »die treibende Kraft der politischen Revolution«. 45 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 227–228. »Sie bringt die Entzweiung in die Geschichte, aber nicht« nur »in einem Teilbereich des menschlichen Lebens, in dem der Mensch dem Neuen noch ausweichen kann …, sondern als die Gegenwart und Zukunft bestimmende Realität des menschlichen Daseins in seinem praktischen Vollzug.«

Das heißt: In der Ausgestaltung der Gesellschaft nach den Prinzipien der ökonomischen Ordnung beginnt die Entzweiung, sich zu verabsolutieren. Sie wird zur eigentlichen Natur des Menschen. Indem sie an die freie Stelle rückt, die durch den Bruch der Revolution mit der Geschichte geschaffen wurde, macht sie, wortwörtlich verstanden, Geschichte: An die Stelle der alten setzt sie eine neue Ordnung der Geschichte, eine neue Gegenwart und Zukunft. Die radikale Freiheit der Revolution ist umgeschlagen in die Freiheit, wie sie von der ökonomisch neu geordneten Gesellschaft vom Innern dieser Ordnung her verstanden wird – und in den praktischen Vollzug dieser Ordnung, der sie in jedem Moment bekräftigt und so erhält und erweitert.

Sicher, zunächst bedeutet die »Abstraktheit der Gesellschaft«, ihre Loslösung von der Geschichte und ihre »Einschränkung auf die Bedürfnisnatur« des Menschen in Arbeit und Konsum, die Freisetzung der »nicht auf sie reduzierbaren Lebenszusammenhänge«. Alles, was nicht dem »System der Bedürfnisse« 46 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 228.  dient, kann frei gestaltet werden. In ihrer Loslösung von der alten Ordnung »gibt die Gesellschaft der Subjektivität« des Menschen »das Recht der Besonderheit frei.« 47 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 229.  Der Mensch ist frei – aber die Gesellschaft, in der er lebt, »kann in der Gleichheit der Bedürfnisnatur und der abstrakten Arbeit alle Menschen als Menschen umfassen.« Jeder Mensch, der frei ist, heißt das, ist auch ein potenzieller Arbeiter.

Die entscheidende Frage betrifft nun die Beurteilung dieser Ordnung aus ihr selbst heraus. Hier kommt das Kriterium der Freiheit ins Spiel, das Hegel entwickelt hat, um diese neue Ordnung zu erkennen und ihre Entfaltungsmöglichkeiten zu analysieren. Denn »geschichtlich« setzt »die bürgerliche Gesellschaft«, die zugleich dem Kriterium der Freiheit und dem Kriterium des ökonomischen Naturprinzips gerecht werden will, »die Zugehörigkeit der ganzen Bildung des Menschen« zu ihr voraus.

Nur vom Standpunkt der Weltgeschichte also kann der Mensch sich selbst und seine neue Gesellschaft als diejenige Gesellschaft überhaupt verstehen, die sein Seinkönnen erhält und erweitert – und sie daran messen. Die Gesellschaft besteht »nicht in der Isolierung auf ihr eigenes Naturprinzip«. Das gilt auch und gerade dann, wenn »ihre eigene, allein auf das Naturprinzip gestellte« politisch-ökonomische »Theorie diese Zugehörigkeit« der ganzen Bildung nicht »geltend machen und zur Sprache bringen kann«. 48 Ritter, Hegel und die französische Revolution, S. 230.

Solange die Gesellschaft sich nicht mit dem Bild verwechselt, das die politische Ökonomie als eine ihrer Bedingungen sich von ihr macht, kann sie den Übergang vom ›Auch‹ ins ›Nur‹ vermeiden. »Hegels Philosophie«, so Ritter, muss über diesen beschränkten Blick der politischen Ökonomie, der diese selbst, die Gesellschaft und ihre Funktion darin betrifft, »hinausgehen«. Sie muss beides voneinander unterscheiden, indem sie es aufeinander bezieht: »einerseits das Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft … aus« dem »Naturprinzip«, »andererseits« aber auch »das in der Tradition der Philosophie bewahrte Wissen um die vernünftige Substanz der Weltgeschichte.« 49 Ritter, Hegel und die französische Revolution, S. 230–231.  Denn die erstere, die Gesellschaft und ihre Ordnung, soll ja am Maßstab der letzteren, der Weltgeschichte als Entfaltung der Vernunft, gemessen werden.

Viel später, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, werden die Menschen weit im Norden, auf der norwegischen Insel Spitzbergen, einen Saatgut-Tresor einrichten, in dem sie die Vielfalt der Arten ihrer Nutzpflanzen sichern. Für Hegel ist die Philosophie eine Art gedanklicher Saatgut-Tresor: in ihr sind die Ressourcen verwahrt, mittels derer sich die Menschen ihrer Kriterien versichern können, die ihre Gesellschaften begründen. Die politische Ökonomie kann diese Ressource nicht ersetzen. Sie muss, schon um als Theorie funktionieren zu können, »notwendigerweise … alles Geschichtliche ausklammern und von ihm abstrahieren«. Die Prinzipien der politischen Ökonomie basieren auf der Voraussetzung, dass der Mensch und die Dinge, die Produktivkräfte, Produktionsmittel und Waren, unabhängig von geschichtlichen Ordnungen verstanden werden können.

Für Hegel ist daher die »Aufgabe« seiner Rechtsphilosophie, die »Korrektur der Naturtheorie der Gesellschaft zu vollziehen«. Die Gesellschaft braucht die Philosophie, weil sie »nicht über das System der Bedürfnisse … hinauskommen und … bei dem stehenbleiben« darf, »was Hegel den abstrakten ›Not- und Verstandesstaat‹ … nennt.« In der Philosophie bewahrt die Gesellschaft ihre Fähigkeit, sich und ihr Selbstverständnis kritisch zu betrachten und auf mögliche Einseitigkeiten und Verabsolutierungen hin zu überprüfen. Und die Philosophie hat gegenüber der Gesellschaft die Funktion, die Sicherung der »geschichtlichen Substanz« zu übernehmen, die von der Gesellschaft wegen des »abstrakten Natur- und Emanzipationsprinzip[s]« 50 Ritter, Hegel und die französische Revolution, S. 231.  ihres Selbstverständnisses außer Acht gelassen wird.

Die Elenden

Doch was passiert, wenn die Gesellschaft sich mit ihrer eigenen Theorie verwechselt? Es besteht dann »die Gefahr …, dass die Gesellschaft dazu kommen kann, ihr Arbeits- und Klassensystem zur einzigen Bestimmung des Menschen zu machen.« 51 Ritter, Hegel und die französische Revolution, S. 232 (Hervorh. v. mir, D. P. Z.).  Das ›Auch‹ des menschlichen Seinkönnens kippt vom ›Vor Allem‹ der Bedürfnisnatur, die auch ein von ihr nicht Bestimmtes freisetzt, in das ›Nur‹, das den Menschen nun ausschließlich nach der Maßgabe der ökonomischen Theorie bestimmt.

Wenn die sich verabsolutierende Entzweiung der ökonomischen Ordnung die gesamte »Realität des menschlichen Daseins« und diese Realität die Gegenwart und die Zukunft bestimmt, wenn diese neue Realität »des menschlichen Daseins in seinem praktischen Vollzug« 52 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 228.  diese Ordnung in jedem Moment bestätigt, erhält und erweitert, dann bedeutet die Verwechslung von Gesellschaft und Theorie: Das Kriterium einer solchen Gesellschaft ist nicht mehr das Seinkönnen der Menschen, die in ihr leben, sondern das Seinkönnen der Ordnung, die diese Gesellschaft bestimmt. Die Ordnung dient nicht mehr dem Menschen, sondern der Mensch dient der Ordnung, die ihn – als neues Absolutes – unterwirft und viel effizienter bestimmt als es die alte Ordnung je vermocht hat.

»Wenn dies geschieht«, so Ritter in den Schlusspassagen von Hegel und die französische Revolution, »wenn … das Emanzipationsprinzip zur absoluten Macht erhoben und alles, was der Mensch nicht durch die Gesellschaft ist«, eben »nicht freigegeben und« 53 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 232, (Hervorh. v. mir, D. P. Z.).  stattdessen »real verneint wird, dann muss die Gesellschaft wirklich aus dem Zusammenhang der Weltgeschichte« – also der Geschichte, für die der Mensch das Subjekt ist – »heraustreten und zu ihrem Ende werden«.

»Die politische Freiheit der Menschen wird durch die Unterwerfung seiner Selbsterhaltung unter den realen Zwang der Lohnarbeit zu einem bloß ideologischen, weil machtlosen Versprechen.«

Die »absolut[e] Vergesellschaftung« der bürgerlich-liberalen Gesellschaft steht, so Ritter, für Hegel deutlich am Horizont, als »ungeheure Macht, die den Menschen an sich reißt, von ihm fordert, dass er für sie arbeite und dass er alles durch sie sey und vermittels ihrer thue«. 54 Zitiert nach Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 232. Sie besteht als ganz konkrete Gefahr, ganz »akut, wenn die Gesellschaft in ›ungehinderter Wirksamkeit‹ fortschreitet … und so die in der Entzweiung freigesetzten … Mächte des persönlichen Lebens … aus sich verdrängt und vernichtet.« 55 Ritter: Hegel und die französische Revolution, S. 232.  Die politische Freiheit der Menschen wird durch die Unterwerfung seiner Selbsterhaltung unter den realen Zwang der Lohnarbeit zu einem bloß ideologischen, weil machtlosen Versprechen. 56 Vgl. James Madison in einem Redebeitrag zur Verfassungsversammlung vom 7. Au-gust 1787: »In der Zukunft wird eine große Mehrheit des Volkes nicht nur ohne Land, sondern auch ohne jede andere Form von Privateigentum sein. Diese werden sich entweder vereinigen, unter den Bedingungen ihrer gemeinsamen Situation; in diesem Fall werden die Eigentumsrechte und die öffentliche Freiheit in ihren Händen nicht mehr sicher sein: oder, was wahrscheinlicher ist, sie werden zu Werkzeugen für Reichtum und Ehrgeiz, was in diesem Fall eine ähnliche Gefahr auf der anderen Seite bedeutet.« Madison skizziert damit einen zentralen Baufehler in der modernen demokratischen Republik, der sich im 19. Jh. in den Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und Großkapitalisten zeigen wird. Vgl. https://avalon.law.yale.edu/18th_ century/debates_807.asp, abgerufen am 31.10.2021, 13:40.  Die bürgerliche liberale Gesellschaft schickt sich an, sämtliche Lebenszusammenhänge in die ökonomische Ordnung einzuholen und sie entsprechend dieser Ordnung zu verwerten.

Wie wir heute wissen, ist letzteres eingetreten. Wir leben immer noch in dieser Ordnung, deren Werden Hegel in seiner Rechtsphilosophie teils beschreibt, teils in ihrer Entwicklung vorwegnimmt. Es ist natürlich kein Zufall, dass Ritter in Hegel gewissermaßen einen Marx avant la lettre erblickt und seine Deutung auch gegen zeitgenössische theoriepolitische Vereinnahmungen in Stellung bringt.

Marx’ Lösung, die von Hegel der Philosophie zugeschriebene Aufgabe dem Proletariat zu übertragen, scheitert gerade an der Effizienz der politischen Ökonomie als Ideologie. Durch die Gleichsetzung von philosophischer Beschreibung und Wirklichkeit, die der Materialismus impliziert, wird die Entzweiung nicht aufgehoben, sondern verabsolutiert: Wo die Realität der bürgerlichen Gesellschaft nicht dieser Wirklichkeit entspricht, bleibt nur noch der Ausweg der Revolution, um sie an diese Wirklichkeit anzupassen. Natürlich schreibt Marx aus einer anderen Position als Hegel; er wird mit der vollen Konsequenz der Verdrängung, Vernichtung und Verwertung menschlichen Lebens durch die ökonomische Ordnung konfrontiert. Aber Ritters Interesse richtet sich auf seine eigene Gegenwart. Er sucht nach einem Weg, die wiedererstarkte ökonomische Ordnung mit einer Kritik zu konfrontieren, die nicht in revolutionäre Forderungen umschlägt.

Daniel-Pascal Zorn: Die Krise des Absoluten. Was die Postmoderne hätte sein können. Stuttgart: Klett-Cotta, 2022.