Reale Dystopien

In »Crack-up Capitalism« beschreibt der Historiker Quinn Slobodian, wie Marktradikale die Welt entstaatlichen wollen. Seine Fallstudien von Sonderwirtschaftszonen und Privatstädten sind augenöffnend und beunruhigend zugleich.

Spätestens seit dem Mauerfall hat sich im liberalen Westen die Erzählung durchgesetzt, dass Demokratie und Kapitalismus zusammengehören. Teil dieser Erzählung ist auch, dass die Welt aus Nationalstaaten besteht, die sich durch die Geltung einheitlicher Rechtssysteme auf einem klar umrissenen Territorium auszeichnen. Der kanadische Historiker Quinn Slobodian stellt diese Annahmen in Frage. In »Crack-up Capitalism« erzählt er eine neue Geschichte des globalen Kapitalismus der letzten Jahrzehnte: »[C]apitalism works by punching holes in the territory of the nation-state, creating zones of exception with different laws and no democratic oversight«. 

Slobodian hat auf der ganzen Welt Orte aufgespürt, die innerhalb und außerhalb der nationalstaatlichen Ordnung liegen. Er fasst sie unter dem Begriff der »Zone« zusammen. Die Zone versteht er als politisch-ökonomische Sonderkonstruktion, in der andere Gesetze gelten. Diese orientieren sich nicht an den Bedürfnissen der Menschen vor Ort, sondern an den Interessen von internationalen Investoren. Sie sorgen für niedrige Steuern, ermöglichen den Zufluss von hypermobilem Kapital, minimieren oder eliminieren soziale Absicherung und Arbeitsschutz. Grundsätzlich funktioniert die Zone nach dem Prinzip der Abschottung, der Auslagerung und der Ausbeutung. Sie ist Steueroase und Luxus-Kreuzfahrt-Rettungsboot in einem. 

In seinen Fallstudien untersucht Slobodian Stadtstaaten wie Hong Kong, Singapur und Liechtenstein, aber auch Sonderzonen innerhalb von London und Dubai, Steuer-Oasen, zollfreie Häfen, Luxusressorts und »Gated Communities«, Enklaven der Superreichen in der Wüste und auf dem Meer. Manche der Zonen sind erfolgreich, andere sind gescheitert, wieder andere in Planung. Insgesamt zählt Slobodian 5400 Zonen weltweit, fast die Hälfte davon in China. 

Helena Schäfer

Helena Schäfer hat Philosophie und Volkswirtschaftslehre in Bayreuth studiert und beendet gerade ihren Master in Politischer Theorie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Im Herbst 2022 war sie für ein Auslandssemester als Stipendiatin an der New School for Social Research in New York. Sie arbeitet als freie Journalistin, u.a. für das Philosophie Magazin und die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Kapitalismus ohne Demokratie

Das Merkmal, das allen Beispielen gemeinsam ist, ist die Formel: Kapitalismus ohne Demokratie. Die Ausgestaltung variiert: Demokratische Wahlen finden teils gar nicht statt, teils nur in abgeschwächter Form. Stimmrechte werden nach Eigentum verteilt. In einigen Zonen können Unternehmen mitentscheiden oder die ganze Zone ist gleich wie ein Unternehmen aufgebaut. Dubai und Liechtenstein beschreibt Slobodian als Gesellschaften, die nach dem Prinzip der »Corporate Governance« geführt werden: »We could call it a New Free World, where the idea of government was replaced by management, and the ideal of the elected leader by the CEO.« Die Bürger werden je nach Ausgestaltung der Zone zu Kunden oder Shareholdern.

Slobodian verwebt kenntnisreich und anschaulich die Geschichte der Zonen mit Anekdoten über ihre Anhänger. Zu denen gehören Paypal-Mitgründer Peter Thiel, der Freiheit und Demokratie für unvereinbar hält, oder Patri Friedman, Enkelsohn des neoklassischen Ökonomen Milton Friedman. Patri Friedman gründete das »Seasteading-Institute«, das sich der Realisierung schwimmender Enklaven auf hoher See widmet.

Die Anhänger der Zone verortet Slobodian in einem theoretischen Spektrum von Neoliberalismus bis Libertarismus. Den Fokus legt er auf die radikalste Spielart des Libertarismus: den Anarcho-Kapitalismus. Nach dieser Ideologie sollen alle staatlichen Aufgaben und öffentlichen Güter in private Hand gelegt und über den Markt geregelt werden, inklusive Justiz und Polizei. Nicht nur die Demokratie wird auf diese Weise überflüssig, sondern die Politik überhaupt. Wer einer Gemeinschaft beitritt, unterschreibt einen Vertrag, der die Regeln des Zusammenlebens festlegt. Anarcho-Kapitalisten propagieren die Abspaltung kleiner Territorien als revolutionäre Praxis und hoffen, dass sich die kleinen Inseln ihres undemokratischen Radikalkapitalismus im globalen Wettbewerb durchsetzen. 

Slobodian schildert, wie weit sie damit in den letzten Jahren schon gekommen sind: In Honduras haben Libertäre um Peter Thiel und den deutschen Unternehmer Titus Gebel angefangen, die private Stadt Próspera bauen zu lassen, in der die anarcho-kapitalistische Ideologie umfänglich umgesetzt werden sollte. Nach einem Regierungswechsel konnte das Projekt 2022 gestoppt werden. Spätestens an dieser Stelle zeigt sich, dass die Zone nicht nur anti-demokratisch ist, sondern auch als neo-koloniales Instrument dienen kann: »While earlier settlers once sought wealth in gold, crops or railroads, the treasure of zones like Próspera in the twenty-first century was their status as a jurisdiction – their potential as a new place to pick and choose among regulations and licensing requirements.« Slobodian betitelt das Kapitel passend mit »Silicon Valley Colonialism«.

Neoliberale Vorläufer und Verfechter

Die Lektüre ist beunruhigend, augenöffnend und immer wieder atemberaubend. »Crack-up Capitalism« liest sich wie ein Thriller, ohne an Sachlichkeit einzubüßen. Wer sich gruseln will, muss keine apokalyptische Science-Fiction lesen. Die realen Versuche der Marktradikalen, Parallelwelten zu errichten, können längst mithalten: schwimmende Enklaven auf den Ozeanen, eine 170 Kilometer lange Stadt zwischen verspiegelten Mauern in der Wüste von Saudi-Arabien, die Bitcoin-City in El Salvador, das online-offline Projekt »Cloud Country« oder anarcho-kapitalistische Clans im vom Bürgerkrieg und Armut gezeichneten Somalia der 1990er Jahre. 

Man könnte einwenden, dass es sich bei den besonders schockierenden Beispielen nur um die Träume einer kleinen Gruppe von Fanatikern handelt, deren Projekte regelmäßig scheitern. Und man kann fragen, wie sinnvoll es ist, all diese unterschiedlichen Fälle unter einem Phänomen zusammenzufassen. Aber mit der Formel »Kapitalismus ohne Demokratie« gelingt es Slobodian, eine Verbindung von der »City of London« bis zur Privatstadt in Honduras herzustellen. Slobodians Analyse überzeugt, weil er darlegt, dass die heutigen Projekte ihren Ursprung im kolonialen Experiment von Hong Kong oder im autoritären Stadtstaat Singapur finden. Zu den Vorläufern zählt er ebenfalls die politischen Experimente von Margaret Thatcher, die in den 1970er Jahren »Enterprise Zones« mit erheblichen Steuervorteilen und anderen Ausnahmen einrichtete. 

Auch heute findet die radikale Marktideologie Anklang in den Zentren der Macht, zum Beispiel im Umfeld der UKIP-Partei, die dem Vereinigten Königreich zur Abspaltung von der EU verhalf. Die Befürworter des Brexits lobten den Erfolg von Liechtenstein, Singapur und Hong Kong und sprachen sich ganz offen für das Modell von Freihandel ohne Bewegungsfreiheit aus. In seiner ersten Rede als Premierminister versprach Boris Johnson Freihäfen, um ausländische Investoren anzuziehen. Auch Trump war ein früher Verfechter der Zone. Er installierte »Opportunity Zones«, die dazu genutzt wurden, Luxusvillen in Miami zu bauen. Und Elon Musk träumt als reichster Mensch der Welt von der Besiedlung des Weltalls. Mit diesen Beispielen zeigt Slobodian: Die Anhänger der Zone sind nicht irgendwelche Prepper im Hinterland, die man ihren eigenen Experimenten überlassen könnte. 

Die doppelte Bedeutung von »Crack-Up Capitalism«

»Crack-up Capitalism« liest sich auch als empirische Bestätigung einer Ideologiekritik. Wie Marx schon sagte, liebt die politische Ökonomie Robinsonaden: die Idee des isolierten Individuums, das nach Schiffbruch eine One-Man-Ökonomie betreibt und von da an – stets unter dem Stern der Freiwilligkeit – Handel treibt, Verträge abschließt und AGBs zustimmt. Hinter den Zonen steht eine übersteigerte Version dieses Bildes: der Mensch als apolitisches Wesen, das sich weder von anderen seiner Art noch von äußeren Grenzen beschränken lassen will. Wie ein trotziges Kind schüttet er Sand im Meer auf, um seinen Reichtum zu retten. Die Produktion des Anderen (in Form der Natur, der Frau oder des kolonisierten Subjekts), die Kritiker dem Liberalismus inhärent eingeschrieben sehen, tritt in der Zone offen zu Tage. Während ausländische, reiche Bewohner in Dubai als »Expatriat« All-you-can-eat brunchen, leben die Arbeiter, die die glänzenden Türme errichten, in eingezäunten Zeltlagern in der Wüste. Der Reichtum, der in den Zonen geschaffen oder geschützt wird, ist nicht zu trennen von der Ungleichheit, die die Zonen produzieren: »From Honduras to Dubai, the waged service class is the easiest for the visionaries to forget and the hardest for them to live without.« 

Offen bleibt die Frage: Sind die Zonen »nur« extreme Experimente? Oder braucht der globale Kapitalismus die Orte innerhalb und außerhalb der Ordnung, um sich zu erhalten? Die Philosophin Nancy Fraser vertritt die These, dass die Ausbeutung der Natur, der Frauen und die Expropriation von kolonisierten und rassifizierten Subjekten den Kapitalismus überhaupt erst ermöglichen. Sind die Zonen in dieser Logik zu verstehen? Slobodians Fazit lässt das offen. Er überrascht allerdings am Schluss mit einer Pointe, die in eine ähnliche Richtung weist: Auch wenn die Zonen von Libertären als Ausbrüche aus dem Nationalstaat angepriesen werden, stärken viele der tatsächlich realisierten Projekte den kapitalistischen – oder im Falle Chinas teilkapitalistischen – Nationalstaat: »Zones are not turning the world into a patchwork of a thousand private polities in dynamic competition. They are strengthening the position of a handful of state capitalist superpowers.«

Der Titel »Crack-up Capitalism« hat eine doppelte Bedeutung: er beschreibt, wie Libertäre die Welt verändern wollen, aber auch, wie die Welt bereits funktioniert. Slobodians Analyse ist also nicht nur eine Warnung vor den Rückzugsfantasien der Superreichen. »Crack-up Capitalism« hat das Potential, das Verständnis des neoliberalen Kapitalismus überhaupt zu verändern.